Vielfalt Fehlanzeige

Migranten sind in der Politik wenig vertreten

29:51 Minuten
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich bei der Sitzung des Bundestages mit den SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby und Yasmin Fahimi.
Die Abgeordneten Karamba Diaby und Yasmin Fahimi im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag. © picture alliance / Kay Kay Nietfeld
Von Luise Sammann · 19.07.2021
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In den Parlamenten sitzen kaum Menschen mit ausländischen Wurzeln. Auch die Parteien tun sich mit der Vielfalt in den eigenen Reihen schwer. Das führt zu einem Demokratiedefizit - und Frust bei migrantischen Wählern. Wie lässt sich das ändern?
Es ist stickig im fünften Stock des Christian-Wolff-Gymnasiums in Halle an der Saale. 21 Achtklässler lassen sich auf die weit im Raum verteilten Stühle fallen, machen es sich bequem. Die Coronaabstandsregeln sorgen für Beinfreiheit. Manche der in die Höhe geschossenen Teenager haben sie dringend nötig.
Und trotz Sauerstoffmangel und grauem Linoleumfußboden: Die heutige Stunde verspricht Abwechslung. Statt des Klassenlehrers steht Karamba Diaby vor den Schülern. Seit 2013 Bundestagsabgeordneter aus Halle an der Saale.
Diaby nutzt die sitzungsfreien Wochen wie in jedem Jahr für eine Tour durch seinen Wahlkreis. Unter dem Motto "Mit Karamba durch den Sommer" macht er Praktikum in Eis- und Blumenläden, besucht Kleingartenanlagen oder, wie heute, Schulklassen.
Bildungspolitik, Sozialdemokratie, Naturwissenschaften: Es gibt viele Themen, über die der 58-Jährige promovierte Geoökologe gern spricht. Doch zuerst muss er, wie so oft, beweisen, dass er wirklich hier hergehört. Karamba Diaby ist schwarz. Vor 34 Jahren kam er mit einem Stipendium aus dem Senegal in die damalige DDR, studierte in Halle Chemie.

"Ich bin ein waschechter Ossi"

Seitdem, so betont er gern, hat er die Stadt nie länger als vier Wochen am Stück verlassen. Dann erzählt er den Schülern die Anekdote, in der sich zwei Jugendliche in der Straßenbahn über sein Wahlplakat unterhalten:
"War Wahlkampf. Überall Plakate. So, und dann der eine, der hier sitzt, der sieht die Plakate da. Ey, du, guck mal! Der andere dreht sich um. Was ist denn? Ja guck mal, ein Affe. Was, spinnst du? Das ist der Karamba Diaby! Das ist einer von uns, ein Ossi, ein Hallenser. Das stimmt auch! Ich bin ein waschechter Ossi. Und ich denke, die Hallenser sehen das auch so."

Nur wenige Minuten dauert es, dann hat Karamba Diaby die Schüler mit seiner lebhaften Art gepackt. Seine Hautfarbe, so scheint es, spielt keine Rolle mehr. Wie viel er verdiene, will ein Vierzehnjähriger wissen, warum Bildungspolitiker wie er nicht für bessere Schulen sorgten und ob er mal Bundespräsident werden wolle. Diaby antwortet geduldig und humorvoll.
Der Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby in einem Klassenzimmer
Im Gespräch mit zukünftigen Wählern: Der Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby besucht Schülerinnen und Schüler aus Halle.© Deutschlandradio / Luise Sammann

