Verrohung der Gesellschaft

Wachsender Narzissmus, sinkende Hemmschwelle

09:10 Minuten
Einsatzkräfte gehen mit Plakaten und Verdi-Fahnen durch die Innenstadt.
Rettungskräfte demonstrierten in Frankfurt/M. im vergangenen Jahr für mehr Respekt und gegen Gewalt bei ihren Einsätzen. © dpa / Andreas Arnold
Dieter Frey im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.03.2019
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Ob Hassparolen im Internet oder Gewalt gegen Helfer: Der Psychologe Dieter Frey beobachtet in Deutschland eine zunehmende Verrohung. Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft müssten gleichermaßen dagegen vorgehen. Das Ziel: eine "Respekt-Kultur".
Dieter Kassel: Wie äußert sich zunehmende Verrohung in Deutschland, wo kommt sie her, und wie kann man ihr begegnen? Um nichts weniger geht es heute auf einer Tagung der CSU-nahen Hans-Seidel-Stiftung in München. Unter anderem den Impulsvortrag dort hält Dieter Frey. Er ist Psychologe, Sach- und Fachbuchautor und leitet das Center for Leadership and People Management an der Universität München. Schönen guten Morgen, Herr Frey!
Dieter Frey: Guten Morgen!
Kassel: Schon die erste dieser drei Grundfragen, die ich gerade erwähnt habe, ist ja gar nicht so leicht zu beantworten, denn guckt man in die Kriminalstatistik, dann liest man dort, dass fast überall in Deutschland ein Rückgang von Gewaltstraftaten zu verzeichnen ist. Wieso sind auch Sie sich sicher, dass es trotzdem eine Verrohung gibt bei uns?
Frey: Jeder, glaube ich, erlebt dieses ja täglich, dass die Hemmschwelle sinkt, dass die Leute pöbeln, manchmal zuschlagen, handgreiflich werden, mit Hassparolen um sich schlagen, insbesondere gegenüber Personen staatlicher Institutionen, gegenüber der Feuerwehr, Rote-Kreuz-Helfern, gegen Polizisten, und auch Kontrolleure bei der Deutschen Bahn sehen das auch, das Verhalten gegenüber Minoritäten, wie insbesondere Juden.
Man hat klare Zahlen zumindest, nicht nur in Bayern, sondern in anderen Bundesländern, dass die Straftaten gegenüber Juden mit antisemitischen Äußerungen, Hassparolen zunehmen, in Bayern sogar um 50 Prozent.

Die Menschen suchen sich Sündenböcke

Kassel: Das ist eine ganze Reihe von Dingen, die, wie Sie zu Recht sagen, auch in den Statistiken stehen. Wenn man die anguckt, dann gibt es noch Erlebnisse, die man hat, die gefühlte Bereitschaft, finde ich zumindest, in Konfliktfällen relativ schnell aggressiv zu werden. Haben all diese Phänomene dieselbe Ursache?
Frey: Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass es nicht nur eine Ursache gibt, sondern multiple Ursachen. Ich zähle mal drei, vier auf: Einerseits, ich glaube, viele Menschen sind verunsichert, haben Sorgen, ich nenne es Kontrollverlust, wegen Veränderungen, die in der Welt passieren – Stichwort Globalisierung, Digitalisierung, aber auch die Migration, wo sich viele Leute bedroht fühlen, und dann suchen sie sich irgendwelche Sündenböcke bei zunehmenden Frustrationen.
Zum anderen natürlich das Internet. Wir wissen, dass die Sprache im Internet viel aggressiver ist, unpersönlicher ist als die Face-to-face-Interaktion.
Zum weiteren, glaube ich, ist es auch der Wertewandel, die Nachwirkungen des Wertewandels von den sogenannten Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu den Selbstverwirklichungswerten. Das missverstehen viele, dass sie sagen, ich möchte mich selbst verwirklichen, ich habe alle Freiheiten, dass sie das verwechseln mit Freizügigkeiten.
Und mit der ganzen Erziehung setzte sich durch: Verwirkliche dich selbst, setze dich durch! Da kommt auch sowas wie Narzissmus dazu, ein zunehmender Narzissmus, den ich in unserer Gesellschaft feststelle: Ich lasse mich nicht einschränken, jetzt komme ich, ich habe Vorrang.
Es ist, glaube ich, diese Mischung von Faktoren, die bewirkt, dass die Leute weniger bereit sind, in Belastungssituationen, in frustrierenden Situationen respektvoll zu bleiben, sondern sie rasten relativ schnell aus.
Kassel: Was ich daran interessant finde, ist, dass es ja – und Sie werden das vermutlich viel besser wissen als ich –, dass es ja Ergebnisse aus der Evolutionsforschung gibt, die uns erklären, dass die Neigung dazu, freundlich zu sein und mit anderen respektvoll umzugehen, eigentlich etwas ist, das aus Eigennutz entstanden ist, weil wir wissen, eigentlich kommen wir ja weiter, wenn wir kompromissbereit sind.
Warum scheinen so viele Leute offenbar die Erfahrung zu machen, nein, es ist anders, ich komme eher weiter, wenn ich brutal bin und wenn ich mich mit Aggression durchsetze?
Frey: Also, ich gehe jetzt nicht davon aus, dass sie rund um die Uhr so sind, aber die Hemmschwelle sinkt, bei Stress-Situationen zumindest, relativ schnell auszurasten. Sie fühlen sich dann bedroht, sie fühlen sich eingeschränkt, und sie vergessen dann bestimmte Standards, die sie vielleicht manchmal im Elternhaus gelernt haben.
Es ist oft auch eine Spontanreaktion verbunden mit mangelnder Impulskontrolle. Sie können sich dann in dem Moment nicht kontrollieren.

