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Die Pariser Salpêtrière war im 19. Jahrhundert eine berüchtigte psychiatrische Anstalt. Victoria Mas erzählt in "Die Tanzenden", wie Frauen, die sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht beugen wollten, hier interniert und erniedrigt wurden.
Die Salpêtrière ist ein riesiger Krankenhauskomplex im Südosten von Paris. Im 19. Jahrhundert war das Gebäude eine psychiatrische Heilanstalt. Vor allem Frauen wurden dort regelrecht weggesperrt. Der Mediziner Jean-Martin Charcot führte an den Insassinnen Hypnoseexperimente durch.
Die öffentlichen Demonstrationen wurden zu einem Massenvergnügen, zu dem es die Pariser ebenso begeistert zog wie in die Boulevardtheater. Auch Sigmund Freud studierte zweitweise bei dem berühmten Mediziner.
Die Schriftstellerin Victoria Mas hat über Europas bekannteste und berüchtigste Irrenanstalt einen Roman geschrieben: "Die Tanzenden". Es ist der erste Roman der 1987 geborenen Tochter der Sängerin Jeanne Mas. Nicht nur die prominente Mutter hat das Buch 2019 zu einem großen Erfolg in Frankreich werden lassen.
Victoria Mas zeigt, wie die Salpêtrière als eine Art Gefängnis genutzt wurde für Menschen, die nicht in die Gesellschaft passten. Bettlerinnen, Prostituierte und Missbrauchsopfer wurden ebenso eingewiesen wie Frauen, die sich den bürgerlichen Konventionen nicht beugen wollten.
Wer sich auflehnte, wurde als "hysterisch" oder eben irrsinnig gebrandmarkt und in der weitläufigen Anstalt isoliert. Die Salpêtrière war ein Paralleluniversum.
Die Romanheldin Eugénie denkt selbstständig, möchte nicht der Konvention entsprechen und heiraten. Sie weigert sich, ihrem Vater bedingungslos zu gehorchen. Der verbohrte Patriarch lässt sie kurzerhand in die Salpêtrière bringen. Auch deshalb allerdings, weil sie behauptet, mit Toten reden zu können.
Mas zeichnet ein erschütterndes Bild der Zustände in dieser psychiatrischen Anstalt. Die Frauen werden gehalten wie unmündige Kinder. Die Ärzte, alles Männer, begutachten die Frauen wie Labormäuse, jedenfalls nicht wie menschliche Wesen.
Einmal im Jahr öffnete sich die Salpêtrière für ein großes Fest. Zu "Mittfasten" - drei Wochen nach dem eigentlichen Ende der Karnevalszeit - wurde jeweils der "Bal des folles" gefeiert, bei dem sich die feine Pariser Gesellschaft dem Grusel hingab, gemeinsam mit Verrückten zu tanzen.
Auf diesen Ball ist der Roman hin konstruiert. Während der Turbulenzen des Fests gelingt Eugénie die Flucht.
Victoria Mas stellt starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt und zeichnet ihre Charaktere sehr feinfühlig. Ebenso die erdrückende gesellschaftliche Atmosphäre, die zur Abschiebung der Frauen führt.
Allerdings wirkt die Geschichte insgesamt doch etwa konstruiert. Vor allem, dass Eugénies übersinnliche Hellseherei als Fakt dargestellt wird, ist befremdlich. Das verleiht diesem Roman eine spiritistische Note und macht die Geschichte letztlich unglaubwürdig.
"Die Tanzenden" will eigentlich aufklären: Die grausamen Zustände in der Salpêtrière anprangern, die Unterdrückung und Misshandlung der Frauen. Durch die seltsame Geisterbeschwörung, die so undistanziert dargestellt wird, bekommt das Buch eine okkultistische Schlagseite, es wird zu einer Art Märchen - und unterläuft damit seinen gesellschaftskritischen Ansatz.
Victoria Mas: "Die Tanzenden". Roman
Aus dem Französischen von Julia Schoch
Piper Verlag, München 2020
236 Seiten, 20 Euro
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