Gegen viele Widerstände in den Bundestag

Eine Stunde, dann ist der Besuch vorbei. Zwischen den für Halle-Neustadt typischen Plattenbauten geht es vom Christian-Wolff-Gymnasium weiter zu Mustafa Hamidas Groß- und Einzelhandel. "Durra – Orientalische Lebensmittel" steht auf einem grünen Schild. Unter einem Sonnendach türmen sich frische Auberginen, Zucchinis und Tomaten vor dem Eingang.
Diaby und Hamida kennen sich schon lange. Zwei Männer, zwei Zugezogene, die es gegen alle Widerstände geschafft haben. Einer in der Wirtschaft, einer in der Politik.
Diabys Einzug in den Bundestag vor sieben Jahren hat den gebürtigen Syrer Hamida so stolz gemacht, als ginge es um seinen eigenen Bruder. "Dass er so etwas schafft, habe ich nie gedacht. Das war eine Überraschung. Mit der Hautfarbe und so weiter, das ist für mich eine Überraschung. Aber eine gute Überraschung. Aber er ist auch fleißig und dann hat er das erreicht. Und er hat das verdient."
Mustafa Hamida bittet in seinen Laden, führt stolz an Regalen voller orientalischer Gewürze, Hülsenfrüchten und Pistaziensüßigkeiten vorbei. Sein duftendes Geschäft ist inzwischen Teil eines Großhandels, beliefert Kunden in ganz Deutschland. Ein Lebenswerk – aufgebaut in einem Land, in dem sich Hamida in diesen Tagen oft wenig willkommen fühlt.
Umso wichtiger, dass einer wie Diaby ganz oben mitmischt, findet er: "Weil das eine Bestätigung ist, dass wir auch Teil der Gesellschaft sind. Wir sind seit 26 oder 27 Jahren hier und versuchen auch, hier unsere Beiträge zu leisten, im Land was zu machen. Ich freue mich, wenn jemand auch in der Liste steht. Dunkle Haut oder arabische Abstammung oder Südamerika… Hauptsache, dass es einer von der Gruppe ist, die vor 24, 26 Jahren aus Angst auf der Straße zu laufen hatten. Das war eine schlimme Zeit. Und wenn einer im Parlament sitzt, das ist eine große Freude. Das ist auch eine Bestätigung dann."

Nicht auf Migranten-Themen reduziert werden

Karamba Diaby lächelt dankbar. Dass er es als schwarzer Politiker aus Halle in den Deutschen Bundestag geschafft hat, macht ihn stolz.
Zugleich wehrt er sich dagegen, auf die Rolle des Migranten reduziert zu werden. "Es ist ja so, dass ich leider von manchen Journalisten nur angesprochen werde, wenn es um Rassismus geht oder um Rechtsextremisten. Das finde ich bedauerlich", bemerkt er, als er wenige Minuten später in einem knallroten Mietwagen auf dem Weg zum nächsten Termin ist.
"Das ist ein Zwiespalt. Einerseits möchte man auf das Thema nicht reduziert werden, andererseits möchte man auch nicht definitiv ausgeklammert werden. Es muss eine Balance gefunden werden. Ich habe mich beschwert, als ich mitbekommen habe, nach dem Tod von George Floyd, dass Podiumsdiskussionen organisiert wurden, wo man nur weiße Menschen gefragt hat. Das finde ich auch bedauerlich. Es muss eine Balance gefunden werden. Ich denke, ich bin Bildungspolitiker, ich bin Geoökologe, bin Naturwissenschaftler, bin Sozialdemokrat, bin Familienvater, bin Kleingartenfreund. Also, ich habe mindestens zehn Identitäten, mit denen ich mich mit jemandem unterhalten kann."
Eigentlich, so sagt Karamba Diaby noch bevor er aussteigt, möchte er normal sein – als Individuum, nicht als Schwarzer wahrgenommen werden. Doch in einem Land, in dem nichtweiße Menschen bis heute nur in Ausnahmefällen Schlüsselpositionen besetzen, in Lehrerzimmern, Redaktionsräumen, Beamtenstuben oder Parlamenten kaum vorkommen, klingt das auch im Jahr 2020 wie Zukunftsmusik.