Die Komplexität der Welt erklären

Kassel: Was folgt denn jetzt daraus? Ich glaube, da müssen wir über die verschiedenen Ebenen, Politik, gesamtgesellschaftliche, wie man so schön sagt, und auch im Einzelfall reden. Was folgt denn aus all dem, was Sie sagen, was Reaktionen angeht, was – ich nehme jetzt das große Wort –, was Lösungsvorschläge angeht?
Frey: Ja, ich denke zum Beispiel auch wieder an vier, fünf Lösungsvorschläge. Multiple Ursachen – sage ich immer –, multiple Lösungen. Zunächst, glaube ich, ist einfach mal Politik gefragt. Dort, wo strafbare Handlungen bestehen, wo Hassparolen vorhanden sind, dass man da sofort und hart bestraft. Rechtsfreie Zonen in Deutschland darf es allemal nicht geben. Hier ist also die Politik gefragt.
Zum weiteren ist Politik und Wissenschaft gefragt, die Komplexität der Welt zu erklären. Wir müssen akzeptieren, dass Menschen Sorgen haben, Ängste haben, Kontrollverlust haben hinsichtlich der Zukunft aufgrund ganz heterogener Faktoren. Ich nenne Digitalisierung, Globalisierung, Migration.
Aber in der Aufklärung, die die Wissenschaft und Politik als Aufgabe hat, müssen wir diese Komplexität erklären. Wir müssen die komplexe Welt verständlich den Leuten transportieren, damit wir möglichst viele Multiplikatoren haben, die sagen, wir können jetzt nicht einen Sündenbock – die Ausländer, die Juden – herausgreifen.
Das ist ganz wichtig, dass der Staat sofort mit Härte zuschlägt, sofort die Aufklärung von Wissenschaft, und natürlich ist Widerstand der Zivilgesellschaft gefragt, und zwar nicht nur einige, sondern alle, das heißt, wir brauchen eine ganz neue Kultur in unserem Land, dass die Leute sagen, ich bin verantwortlich, dass wir eine Respektkultur haben und dass wir vernünftig und anständig miteinander umgehen.

Die Elite muss sich äußern

Kassel: Das würde ich auch gleich noch mal vertiefen, aber ich finde das interessant, was Sie gerade über – so habe ich Sie verstanden – Kommunikation zwischen Wissenschaft und Entscheidern und allen anderen gesagt haben. Ich meine, man könnte ja sagen, über Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel und ähnliches, was Sie meinen, wird fast täglich berichtet, durchaus auch in Boulevardmedien und nicht nur, sagen wir mal, in der oberen Schicht, aber diese Kommunikation, gerade auch zwischen Wissenschaft und dem Rest der Welt, funktioniert für Sie doch nicht so richtig gut?
Frey: Nein, also die funktioniert für mich nicht gut, insbesondere kommt sie nicht rüber in die Elternhäuser der Eltern, der Kindergärtnerinnen, der Lehrer, der Professoren. Das heißt, wenn wir jetzt davon ausgehen, wir wollen sowas wie einen Wertekompass haben, eine Werteampel, wo wir respektvoll miteinander umgehen, dann kann ich das nicht einfach verordnen, sondern ich muss es für die Leute erlebbar machen.
Die Wissenschaftler selbst, die Elite sozusagen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur muss sich da äußern und sagen, es geht nicht so, wie wir miteinander umgehen, wir müssen respektvoll sein, Toleranz zeigen, und das müssen die Leute in der Schule, in den Firmen erlebbar bekommen, dass man dieses zum Thema macht. Das wird nicht gut genug gemacht, das heißt, die didaktische Umsetzung auch in den Schulen ist nicht gut. Ich würde sogar sagen: extrem schlecht, weil die Lehrer auch nicht ausgebildet sind.
Kassel: Ganz kurz zum Schluss, Sie sind ja als Psychologe kein Mann der reinen Theorie, sondern auch ein Mann der Praxis. Was mache ich denn, wenn ich einem aggressiv auftretenden Menschen in der U-Bahn, auch nur an der Supermarktkasse begegne, wie überwinde ich meine eigene Angst und sage nicht einfach, solange der mich nicht anbrüllt, mache ich nichts?
Frey: Wir machen zum Beispiel in München seit Jahren Zivilcouragetrainings, wo die Leute im Rollenspiel lernen … Also wir simulieren die Situationen, mindestens muss er sagen, ich finde das nicht fair, ich finde das nicht okay, stell dir vor, man würde das dir gegenüber auch so machen. Wenn dann der gegenüber sagt, halt die Fresse, sonst kriegst du eine drauf, dann ist es wichtig, dass man dranbleibt und sagt, ich finde es trotzdem nicht okay, und zwar möglichst deeskalierend und möglichst nicht alleine, sondern dass man schaut, dass man Verbündete hat.
Aber ganz wichtig ist, rüberzubringen: Ich bin anderer Meinung, und ich finde das nicht fair, und dass das jeder macht und nicht sagt, also ich bin jetzt nicht betroffen, folglich muss ich auch nichts machen.
Kassel: Dieter Frey, Psychologe und Leiter des Center for Leadership and People Management an der Universität München über die Verrohung der Gesellschaft, und genau so, "Über die Verrohung der Gesellschaft" heißt heute eine Tagung in München, wo er auch den Impulsvortrag hält. Herr Frey, herzlichen Dank für das Gespräch!
Frey: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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