Viktor Martinowitsch: "Mova"

Geschichte einer Zudröhnung

Die Tastatur einer alten Schreibmaschine.
Die Droge "Mova" gehört zu den "nichtsubstanziellen Psychotropika" und besteht aus Buchstaben. © imago / McPHOTO
Von Martin Becker · 26.10.2016
Die Droge "Mova" gibt dem Roman des weißrussischen Autors Viktor Martinowitsch den Titel. Sie besteht aus Buchstaben. Wer sie liest, wird high. Eine Groteske, ein Krimi, ein Albtraum, ein Rausch. Heftiger Stoff in Buchform, dessen Konsum wir wärmstens empfehlen.
Im Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung wird das weißrussische Minsk von einer heftigen Droge heimgesucht. Sie ist stärker als LSD. Sie ist verführerisch. Sie hat angeblich keine Nebenwirkungen. Mova heißt der Stoff. Und Mova ist weder synthetisches Pulver noch pflanzliches Mittel. Die Droge gehört zu den "nichtsubstanziellen Psychotropika" und besteht aus – Buchstaben. Aus Sätzen auf Papier. Wer sie liest, der wird high. Und wer mit ihnen handelt, dem droht die Todesstrafe.
Der weißrussische Autor Viktor Martinowitsch, Jahrgang 1977, erzählt die Geschichte von Mova aus der Perspektive eines Dealers und eines Konsumenten. Das Buch beginnt in Warschau, im "alten" Europa also – einer im Vergleich zum russisch-chinesischen Unionsstaat vollkommen verarmten Gegend. Der Erzähler besorgt sich in einem Asia-Laden billiges Mova (also schlichtweg Zettelchen mit Sätzen darauf), um es in seiner Heimatstadt Minsk zu verticken – und stellt süffisant fest: "Warschau ist um einiges attraktiver geworden, seit sie Gras legalisiert und Döner verboten haben."

Mal Parabel, mal Dystopie, mal Thriller

Damit ist der Grundton vorgegeben: Es geht gleichermaßen existenziell wie ironisch zu. Und schon auf den ersten Seiten nimmt "Mova" richtig Fahrt auf: Viktor Martinowitsch erzählt mit Wucht, mit Wut, mit Witz. Sein Roman ist mal Parabel, mal Dystopie, mal Thriller – und er hat mehr mit der Gegenwart zu tun, als man es angesichts der astronomischen Jahreszahl 4741 vermutet. Familien gelten als überholt und die Liebe ist ein moralisch verwerfliches Konstrukt aus der Vergangenheit. Wenn einer der Protagonisten diese kalte Unverbindlichkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen bejammert, dann geht es zugespitzt um genau die Dinge, die auch uns bewegen.

Ein Lese-Spaß

Das ist es, was "Mova" so unglaublich anziehend macht: Nie wirkt diese Zukunftsvision wie nerdige Science-Fiction, nie ist man wirklich weit weg von unserem Jetzt. Ein Minsker Festival beschreibt der Erzähler zum Beispiel so: "Ich ließ die Karusselle hinter mir, die 'Genes for Fun'-Bude, wo man für eine Viertelstunde in die Haut von Einstein oder Elvis schlüpfen konnte, den Aktivator für positive Erinnerungen und die Schrumpfungsmaschine, kurz: den ganzen faulen Zauber, der auf jedem Musikfestival aufgefahren wird." Um gleich darauf die Grenzen des technischen Fortschritts auf geradezu bittere Weise aufzuzeigen: Wir können schrumpfen, wir können Einstein sein – nur gegen den Krebs können wir immer noch nichts machen.
Martinowitschs Sprache hat eine gewaltige Sogwirkung. Und er beherrscht das literarische Spiel auf unverschämte Weise. So warnt der Erzähler doch allen Ernstes zwischendurch vor "Interpretationsebenen" und dem "Intertext" – das macht einfach Spaß beim Lesen. Die Geschichte dieser Zudröhnung wird durch die Vielschichtigkeit so besonders. Mova ist lustig. Mova ist tieftraurig. Mova ist immer überraschend. Eine Groteske, ein Krimi, ein Alptraum, ein Rausch. Heftiger Stoff in Buchform, dessen Konsum man nur allerwärmstens empfehlen kann.

Viktor Martinowitsch: "MOVA"
Aus dem Belarussischen übersetzt von Thomas Weiler
Voland & Quist, 400 Seiten, 25 Euro

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