"Wir stehen auf den hintersten Listenplätzen"

Szenenwechsel: Von Halle geht es nach München. Am 15. März fanden hier die letzten Kommunalwahlen statt – kurz bevor das Coronavirus Deutschland vorübergehend lahm legte. Am Wahlabend präsentierten sich ausschließlich fröhliche Gewinner: Die Grünen hatten mit Spitzenkandidat Ludwig Hartmann die Mehrheit im Stadtrat erreicht. Dieter Reiter von der SPD konnte sein Amt als Oberbürgermeister verteidigen. Und selbst die Münchner CSU-Spitze sprach trotz der deutlichen Niederlage ihrer Kandidatin Kristina Frank zunächst von einem respektablen Ergebnis.
Dass es auch ganz klare Verlierer gab, bemerkte kaum jemand. Kandidaten mit Zuwanderungsgeschichte – Kandidaten, die nicht Ludwig, Dieter oder Kristina heißen, waren bei dieser Wahl wieder einmal kaum präsent gewesen. "Wir stehen auf den hintersten Listenplätzen und haben keine Chance reinzukommen. Und das ist schon seit Jahren so", klagt der 35-jährige Deutsch-Ägypter Achim Seger, der sich bereits lange vor den Black-Lives-Matter-Protesten in München und anderswo gegen Rassismus engagierte und bei der Kommunalwahl als Kandidat für den Münchner Stadtrat angetreten war.

Seger ist in München und Umgebung vor allem als Rapper und Youtuber unter seinem Künstlernamen Waseem bekannt. Sein politisches Zuhause fand er 2019 in der Hip-Hop-Partei Die Urbane (DU). "Für uns ist Hip-Hop eben in einem politischen Kontext zu sehen und auch entstanden: Wo Menschen mit historischen Problemen zu kämpfen hatten und das eben gemacht haben durch einen künstlerischen Ausdruck. Hip-Hop ist in diesem Kontext entstanden und der besteht fort. White Supremacy ist so ein Stichwort, Alltagsrassismus. Deswegen braucht es eigentlich immer noch das gleiche empowernde Tool, wie Hip-Hop halt war und immer noch ist."
Wenn er Youtube-Videos online stellt, Musik macht oder als bekennender Moslem und Wirtschaftswissenschaftler an Podiumsdiskussionen teilnimmt, geht es Waseem vor allem um Bewusstseinsbildung. Vielen Menschen, so weiß er, fällt die weitgehende Abwesenheit eines Teils der Bevölkerung unter Entscheidungsträgern gar nicht auf.
Rapper Achim Seger alias Waseem.
Ist bei bei der Kommunalwahl als Kandidat für den Münchner Stadtrat angetreten: Rapper Achim Seger alias Waseem.© Deutschlandradio / Luise Sammann

Wenig Vielfalt in den Parlamenten

Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann im hessischen Hanau zehn Menschen. Offensichtlich aus rassistischen Motiven. Bei den bayerischen Kommunalwahlen keine vier Wochen später spielte die Tat für weite Teile der dortigen Wählerschaft schon keine Rolle mehr. Diejenigen, in denen die Morde große, teils existenzielle Ängste ausgelöst hatten, blieben mit ihren Sorgen allein.
"Der prozentuale Anteil der Stadträte und Stadträtinnen mit Migrationshintergrund – einen Monat nach Hanau war die Wahl – ist noch weniger geworden. Also wir haben jetzt nur noch zwei Stadträte mit Migrationshintergrund, davor waren es vier. Und München ist eine Stadt mit fast 50 Prozent Migrationsanteil. Und das ist nicht repräsentativ. Das ist eigentlich rassistisch."
Tatsächlich ist München damit alles andere als eine Ausnahme. In Deutschland hat heute etwa jeder Vierte eine Zuwanderungsgeschichte. Doch auch im aktuellen Bundestag sitzen nach einer Erhebung des Mediendienst Integration nur 58 von 709 Abgeordneten mit einem so genannten Migrationshintergrund, gut acht Prozent.
"Man kann nicht Politik – das ist demokratietheoretisch auch nicht vorstellbar – abseits dieser Gruppen machen." So Professor Haci-Halil Uslucan, Migrationsforscher an der Universität Duisburg-Essen.
"Wenn diese Menschen weder die Möglichkeit haben, Gehör zu finden, dann sind sie letztlich, was die politischen Maßnahmen betrifft, fühlen sie sich auch nicht dem verpflichtet, weil sie nicht an der politischen Willensbildung beteiligt waren."

