Verschickungsheime in Westdeutschland

Leidvolle Kinderkur mit Langzeitfolgen

30:19 Minuten
Alte Postkarte mit Ansichten des Kindersolbads, des Verwaltungsgebäudes und der Saline in Bad Dürrheim.
Ansichtskarten von Bad Dürrheim: Die Auslastung sogenannter Kinderkurheime stand im Vordergrund, nicht das Wohl der Kinder. © picture alliance / Arkivi / akpool GmbH
Von Hilke Lorenz · 04.08.2021
Audio herunterladen
Erholung am Meer oder in den Bergen, das klingt verlockend. Die Realität für die Kinder in Verschickungsheimen der Bundesrepublik sah jahrzehntelang oft anders aus. Manche von ihnen leiden bis heute unter dort erfahrener Gewalt und Erniedrigung.
All die traurigen Geschichten beginnen mit dem Schock des Abschieds. Mit Tränen. Connie ist sechs Jahre alt, als sie jäh aus ihrem Leben in Bocholt herausgerissen wird.
Fragt man sie nach den Erinnerungen an ihre Kinderkur, erzählt sie, ohne lange nachdenken zu müssen, was ihr vor fast 50 Jahren widerfahren ist. Damals, als man sie vor der Einschulung noch mal schnell in Kur schickte. Wie so viele andere.

"Du musst jetzt wegfahren"

"Ich habe erlebt, dass mein Vater mich zum Bahnhof nach Duisburg gebracht hat. Das weiß ich noch so genau. Und ich habe den ganzen Bahnhof zusammengeschrien, als er gesagt hat, ich muss jetzt in den Zug steigen und alleine wegfahren. Er hat mich wohl vorher nicht aufgeklärt. Dann musste ich in den Zug und ich habe mich so erschrocken. Ich habe das gar nicht verstanden", erinnert sie sich.
"Er hat mich fast reingeschubst, würde ich sagen. Du musst jetzt wegfahren, da ist jetzt die Tante sowieso, die holt dich jetzt ab, da bleibst du jetzt sitzen im Zug. Weil, du gehst jetzt in eine Kur, da wirst du wieder aufgepäppelt. In sechs Wochen bin ich wieder hier und jetzt stell dich mal nicht so an. Alles wird gut. Und dann saß ich im Zug und habe, glaube ich, die ganze Fahrt über geweint."
Traurig und enttäuscht sei sie gewesen. Und wütend auf ihre Eltern.
Connie ist eines von vielen ehemaligen Verschickungskindern, mit denen ich in den vergangenen zwei Jahren gesprochen habe. All ihre Erzählungen ähneln sich. Im Kern geht es um Macht, Missbrauch und Erniedrigung. Hier verdichtet sich all das, womit ich mich seit zwei Jahrzehnten beschäftige: Die emotionalen Schockwellen von Kriegserlebnissen und dem Leben im NS-Staat, die durch die Generationen weiterwirken. Unmengen nicht gelebter Trauer. Und die Folgen einer Erziehung ohne Wärme.

Millionen Kinder wurden "verschickt"

Für meine Recherchen war ich in Archiven, habe Dokumente aus der Zeit, auch polizeiliche Ermittlungsakten gelesen. Briefe und Postkarten und immer wieder Gruppenfotos aus den Kuren angeschaut. Die Dokumente erzählen oft mit großer Selbstverständlichkeit von einem System, in dem man an Kindern verdient hat und in dem Kinder keine Lobby hatten.
So wie Connie beschreiben mir viele ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins.
Schock, Tränen und Heimweh. Gegen das Heimweh gab es Heimwehtabletten. Manchmal waren es harmlose Smarties. Manchmal aber auch Medikamente zur Sedierung heimwehkranker Kinder.

Triggerwarnung:
Im Verlauf des Beitrags werden Erniedrigungen und sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffenen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.

