Vivien Suchert :"Das vermessene Ich"

Wenn die Fitness-App unser Leben bestimmt

10:51 Minuten
Eine ältereFrau macht in einer Wohnung Übungen und schaut dabei auf ein Tablet.
Sport zu Hause - und die Fitness App ist immer dabei. © picture alliance/dpa-tmn/Christian Klose
Moderation: Frank Meyer · 18.11.2019
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Die digitale Gesellschaft optimiert sich an den Rand des Wahns. Die Psychologin Vivien Suchert beschreibt in ihrem Buch, wie wir uns inmitten der Messdaten von Fitness-Armbändern, Diät- und Gesundheits-Apps selbst abhanden kommen.
Biohacking und Transhumanismus - das klingt nicht wirklich angenehm und gesund. Dahinter steckt aber genau das: Mit Apps und Gesundheitsarmbändern am Handgelenk versuchen wir Einfluss auf unsere Fitness und Gesundheit zu nehmen.
Die Versuchung durch die kleinen digitalen Helferlein und Fitness-Coaches ist groß: Wer ihr erliegt, misst sein Verhalten und seinen Körper permanent selbst, checkt schon morgens am Arbeitsplatz , wie viele Schritte nötig sind, um die über den Tag vermutete Kalorienzufuhr wieder auszugleichen.

Die Psychologin Vivien Suchert hat sich des Phänomens angenommen - kritisch, aber auch mit einer gewissen Faszination - und beschreibt in "Das vermessene Ich" welche Blüten das Selftracking treibt, wie wir fremder Technik erlauben die Biologie unseres Körpers zu hacken. Sie verschweigt aber auch nicht, wann Fitness-Apps durchau sinnvoll sein können, etwa wenn stark Übergewichtige abnehmen wollen. Suchert setzt sich auch in einem eigenen Blog mit dem Thema auseinander.
Die Psychologin und Autorin Vivien Suchert.
Dem Selbstoptimierungswahn auf der Spur: Psychologin Vivien Suchert.© Vivien Suchert

Schon die alten Griechen trieben Selbstoptimierung

Die Triebfeder hinter der Selbstoptimierung sei wesentlich älter als das digitale Zeitalter, sagt Suchert: "Was sicherlich wesentlich ist, ist das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis. Das ist sehr, sehr alt. Das findet man schon bei den alten Griechen: dass man mehr über sich erfahren und sich selbst besser verstehen möchte."
Das Interessante an der Selbstvermessung sei, "dass es so ein bisschen über die Beschränktheit der eigenen Sinne hinausgeht. Ich kann jetzt plötzlich etwas messen, das ich vorher gar nicht selbst erfassen konnte".
Durch Selbstoptimierung, das sei psychologisch erwiesen, sei es möglich, Verhaltensweisen zum Positiven hin zu ändern. Und damit dies noch besser gelinge, enthielten die meisten Apps Spiel- und Belohnungskomponenten, um "das Belohnungszentrum im Hirn zu bedienen", sagt die Psychologin.

Absurde Blüten des Selbstcoaching

Allerdings treibe die digitale Vermessung unserer Körperfunktionen zuweilen skurrile Blüten. So stieß Suchert bei ihren Recherchen auf ein Sexmessinstrument in Form eines Penisrings, mit dem die Aktivität beim Geschlechtsverkehr gemessen werden kann.
Wo hört das gesunde Selbstcoaching auf und wo beginnt der Wahn? "Wenn es die Zielbindung verliert und tatsächlich zum reinen Selbstzweck wird und man eigentlich gar nicht mehr weiß, was man damit bezwecken will", sagt Suchert. Die Gefahr sei groß, dass man vor lauter Selbstoptimierung nie mehr mit sich zufrieden werden könne - "weil es immer besser geht".
Indem man Beobachter und Objekt der Beobachtung zugleich sei, enferne man sich von sich selbst und verlerne, im Zweifelsfall lieber auf das zu hören, was der Körper einem deutlich signalisiere als auf eine App.
(mkn)

Vivien Suchert, "Das vermessene Ich"
Ecowin Verlag, 2019
280 Seiten, 18 Euro

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