Wahlbeteiligung von türkeistämmigen Deutschen ist gering

Wer sich nicht vertreten fühlt, sich nicht mit Personen und Themen identifizieren kann, der wendet sich häufig ab. Nicht zufällig zeigte eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen nach der Bundestagswahl 2017, dass die Wahlbeteiligung von türkeistämmigen Deutschen deutlich unter der der Gesamtbevölkerung lag.
"Man ist nur teilweise vertreten", erklärt Haluk Yildiz, türkischstämmiger Unternehmensberater und Kommunalpolitiker aus Bonn.
"Das heißt, es gibt Positionen, wo sie sagen, aha, die SPD hat Positionen, die sind gut. Aber dann gibt es Positionen, mit denen kommt man gar nicht klar. Das ist ja meistens so in den Parteien. Aber wenn das dann Positionen sind, die gegen meine Identität sind, dann sagen sie sich natürlich, das hat für mich Priorität."

Wenig Pluralität in den Parteien

Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft zum Beispiel. Ein Thema, das bis heute nicht abschließend geklärt ist, besonders für türkischstämmige Deutsche aber existenzielle Bedeutung hat. Während US-Amerikaner, Israelis, Japaner und viele andere ihre Staatsbürgerschaft behalten dürfen, wenn sie die deutsche beantragen, müssen sich ausgerechnet die Türken für eine von beiden entscheiden. Aber auch das Thema Alltagsrassismus ist für Haluk Yildiz zu wenig präsent in der deutschen Politik.
"Man wird bei der Bewerbung schon diskriminiert. Das gleiche haben sie auf dem Wohnungsmarkt, das gleiche im öffentlichen Bereich. Das ist ja, was die Leute uns erzählen: Ich kann mich mit vielen dieser Sachen nicht identifizieren. Ich komme mir vor wie ein Bürger zweiter oder dritter Klasse. Und keine Partei hat das bisher gelöst."
Und das, obwohl es immer wieder Anläufe gab. Lange war es vor allem die SPD, die als politische Heimat von Wählern mit Migrationshintergrund galt. Später starteten auch Linke, Grüne und selbst die CDU gezielte Kampagnen. Politisch getan hat sich dennoch wenig. Nicht einmal ein Anti-Rassismus-Gesetz gibt es bis heute in der Bundesrepublik. Diejenigen, die es am nötigsten bräuchten, sind unter den Entscheidungsträgern nach wie vor kaum vertreten.
"Wenn die Vielfalt nicht da ist, die Pluralität der verschiedenen Perspektiven eben bezogen auf Diskriminierungserfahrungen in dem Raum nicht vorhanden sind, dann werden die Debatten auch ohne einen Bezug auf diese Form der Diskriminierung auch geführt." So Filiz Keküllüoglu, türkischstämmige Grünenpolitikerin aus Berlin. Menschen wie sie selbst, wie Karamba Diaby aus Halle, oder auch Aminata Touré aus Schleswig-Holstein dürften deswegen nicht mehr länger Ausnahmen sein, sondern müssten Teil jeder Partei, jedes Ausschusses und jedes Kabinetts werden. Nicht als erstaunliche Einzelbeispiele, sondern als Selbstverständlichkeit.