Connie ist heute 56 Jahre alt, lebt in Köln. Sie ist eines von mindestens acht Millionen, manche sagen sogar zwölf Millionen Kindern, die von den späten 1940er-Jahren bis weit in die 1980er-Jahre in Erholungskur geschickt wurde. An die Nordsee, ins Allgäu oder in den Schwarzwald. Hauptsache Natur. Gerne ganz weit draußen.
Schon damals nannte man sie Verschickungskinder. Krankenkassen, Rentenversicherungen, Jugend- und Gesundheitsämtern initiierten die Kuren. Träger der Heime waren Caritas und Innere Mission, heute die Diakonie. Rotes Kreuz, Krankenkassen oder die Städte selbst. Dazu gab es viele Heime, die privat betrieben wurden.

Ein lukratives Geschäft für viele

In den Archiven, wo die Aufsichtsakten der Heime und der Städte liegen und die Korrespondenzen dazu, finden sich Briefe, in denen Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen oder auch Ärzteehepaare den Städten, Wohlfahrtsträgern und Kirchen ihre Dienste in den Kindererholungsheimen anbieten. Das Geschäft, so legen diese Dokumente nah, scheint für viele äußerst lukrativ gewesen zu sein.
Eine Hand hält eine Postkarte mit der Ansicht der Kinderheilanstalt Waldhaus in Bad Salzdetfurth.
Historische Ansicht der Kinderheilanstalt: Das Waldhaus Bad Salzdetfurth ist eine der vielen Einrichtungen, in die Kinder zur Erholung verschickt wurden.© Picture Alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Und als die Auslastung in den Häusern zurückging, schrieb in Württemberg die Landesversicherungsanstalt offenbar zahlreiche Kinderärzte an mit dem Hinweis, wer Kinderkuren verschreibe, erhalte dafür eine Sondervergütung. Vom 3. Juni 1969 stammt ein Aktenvermerk der Landesversicherungsanstalt Württemberg, kurz LVA, in dem es heißt:
"Ich vermute, dass es bei manchen Stellen nicht bekannt ist, dass die LVA bereit ist, mehr wie bisher Kinder-Heilverfahren zu genehmigen. Es wäre ratsam und es würde von der LVA sehr begrüßt, wenn die Entsendestellen von hier aus darauf hingewiesen würden, alle ihnen bekannten Kinder, für die ein LVA-Heilverfahren infrage kommen kann, für ein solches zu melden. Die Ärzte, die für eine solche Antragstellung besonders honoriert werden, wurden von der LVA in der letzten Zeit erneut davon unterrichtet."

Schlimme Schlafstörungen – seit Jahrzehnten

Sechs Wochen dauerte eine Kur. Wenn man Pech hatte auch länger. Wenn man etwa nicht genügend zugenommen hatte. Nur 200 Gramm statt der erhofften drei Kilo. Die Mehrzahl dieser Verschickungskinder hat die Wochen in den Kinderkurheimen als schrecklichste Zeit ihrer Kindheit erlebt. Mit Langzeitfolgen, unter denen Connie noch heute leidet.
"Das hat mich bis heute verfolgt. Ich habe seitdem kein gutes Verhältnis mehr zu den Eltern gehabt. Überhaupt nicht, ich habe da sehr darunter gelitten, mein Vertrauen war weg. Ich war ein gebrochenes Kind, kann ich wohl sagen. Ich leide heute noch an Verlustängsten und habe Angst, alleine zu sein. Ich kann nicht alleine sein. Ich habe seit Jahrzehnten schlimmste Schlafstörungen. Ich kann nachts eigentlich gar nicht schlafen, nicht durchschlafen. Nicht richtig einschlafen, werde mit Panikanfällen wach", erzählt Connie.
"Manchmal habe ich sogar Träume: Da fahre ich im Zug irgendwohin und wache wieder weinend auf. Das ist nicht übertrieben, das hat mich fertiggemacht damals. Ich weiß noch, mein Rucksack war kariert. Ich sehe ich meine Trinkflasche mit dem orangefarbenen Deckel. Ich rieche den Zug noch von innen."