Hemmschwellen, sich politisch zu engagieren

Aber wollen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte überhaupt politisch mitwirken? Warum treten sie deutlich weniger auch in die Parteien ein, die ihre Offenheit betonen? Auch in der SPD, bei den Grünen oder der Linken sitzen bei Parteitagen vor allem Mitglieder ohne Zuwanderungsgeschichte an den Tischen. Echte Vielfalt fehlt auch hier. Vielleicht engagieren sich Charlotte und Andreas einfach häufiger als Aynur und Mohammed?
Sozialdemokrat Karamba Diaby aus Halle schüttelt entschieden mit dem Kopf. "Auch in meiner eigenen Partei wird immer wieder geantwortet, die Tür ist offen. Wir sind doch weltoffen. Da kann jeder mitmachen. Na, hallo! Und wenn die nicht kommen, das ist ihr Problem. Ich sage einfach, es gibt einen Unterschied. Wenn ich Ihnen sagen, Ich lade sie mal nach Halle ein, wir gehen vielleicht mal in einer syrischen Gaststätte essen, da kann man sich über andere Themen unterhalten. Das ist anders, als wenn ich sage: Ich lade sie ein, am 19. Oktober 2020, 19 Uhr in die Willy-Brandt-Straße 19 in Halle an der Saale. Wir gehen türkisch oder arabisch essen. Das ist ein völlig eklatanter Unterschied! Das ist eine ganz konkrete Einladung. Sie wissen, wann ich sie eingeladen habe, welche Uhrzeit und was wir essen sogar. Wenn ich aber sage, jeder kann kommen, ihr seid alle herzlich eingeladen – ich schaffe die Bedingungen nicht, dass die Leute kommen."
Tatsächlich belegen Studien, zum Beispiel von der Bertelsmann-Stiftung: Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wollen sich in Deutschland engagieren und sie tun es sogar überdurchschnittlich viel. Ausgerechnet in der Politik aber landen sie nur selten. Schuld daran sind vor allem inoffizielle Hürden, die all diejenigen, die nicht aus weißen Akademikerhaushalten kommen, konsequent ausschließen. Und das selbst, wenn sie bereits in der dritten oder gar vierten Generation in Deutschland leben.
"Man muss sich das auch so vorstellen: Man kommt in einen Raum, also jetzt als Frau, und da sind nur Männer. Dann fühlt man sich doch auch – also ich fühl mich komisch. Und so war das auch mit dem, dass man irgendwo hinkommt, wo es einfach zu 100 Prozent weiße Menschen sind, wo über weiße Themen gesprochen wird."

"Pioniere" müssen sich ihren Weg in die Parteien bahnen

Ayten Dogan, kurdischstämmige Politikerin und Person of color (POC), sitzt in einem sonnendurchfluteten Berliner Park und erinnert sich an ihre ersten Versuche, sich parteipolitisch zu engagieren.
"Wenn wir das ganz neutral sehen. Ich komme in einen Raum und da muss ich in einer Form Gleichgesinnte finden oder sehen, wo ich andocken kann. Weil: Sonst ziehe ich weiter. Und das war für mich am Anfang, in den unterschiedlichen Parteien, wo ich noch gar kein Mitglied war, hatte ich das Gefühl, dass meine Themen nicht ernst genommen wurden. Also da ging es dann nicht darum, was mit meinen Eltern ist, was meine Bedürfnisse sind, welchen Struggle ich im Alltag habe aufgrund meines Hintergrunds. Homeschooling für jemanden, wo die Eltern zu Hause vielleicht nicht perfekt Deutsch sprechen, ist ganz anders als für das akademische Kind. Also, da muss man halt differenzieren."

Dass Dogan schließlich doch bei der SPD landete, lag an einem anderen POC, der sie bei einem Treffen ansprach und in die neue Welt einführte. Ein sogenannter Gatekeeper, wie er gerade Menschen mit Zuwanderungsgeschichte häufig fehlt. Denn in den meisten Fällen haben sie im Bekannten- und Verwandtenkreis keine Vorbilder, über die sie in die Parteipolitik hineinwachsen.
"Ich selbst komm aus Tempelhof-Schöneberg. Kevin Kühnert, der auch von hier ist, der ist, glaube ich, schon mit 14 oder 15 in die Partei geboren wurde, aus einer SPD-Familie, glaube ich, auch kommt, für den ist das natürlich ganz anders, dieses politische Leben. Der ist damit aufgewachsen, der ist mit den Jusos groß geworden und der kann jetzt gut mitmischen. Und POCs kommen oft zur Politik, das ist jetzt meine persönliche Erfahrung, mit dem Studium, nach dem Studium, durch die Arbeit. Und da fehlen denen oft diese zehn Jahre, die zum Beispiel Jusos haben."
Als Pioniere bezeichnet der Politikwissenschaftler Damir Softic deswegen POCs wie Ayten Dogan oder Karamba Diaby, die sich ihren Weg in die Politik ganz allein bahnen müssen und die darüber hinaus häufig nicht aus Akademiker-, sondern aus Arbeiterfamilien stammen. Eine Gruppe, die im Deutschen Bundestag ebenfalls eklatant unterrepräsentiert ist. Politologe Damir Softic:
"Natürlich machen diese Akteure dann auch diskriminierende Erfahrungen, auch in ihrer eigenen Partei. Da wird dann gesagt: Du hast ja so einen Akzent und das ist ja sehr nachteilig. Ob man da nicht einen geeigneteren Kandidaten finden kann als den. Oder eine spannende Szene, die mal ein Bundestagsabgeordneter mit Migrationshintergrund geschildert hat, der auch noch eine andere Hautfarbe hat und dann mal auf einem großen Parteievent mit einem Kellner verwechselt worden ist und ihm Trinkgeld, ein Euro, in die Hand gedrückt worden ist."
Die SPD-Politikerin Ayten Dogan
Musste sich erst den Weg in die Politik bahnen: die SPD-Politikerin Ayten Dogan.© Deutschlandradio / Luise Sammann
Politikwissenschaftler Damir Softic
Der Einstieg in die Politik ist für Migranten schwer, meint der Politikwissenschaftler Damir Softic.© Deutschlandradio / Luise Sammann
Einige POCs stecken solche Erfahrungen als Anekdote weg. Manche passen sich besonders gut an, anstatt Rassismus und Diskriminierung in Partei und Gesellschaft zum Kern ihres Engagements zu machen. Wer das nicht tut, verbaut sich damit schnell den eigenen Aufstieg, läuft Gefahr als Lobbyist für Migrantenthemen abgestempelt zu werden. In die oberen Zirkel der Macht vorzudringen, ist dann schier unmöglich. Aber auch so bleiben viele Türen für POCs von vornherein verschlossen. Politologe Softic verweist auf den Parteienforscher Robert Michels, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts anhand der eigentlich als integrativ angetretenen sozialdemokratischen Parteien in Europa zeigte:
"Jede große Organisation neigt zu Oligopolbildung. Also dass dann wieder eine kleine Gruppe den Laden anleitet. Und das bedeutet, dass es bei großen Parteien, die wir ja in Deutschland haben, Hunderttausende von Mitgliedern bei den großen Parteien, dass ein innerer Kreis sich irgendwie auch reproduziert und die Nachfolger quasi mitproduziert. Also wenn man jetzt sozusagen auf die Spitzenpositionen achtet."

Kann eine Quote helfen?