Schwere Eingriffe in die kindliche Entwicklung

Der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Arne Burchartz weiß um die Langzeitfolgen solch verstörender Kindheitserlebnisse. Für ihn steht außer Frage, dass das, was die Verschickungskinder in der prosperierenden Bundesrepublik erlebt haben, schwere Eingriffe in ihre kindliche Entwicklung waren.
Den ehemaligen Verschickungskindern seien schweren Schädigungen zugefügt worden, die tiefe Erschütterungen im Seelenleben und in der Persönlichkeit hinterlassen haben, sagt Burchartz. Was genau passiert, wenn Kinder, wie es Connie erlebt hat, einfach in den Zug gesetzt werden und ihre vertraute Welt zurücklassen müssen? Ohne große Erklärung.
"Ein plötzlicher Verlust und eine plötzliche Trennung von den Bindungspersonen, das macht zunächst einmal Angst. Es handelt sich ja auch um Existenzängste. Das nennen wir eine Bindungstraumatisierung, wenn plötzlich die Bindungsperson nicht mehr da ist", erklärt der Psychotherapeut.

Bindung ist ein elementares Bedürfnis

"Bindung ist ja ein ganz elementares Bedürfnis des Menschen. Jemanden zu haben, bei dem man Sicherheit und Halt findet, und Trost findet: Wenn mal was wehtut oder man Nöte oder Ängste hat. Wenn das fehlt, kann ein Kind seine Ängste nicht mehr gut regulieren und fällt in Angstzustände."
Die kindliche Antwort auf solche Zustände völliger Ohnmacht ist meist Protest. Schreien oder Weinen. Aber was, wenn der Hilferuf keine Beachtung findet?
"Wenn aber auf diesen Protest nicht hört oder wenn man versucht, das autoritär oder gewaltsam einzudämmen, dann wird das Kind irgendwann resignieren, dann hat es sich unterworfen und angepasst. Aber das ist ja nicht das, was wir für eine gesunde seelische Entwicklung halten", sagt Arne Burchartz.

Sechs lange Wochen im Schwarzwald

Connie verbringt sechs lange Wochen im Kindersolbad Bad Dürrheim im Schwarzwald. Das Haus ist eines von fast 1000 Kindererholungsheimen, Sanatorien und Kinderheilstätten in der noch jungen Bundesrepublik.
Aufgelistet sind sie in einem Verzeichnis, das der Lörracher Kinderarzt Sepp Folberth 1956 zusammengestellt hat und 1964 in zweiter Auflage veröffentlicht. Kein wissenschaftliches Werk, sondern eine Mischung aus Werbebroschüre und Nachschlagwerk. 13 Heime listet das Verzeichnis allein nur für die Kurstadt Bad Dürrheim auf. Träger des Kindersolbads war der Landesverband Südbaden vom Deutschen Roten Kreuz.
Das Haus, 1883 gegründet, war mit seinen 350 Betten eines der ältesten und zugleich größten Heime. 17 Jahre nach seiner Schließung steht es noch immer, wenn auch in heruntergekommenen Zustand mit zugenagelten Fenstern und Türen, am Waldrand.
Ganzjährig nahm man dort Jungen und Mädchen im Alter zwischen drei und 14 Jahren auf. Das Angebot: Solbäder, Raum- und Einzelinhalationen und Diäten. Die Indikationen: chronischen Erkrankungen der oberen und tieferen Atemwege.

Schwarze Pädagogik statt Erholung

Die Geschichten der Verschickungskinder ähneln einander – unabhängig vom Ort ihrer Kur. Was im DRK-Kindersolbad geschehen ist, ist eingebettet in die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte. Und doch nimmt es durch den langjährigen ärztlichen Leiter eine besondere Stellung in der Landschaft der Kinderkurheime ein.
Hans Kleinschmidt, der 1933 an der Universität Erlangen promovierte und 1956 die Leitung des Hauses übernahm, hat viele wissenschaftliche Abhandlungen hinterlassen. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, wie die Kurkinder ihn und sein Haus erlebt haben.
Kleinschmidts Abhandlung über "Die Durchführung von Kindererholung und Heilkuren" ist durchdrungen vom Geist schwärzester Pädagogik. Darin findet sich auch ein Bestrafungskatalog für – so nennt er sie – straffällige Kinder.