Ein Teufelskreis, der – so glaubt nicht nur die kurdischstämmige Politikerin Ayten Dogan – nur durch Quoten für benachteiligte Gruppen durchbrochen werden kann.
"Allgemein bin ich so, dass ich denke, in einer idealen Welt sollte das selbstverständlich sein, also, dass man sowohl für Frauen als auch eine sogenannte Migrantenquote nicht bräuchte. Aber ich glaube, wir sind nicht soweit. Deswegen: Wir brauchen sie auf jeden Fall. Man muss POCs auch die Mandate geben, auch nach vorne tun, Möglichkeiten schaffen, unterstützen, dass einfach auch andere sehen: Aha, okay, da gibt es die Möglichkeit, ich werde gehört, ich darf gestalten. Und durch diese Schlüsselpersonen werden Menschen schon nachziehen."
Doch Quoten sind umstritten. Karamba Diaby aus Halle zum Beispiel warnt vor der zu erwartenden Unterstellung, Kandidaten wie er würden nicht wegen ihrer Leistungen und Positionen, sondern allein wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Zuwanderungsgeschichte aufgestellt.
Ohnehin zeigt sich an den aktuellen Diskussionen um eine mögliche Frauenquote innerhalb der CDU, wie schwer der Kampf um solche Regelungen für Politiker mit Zuwanderungsgeschichte erst sein dürfte. Und so bleibt der politische Betrieb in Deutschland vorerst so homogen, so überwiegend weiß, dass wir die "Parteien eigentlich als Parallelgesellschaften bezeichnen" müssten, so Emilia Roig, Politologin und Gründerin des Center for Intersectional Justice in Berlin.
"Das tun wir nicht. Warum? Weil es die dominante Gruppe ist, im Sinne von, die Gruppe, die am meisten die politische, kulturelle, wirtschaftliche Macht hat, also darüber verfügt. Und deswegen nennen wir das nicht so. Wir denken, solange wir offen sind und sagen, Menschen mit Migrationshintergrund sind willkommen, dann haben wir kein Problem."
Emilia Roig vom Center for Intersectional Studies
Parteien seien eigentlich längst "Parallelgesellschaften", meint die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig.© Deutschlandradio / Luise Sammann
Die Realität sieht anders aus. 2015 stellten Politikerinnen und Politiker mit Migrationshintergrund gerade einmal 4,5 Prozent der Landtagsabgeordneten, bei den Stadtratsmitgliedern waren es vier Prozent. Und während einem Teil der Menschen in Deutschland dieses Ungleichgewicht gar nicht auffallen mag, weil es sie persönlich nicht betrifft, wächst bei anderen die Wut, so Journalistin Ferda Ataman.
"Ich beobachte schon seit einer ganzen Weile – also ich nenne das: Es brodelt in Kanakistan. So hatte ich das mal in einer Kolumne genannt. Dass die Wut und vor allem auch die Enttäuschung – ich glaube, das ist das richtige Wort – über die etablierten Parteien oder klassischen Parteien doch sehr groß ist. Weil seit 2015, seit es diesen wirklich sichtbaren und spürbaren und auch parlamentarisch nachweislichen Rechtsruck gibt, in dem eine rechtsradikale bis teilweise rechtsextreme Partei in allen Parlamenten sitzt, seitdem sind die anderen Parteien nicht klarer und eindeutiger, haben sich nicht vor die offene Gesellschaft und für Inklusion ausgesprochen, sondern sind eher auch nach rechts gerückt und haben signalisiert: Oh ja, da gibt es offenbar besorgte Einheimische, um die müssen wir uns besonders kümmern, deren Belange sind besonders wichtig."

Brauchen wir eine "Migrantenpartei"?

Journalistin Ataman gehört zu den Gründerinnen der Neuen Deutschen Organisationen. Einem "postmigrantischen" Zusammenschluss von über 100 Initiativen, die sich für Vielfalt und gegen Rassismus einsetzen. Beim Bundeskongress im Februar kam auch hier die inzwischen immer öfter gestellte Frage auf:
"Bräuchten wir eine eigene Partei, die Minderheitenpunkte, also Bedürfnisse, Themen sehr in den Blick nimmt?"
Es wäre nicht der erste Anlauf für eine sogenannte "Migrantenpartei" in Europa. In den Niederlanden gründete sich im Jahr 2015 die DENK-Partei als Antwort auf die rechtsnationalistische Rhetorik von Politiker Geert Wilders. Inzwischen ist DENK in 13 Gemeinden und mit immerhin drei Abgeordneten im Parlament vertreten.
Ein mögliches Erfolgsmodell auch für Deutschland? Filiz Keküllüoglu von den Grünen ist skeptisch und verweist auf die Vielfalt auch innerhalb der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte.
"Es gibt auch POCs in den anderen Fraktionen, und da merke ich: Okay, das einzige, was uns vielleicht wirklich verbindet, dass der aufgrund seines Namens auch manchmal Diskriminierung erfährt. Aber er hat einfach ein ganz anderes Weltbild, bezogen auf Sexismus, bezogen auf auch wirtschaftliche Themen, also da auch bezogen auf Klassismus."