Demütigende Strafen statt tröstende Hilfe

Kinder wie die fünfjährige Monika. "Man sollte nachts schlafen und durfte nicht auf Toilette. Ich weiß, dass ich zumindest einmal versucht habe, auf Toilette zu kommen. Und dabei wurde ich erwischt und musste dann in dem Flur vor dem Schlafsaal stehen", erinnert sie sich.
"Die ganze Nacht über. Ich weiß, dass ich mich in die Hose gemacht habe. Dass ich also nassen Schlafanzug anhatte. Ich stand barfuß. Ich musste zur Wand gucken und durfte mich auch nicht festhalten."
Ein Grund für Demütigungen fand sich offenbar immer. "Auch ausgehend vom Speisesaal musste ich auf Toilette. Und ich durfte dann auch auf Toilette. Aber die Toilettentür blieb auf und die anderen Kinder standen davor und sollten mich ausschimpfen, weil ich während der Essenszeit auf Toilette gegangen bin."
Nicht Trost, sondern Härte ist denn auch die Haltung Kleinschmidts gegenüber Kindern. Seine Empfehlung: "Die Strafe richtet sich nicht so sehr nach der Straftat, sondern vielmehr nach der Psyche und dem Charakter des Kindes."

Bloßstellen als Erziehungsprinzip

Kleinschmidt erklärt das Bloßstellen in vielerlei Hinsicht zum Erziehungsprinzip. Die Gemeinschaft hält zusammen gegen den Störer.
"Bei notorischen Unruhestiftern… kann man ein sehr gutes Resultat erzielen, wenn man dem Betroffenen mitteilt, dass er nicht mehr bei seinen Kameraden schlafen kann und sich deshalb bei eine anderen Kindergruppe ein Bett suchen sollte", rät er. "Diese Angelegenheit muss aber vorher abgesprochen sein, damit das betroffene Kind überall abgewiesen wird, die Schwester ihm ein Bett in einem Zimmer anweist, wo es eine Nacht alleine schlafen muss."
Der Therapeut Arne Burchartz hat dafür nur eine Deutung. "Diese schwarze Pädagogik bedeutete ja letzten Endes, dass man Kinder diszipliniert und zurichtet. Die Kinder sollten funktionieren und ein eigenes individuelles und emotionales Erleben sollten sie ja gerade nicht entwickeln."
So führt man ein Gefängnis – aber kein Kindererholungsheim.

Schläge in der Badewanne

Auch Rose hat am eigenen Leib erfahren, wie man Kinder bricht. Am 18. Januar 1958 kommt die Zehnjährige als Kurkind nach Bad Dürrheim ins Kindersolbad. Rose kommt aus dem württembergischen Backnang und hat wenige Monate zuvor ihren Vater verloren.
Damit das Kind wieder zu Kräften kommt, soll es in Kur. Man hängt Rose ein Schild um den Hals. Darauf steht ihr Name. Wenig später sitzt sie im Zug. Los geht die Fahrt. Das Grauen fängt wenig später im Kindersolbad an.
Mehr als 60 Jahre liegt das alles nun zurück. Rose ist 74 Jahre alt. Sie hat unzählige Marathonläufe und kräftezehrende Touren mit ihrem Rennrad absolviert. Beim Sport habe sie sich geschunden bis an die Grenze der Qual. Aber das sei der Unterschied zu früher: Jetzt habe sie die Kontrolle über ihren Körper.
Rose hat Kaffee gekocht und fängt an zu erzählen. "Wir mussten immer in so einer Solebadwanne liegen. Ob das jeden Tag war, weiß ich nicht mehr, und da musste man sich nackig reinlegen und dann durfte das Solewasser sich nicht bewegen. Wenn es sich bewegt hat, so ruhig kann man doch schier gar nicht liegen, hatte sie ein Handtuch und hat in das Handtuch einen Knoten gemacht, und hat immer mit dem Knoten auf den Kopf geschlagen. Das war schrecklich und hat Angst gemacht, einfach Angst gemacht."
Rose soll durch die Kur etwas mehr Fleisch auf die Rippen bekommen. Aber wie so viele bekommt sie nicht runter, was man ihr beim Essen vorsetzt.
"Das weiß ich noch: Die Dickeren haben immer Äpfel bekommen, da war ich ganz neidisch und ich musste ein Brot essen, mit so ganz dünner Butter oder Margarine. Ich konnte das nicht schlucken, weil es mir so im Hals stecken blieb. Ich weiß noch, dass ich viel geweint habe aus Angst. Und dann konnte ich das Brot nicht schlucken. Dann habe ich das Brot genommen und bin aufs Klo und habe das Brot ins Klo geworfen", erzählt sie.
"Es war weg. Dann war ich erst einmal glücklich und habe mich wieder hingesetzt und irgendwann kommt diese Tante Inge mit diesem Brot in Klopapier gewickelt. Ich musste aufstehen und dieses Brot vor allen Kindern essen. Das war so erniedrigend. Und das Schlimme war nicht das Brotessen, sondern wie die Kinder alle gelacht haben. Mich so ausgelacht haben. Das war furchtbar."

Furchtbare Erfahrungen sexuellen Missbrauchs

Doch es soll noch viel schlimmer für Rose kommen. Wer sie damals untersucht, kann sie nach über 60 Jahren nicht mehr sagen. Zu einschüchternd ist die Situation. Erklärt wird ihr nichts.
Rose erinnert sich sehr genau: "Dass, wenn wir beim Arzt waren, dass wir uns nackt vor ihn stellen mussten. Dann hat er auch die Brust so abgefühlt und da waren schon ein bisschen Knospen da. Das war für mich schon böse. Dann musste ich mich hinlegen. Dann hat er in den Hintern geguckt, mit einer Taschenlampe, und auch in die Scheide. Das war mir so genierlich und ich habe gedacht, was soll der da sehen. Ich habe einmal gedacht, habe ich vielleicht in die Hose gemacht. Das habe ich vermutet, das war schlimm, das war böse."
Welchen Grund gibt es für einen Kinderarzt ein Kind, das an Gewicht zunehmen soll, gynäkologisch zu untersuchen? Rose berichtet von weiteren, furchtbaren Erfahrungen sexuellen Missbrauchs. Zum Beispiel vom exzessiven Fiebermessen. Diesmal durch eine Schwester.
"Da mussten wir uns aufs Bett legen, das Gesicht in die Hände, der Hintern hoch. Dann wurde, was mich so erstaunt hat, weil Fiebermessen tut man im Po: Das haben die in der Scheide gemacht. Da wurde immer so rumgerührt und rumgedreht", erzählt Rose.
"Und ich weiß, dass ich da immer Angst gehabt habe, denn das hat geblutet. Es hat gebrannt und auch geeitert, glaube ich." Angesicht dieser Missbrauchserfahrungen bekommt auch die gängige Zensur der Kinderpost eine zusätzliche Bedeutung.