Ein langsamer Wandel

Die Frage, die sich bei einer eigenen Partei für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte also immer stellen würde, lautet: Reicht die Tatsache, dass man nicht ausreichend repräsentiert ist und ähnliche Erfahrungen mit Rassismus gemacht hat, um gemeinsam Politik zu machen? Filiz Keküllüoglu glaubt, dass es weiterer Gemeinsamkeiten bedarf und engagiert sich deswegen lieber bei BUNT-Grün – einem Netzwerk, das 2013 innerhalb des Berliner Verbandes der Grünen entstand und dem heute mehr als 200 Parteimitglieder mit Zuwanderungsgeschichte angehören.
"Also es geht nicht darum, dass wir uns irgendwie nur mit Rassismus per se und mit unserer Identifizierung oder unserer Erfahrung mit Rassismus beschäftigen, sondern dass wir in den verschiedenen Politikbereichen die rassismuskritische Perspektive als ein Querschnittsthema reingeben."
Nicht zuletzt durch dieses Engagement haben die Grünen heute Diversitätsbeauftragte in allen Bezirks-, Kreis- und Landesvorständen. Mit dem Parteibeschluss "Plural nach vorne" aus dem Jahr 2017 bekannten sich die Berliner Grünen gar dazu, den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund unter den Fraktionsträgerinnen, dem in der Berliner Gesellschaft anpassen zu wollen. Stand heute: 31 Prozent. Damit ist die Partei den anderen etablierten Fraktionen in Sachen Vielfalt weit voraus.
Immerhin: Seit Sommer 2019 hat auch die Linke mit LinksKanax ein ähnliches Netzwerk. Auch hier sind es Mitglieder mit Zuwanderungsgeschichte, die die Partei verändern, vor allem vielfältiger gestalten wollen. Beim bevorstehenden Landesparteitag in Berlin will die Gruppe konkrete Vorschläge machen, wie die Linke insgesamt diverser werden und die migrantische Perspektive auch innerhalb der Partei hör- und sichtbarer gemacht werden kann. Forderungen, die immer auch auf Widerstände stoßen werden, wie Filiz Keküllüoglu von BUNT-Grün aus eigener Erfahrung weiß.
"Die Grünen sind immer an der vordersten Front gegen Nazi-Demos und setzen sich eben auch für Einwanderung ein. Und dann ist es natürlich auch nicht so einfach, auf sich selbst zu schauen und zu sagen, okay, wir haben hier bestimmte eingespielte Routinen, und systematisch schließen die eben POCs und Schwarze Menschen aus. Und das müssen wir erst mal kleinteilig erarbeiten, dieses Thema."

Immerhin, mit Netzwerken wie BUNT-Grün und LinksKanax haben sich die ersten Parteien auf den Weg in die Einwanderungsgesellschaft gemacht. Bei anderen Fraktionen scheint das Thema noch deutlich weniger präsent. Im aktuellen Bundeskabinett der großen Koalition fehlen Minister mit Zuwanderungsgeschichte sogar völlig.
"Es gibt tiefsitzende Ängste obsolet zu werden. Und es geht um Überlebensmechanismen, die ganz tief verankert sind: Wir müssen für unseren Platz noch kämpfen, sonst werden wir ersetzt."
Analysiert die Politologin Emilia Roig das Missverhältnis.
Vor allem aber macht der langsame Fortschritt eines deutlich: Es geht nicht allein um die Frage, ob Deutschland Quoten oder Parteien für Menschen mit Migrationsgeschichte braucht. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass unsere Demokratie einen großen Teil ihrer Bevölkerung nicht repräsentiert. Die Frage, wieso das so ist und wie es sich ändern ließe, müssen nicht allein die Betroffenen stellen, sondern auch und vor allem diejenigen, die die Macht innehaben.
"Wenn wir anerkennen, dass es ein Problem gibt, dann haben wir die halbe Strecke schon gemacht. Und das ist das, was uns im Moment noch fehlt. Weil dann würde es heißen, oh Gott, wir sind schlechte Menschen, wir diskriminieren, wir sind immer noch rassistisch. Wir sollten einfach sehen, ja das haben wir und was können wir jetzt tun?"
Die Grünen-Politikerin Filiz Keküllüoglu
Steht dem Konzept einer sogenannten "Migrantenpartei" skeptisch gegenüber: die Grünen-Politikerin Filiz Keküllüoglu. © Deutschlandradio / Luise Sammann

Regie: Frank Merfort
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke

Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 03.08.2020.

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