Briefe nach Hause werden zensiert

"Was auch schlimm war: Man hat jede Woche eine Karte oder einen Brief schreiben müssen. Nach Hause. Da war eine Tafel. Genau das hat man abschreiben müssen. Nichts anderes – und dann durfte man es nicht zukleben, es wurde alles noch einmal kontrolliert", erzählt Rose.
Elternbesuche sind während der Kur verboten. Das gefährde den Kurerfolg, so die Behauptung der Ärzte. Bei Nichtbeachtung droht den Eltern, die gesamten Kurkosten zu tragen. So steht es in den Merkblättern, wie sie die unterschiedlichen Kurträger an Eltern damals verschicken. Das und der Glauben an die Autoritäten in Weiß schützt die Ärzte und liefert die Kinder einem System aus, das sich ihrer bemächtigt.
Und so finden Ärzte wie Hans Kleinschmidt in der Abgeschiedenheit ideale Bedingungen vor - auch für ihre Medikamentenversuche. In einem Aufsatz über die Wirkung eines antiviralen Mittels zur Prophylaxe und Therapie bei Masern und Varizellen, den Kleinschmidt 1961 in der Medizinischen Wochenzeitschrift veröffentlicht hat, finde ich folgende Passage.

Medikamentenversuche an den Kindern

Sie belegt, was als Verdacht immer im Raum stand: Kleinschmidt hat an Kindern, die ihm anvertraut wurden, Medikamente ausprobiert.
"Unsere Kurpatienten bleiben sechs Wochen in der Heilstätte, reisen gemeinsam an und ab. Die Stationen werden also am Ende der Kur vollständig geleert. Dadurch sind die Versuchsbedingungen ideal, da zwischenzeitlich keine neuen Infektionen eingeschleppt werden und die Kinder von Anfang bis Ende genau beobachtet werden können", schreibt Kleinschmidt.
142 Kleinkinder werden so unfreiwillig zu Probanden Kleinschmidts. Ohne Einwilligung der Eltern ist Kleinschmidts Tun strafrechtlich als Körperverletzung einzuordnen. Doch es passiert nichts.
Irgendwann vor vielen Jahren hatte Rose die Idee, das Rote Kreuz für das Erlebte anzeigen zu müssen. Aber es blieb bei der Idee, da ihr Umfeld fragte, was können denn die Leute von heute dafür. Und wie so viele Betroffene denkt Rose lange, sie sei die Einzige, die das Geschehen mit einem Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein erlebt hat.

Schleppende Aufklärung durch das Rote Kreuz

Beim Landesverband Baden des Deutschen Roten Kreuz kommt die Aufklärung nach Bekanntwerden der Medikamentenversuche nur schleppend voran. Durch meine Berichterstattung in der "Stuttgarter Zeitung" im Januar 2021 weiß man dort von Kleinschmidts Vorgehen.
In der Antwort auf meine schriftliche Anfrage heißt es: "Derzeit können wir nur bestätigen, dass Hans Kleinschmidt im Kindersolbad Bad Dürrheim tätig war. Wir besitzen keine Personalakten mehr von Mitarbeitern, die im Kindersolbad Bad Dürrheim beschäftigt waren, da das Kindersolbad vor 17 Jahren geschlossen wurde. Unterlagen zu Medikamentenversuchen sind keine vorhanden. Es laufen aber Recherchen zu Publikationen über medizinische Studien an Kindern, die aus jener Zeit stammen könnten. Alle Unterlagen, die wir hier im Haus noch finden konnten und in irgendeiner Weise zu dem Kindersolbad Bad Dürrheim oder anderen Kinderkurhäusern Bezug haben, die in der Vergangenheit zum Badischen Roten Kreuz gehörten, werden von einem Historiker gesichtet. Dieser Prozess läuft derzeit noch. Des Weiteren sind wir in engem Austausch mit dem DRK-Bundesverband, der die historische Aufarbeitung zentral koordinieren wird."

Politik entschuldigt sich bei Betroffenen

Die Politik oder zumindest einzelne Vertreter, geht mit dem Thema viel offensiver um. Im Frühjahr 2020 rief der baden-württembergische Sozialminister Manfred Lucha von Bündnis 90/Die Grünen einen runden Tisch ein. Damit Vertreter der ehemaligen Akteure des Kinderkurbetriebs und ehemalige Verschickungskinder ins Gespräch kommen. Auch in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen werden ähnliche Diskussionsrunden einberufen.
Im Mai 2020 hat die Konferenz der Landesfamilien- und Sozialminister*innen eine Entschuldigung an die Betroffenen ausgesprochen. Und ihr Leid anerkannt. Das avisierte Forschungsprojekt steht allerdings noch immer in weiter Ferne.
Baden-Württemberg ist das bislang einzige Bundesland, das 30.000 Euro bereitgestellt hat für den Aufbau einer Koordinierungsstelle des Vereins "Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg", der sich im Oktober 2020 gegründet hat. Andrea Weyrauch, Initiatorin und Vorstandsvorsitzende des Vereins und selber Betroffene, hat klare Vorstellungen davon, wie es weitergehen soll.

"Wir brauchen Partner an unserer Seite"

"Momentan ist es so: Auf der einen Seite haben wir Betroffene sehr viel Kraft und Energie aufgewandt bis hierhin, im Eigenstudium Recherchen zu betreiben, in Archive zu gehen, Akten zu wälzen. Das kostet sehr viel Kraft und sehr viel Zeit. Und das geschieht alles ehrenamtlich. Wir haben uns jetzt einen sehr guten Überblick verschafft. Und auf der anderen Seite brauchen wir, um dieses Kapitel wirklich vollständig aufzuarbeiten, die Zusammenarbeit mit den Trägern und sonstigen Organisationen, die in diesem Thema aktiv waren", fordert sie.
"Wir brauchen Partner an unserer Seite, die voll zu ihrer Verantwortung stehen und das Thema Aufarbeitung nicht nur verbal, sondern auch wirklich tatkräftig anpacken und uns unterstützen. Das ist aber nur die Sachebene. Die andere, um die es uns auch geht, ist die Begegnungsebene und der Versöhnungsweg, den wir noch gar nicht angefangen haben, zu gehen. Dazu braucht es Träger und Menschen in heutiger Funktion, die auch mal das Wort Entschuldigung ernsthaft in den Mund nehmen."
Für den Sozialminister Manfred Lucha gilt bei der Aufarbeitung: "Eins ist wichtig. Dass allen klar wird, was war die Motivlage. Warum wurde es gemacht. Warum wurde es falsch gemacht. Dass auch welche kommen, die heute in der Nachfolge der Organisation sind, sich auch mal anständig und glaubwürdig entschuldigen, und auch sagen: Mit unserem Wissen heute, das hätten wir nicht zulassen dürfen."

Anerkennung hilft bei der Traumabearbeitung

Eine Anerkennung des zugefügten Leids hält auch Arne Burchartz für einen Markstein in der Bearbeitung des Traumas bei den Betroffenen.
"Natürlich ist es wichtig, dass auch Vertreter dieser Organisationen das Leid anerkennen, nicht anfangen sich zu rechtfertigen und sagen, das war eine andere Zeit. Sondern dass sie einfach schlicht und einfach sagen können, wir erkennen an: Euch ist Unrecht geschehen. Wir können jetzt die damals Schuldigen nicht mehr zur Verantwortlichen ziehen, aber wir als Nachfolger übernehmen jetzt die Verantwortung dafür. Das ist natürlich für die Betroffenen enorm wichtig", erklärt der Psychotherapeut.
"Das ist doch genauso wichtig für die Träger – nicht nur für die Opfer,in ihre eigene Geschichte zu schauen, wo ist denn da etwas schiefgegangen. Wo sind wir den falschen Ideen angehangen. Wo sind wir den falschen Vorstellungen angehangen. Was müssen wir revidieren, dass wir Menschen, denen wir doch eigentlich helfen wollen, nicht Schaden zufügen."
Einer, der mit seinen 35 Jahren keine direkte Verantwortung trägt, sitzt mitten im Epizentrum des Geschehens. Im Rathaus von Bad Dürrheim. Seit 2019 ist Jonathan Berggötz Bürgermeister. Er hat hier seine Kindheit und Jugend verbracht, ist in einem Pfarrhaus aufgewachsen. Die Zeiten, als Bürgermeister gleichzeitig auch verantwortliche Kurdirektoren waren, sind schon lange vorbei.
Doch als er von den Medikamentenversuchen im DRK-Heim und von den Berichten der ehemaligen Verschickungskinder hört, in denen Bad Dürrheim eine wichtige Rolle spielt, schickt er eine Mail an Andrea Weyrauch vom Verein Aufarbeitung Kinderverschickung, mit der Bitte um ein Gespräch.
Doch er bleibt eine Ausnahme und ist ein Beispiel dafür, wie eine produktive Aufarbeitung des Vergangenen aussehen könnte. Er habe begriffen, wie dramatisch und schlimm die Situation für die Kinder war, sagt er.

Ein Bürgermeister zeigt Empathie

"Weil ich wahrgenommen habe, dass für viele Leute Bad Dürrheim tatsächlich negativ behaftet ist und ich das nicht verstehen kann, weil die Stadt vieles zu bieten hat und ich schon auch mit den Leuten tatsächlich im Gespräch sein möchte: Zum einen mich auch bei den Leuten entschuldigen, was sie auf Bad Dürrheimer Gemarkung erleben mussten. Aber denen auch deutlich zeigen, dass Bad Dürrheim mehr ist als das, was Sie erfahren haben", sagt Jonathan Berggötz.
"Aber ich glaube auch tatsächlich, dass sie die Traumata, die sie ja teilweise haben, auch einfach aufarbeiten müssen. Ich glaube, das ist das ganz Entscheidende, dass man die Möglichkeit gibt, wieder in diese Stadt zu gehen. Sich mit dem auseinanderzusetzen, was schwierig war und auch zu verstehen, dass es heute eben ganz anders ist."
Auf solche Worte der Entschuldigung warten die Betroffenen anderorts noch vergeblich.
Jonathan Berggötz schaut dagegen schon in die Zukunft. "Meine Hoffnung, mein Wunsch ist dass die Leute, die schlechte Erfahrung an Bad Dürrheim haben, dass die hierherkommen, dass die miteinander im Austausch sind, über das, was da gelaufen ist: Dass man sich vielleicht auch die Orte anschaut und mit der Trauer und dem Schmerz Abschied nehmen kann, beziehungsweise den nächsten Schritt gehen kann."
Was hält andere Träger von einem solch in die Zukunft gewandten Tun ab, frage ich mich? Was haben sie zu verlieren? Warum fällt es ihnen so schwer, Leid anzuerkennen? Ohne Rechtfertigungen, die Zeit sei so gewesen. Warum bleiben viele Archive der Träger für die Betroffenen verschlossen?

Juristische Anerkennung der Langzeitfolgen

Die Angst vor einem Imageschaden scheint übermächtig zu sein. Aber ist nicht mangelnder Aufklärungswille der viel größere Imageschaden für eine solche Institution? Vielleicht ist ja die Justiz da schon einen Schritt weiter. Das Sozialgericht Heilbronn hat jüngst einen Vergleich herbeigeführt, in dem es für die Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit die traumatischen Verschickungserlebnisse des Klägers mit einfließen ließ.
Rose und anderen Betroffenen macht diese juristische Anerkennung ihrer Qualen Mut. Aber genauso viel Mut macht der 74 Jahre alten Frau auch die Idee des Bad Dürrheimer Bürgermeisters.
"Diesen Mann muss ich jetzt umarmen. Dass man so Empathie entgegenkriegt, in der Zeit hat er noch nicht einmal gelebt. Das berührt mich jetzt so, dass ich denke: Das war jetzt doch nicht alles so umsonst. Dass es doch noch Leute gibt, die das interessiert", sagt Rose.

Literaturhinweis
Hilke Lorenz: "Die Akte Verschickungskinder - Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden"

Beltz Verlag, Weinheim 2021
304 Seiten, 22 Euro

Mehr zum Thema