Antisemitismus in Bayern

Beten unter Polizeischutz

14:48 Minuten
Bar-Mitzwa-Gottesdienst in der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München. Zu sehen sind Gemeindemitglieder mit Kippa, weiter hinten der Rabbiner mit einem Jungen, der auf die Bar Mitzwa vorbereitet wird.
Bar-Mitzwa-Gottesdienst in der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München. © dpa / picture alliance / Andreas Gebert
Von Thies Marsen · 18.03.2019
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Polizisten bewachen den Shabbat-Gottesdienst in der Synagoge von Beth Shalom in München. Dieser Schutz ist leider bitter nötig. Die Hoffnung auf Normalität haben die Mitglieder der 13 jüdischen Gemeinden in Bayern aufgegeben.
Shabbat-Gottesdienst in der Synagoge von Beth Shalom in München. Rund 30 Gläubige sind gekommen, um zu beten und zu singen. Beth Shalom ist eine liberale jüdische Gemeinde: Hier beten Frauen und Männer gemeinsam, Besucher sind willkommen.
Als Nicht-Gemeinde-Mitglied am Gottesdienst teilzunehmen oder das Gotteshaus zu besichtigen, ist allerdings nicht so einfach. Die Adresse der Synagoge ist nicht öffentlich. Besucher müssen sich anmelden und vorab die Kopie eines Personalausweises einschicken. Bei Veranstaltungen steht vor der Synagoge immer ein Polizeiauto.
Drinnen müssen Besucher klingeln und warten, bis die bewaffneten Security sie durch die Panzerglastür in eine Sicherheitsschleuse vorlässt, wo Taschen und Ausweise kontrolliert werden – an der Wand ein Alarmknopf. Jüdisches Leben unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen. Rabbiner Tom Kučera hat sich daran gewöhnt:
"Wieso steht immer Polizeiwagen vor der Synagoge? Es ist gar nicht gut. Aber es ist auch ein Warnungssignal, ein Abschreckungssignal. Und ich bin tief davon überzeugt, dass es auch ein Signal in die Gesellschaft aussendet."
Ein durchaus zwiespältiges Signal: Ja, der Staat schützt seine jüdischen Mitbürger – er tut dies insbesondere in einer Stadt wie München, wo die NS-Bewegung einst groß wurde, wo Propagandaminister Goebbels im Alten Rathaus den Befehl zur Reichspogromnacht gab, die den Auftakt bildete für die physische Vernichtung der Juden Europas.
Polizisten vor jüdischen Einrichtungen signalisieren: Heute steht der deutsche Staat aufseiten der Jüdinnen und Juden. Aber es zeigt eben auch: Dieser Schutz ist immer noch bitter nötig. Vielleicht sogar mehr denn je.

"Der alltägliche Antisemitismus ist nie verschwunden"

Judenhass gehört eben nicht der Vergangenheit an, sagt Jan Mühlstein, Vorsitzender von Beth Shalom. Kurz vor Beginn des Gottesdienstes empfängt mich der pensionierte Wirtschaftsjournalist im Gemeindezentrum. Wir sitzen in der Synagoge, während sich draußen im Vorraum bereits die Gläubigen versammeln.
"Der alltägliche Antisemitismus ist nie verschwunden. Sie werden fast keine jüdische Familie finden, die nicht irgendwann mal solche Erfahrungen gemacht hat, im beruflichen Umfeld, im weiteren Bekanntenkreis, Situationen, wo dann plötzlich Äußerungen kommen, die man nicht erwartet hat und die dann verletzend sind. Oder noch schlimmer: In der Schule, wenn dann Kinder ausgegrenzt werden durch antisemitische Äußerungen."
Der Vorsitzende der Union der progressiver Juden in Deutschland, Jan Mühlstein, im Centrum Judaicum in Berlin.
Der Vorsitzende der Union der progressiver Juden in Deutschland, Jan Mühlstein© dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm
Studien ergeben regelmäßig: Antisemitische Vorurteile werden von rund 20 Prozent der Deutschen geteilt. Sie wollen nicht neben Juden wohnen, glauben, dass alle Juden reich sind, dass sie zu viel Einfluss haben, dass sie den Holocaust für ihre Interessen missbrauchen oder gar, dass sie die Welt beherrschen.
Wozu solche Vorurteile führen können, ist Jüdinnen und Juden immer gegenwärtig – auch in der Synagoge von Beth Shalom: In dem weißen Bücherregal, das eine komplette Wand des Gemeindesaales einnimmt, stehen zahlreiche Werke zur Shoah – Fachliteratur, Erfahrungsberichte, Biografien. Rechts neben dem Thora-Schrank hängt an der Wand die Jiskor-Tafel in Gedenken an die Verstorbenen und Ermordeten.

Keine No-Go-Areas in München

Nach dem Shabbat-Gottesdienst wird gemeinsam gegessen, bevor man sich wieder auf den Heimweg macht – vorbei am Polizeiwagen draußen vor der Tür. Der mag zwar auch ein Symbol der steten Bedrohung sein, Jan Mühlstein fühlt sich dennoch relativ sicher.
"Die Wahrscheinlichkeit, dass man körperlich angegriffen wird, ist in München sehr gering. Wir haben nicht solche No-Go-Area wie es sie in Berlin oder NRW in manchen Städten gibt. Aber Vandalismus, Schmierereien und verbale Übergriffe, das war immer und wird auch von uns verstärkt wahrgenommen. Und wo es ganz deutlich zugenommen hat, das ist im Internet."
Und der Hass kommt nicht nur von Neonazis, sagt Jan Mühlstein, sondern auch von Links oder aus der bürgerlichen Mitte:
"Und es gibt einen Antisemitismus von Muslimen, der auch getriggert wird von dem Nahostkonflikt und, wenn er unter jungen Türken oder Arabern auftritt, dann der körperlich aggressivste ist. Also fast alle körperlichen Übergriffe, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, das waren Jugendliche aus diesem Milieu."
Und auch wenn sich diese Angriffe auf Rabbiner oder Menschen mit Kippa bislang allesamt außerhalb des Freistaates ereigneten, so fühlen sich doch auch die Juden in Bayern davon bedroht, sagt Eva Ehrlich. Die ältere Dame mit dem charmanten tschechischen Akzent engagiert sich seit Jahren in Beth Shalom, ist im Vorstand, führt Besuchergruppen durch die Synagoge.
"Ich habe viele Freunde, die echt auf gepackten Koffern sitzen. Und sagen: Wenn es schlimm ist, gehen wir alle nach Israel."
Reporter: "Können Sie das nachvollziehen?"
"Nein, ich kann es nicht nachvollziehen. Man kann es nicht vergleichen mit 1933 oder 38. Ich kann es nicht nachvollziehen, ich fühle mich hier sicher."
Wie sicher leben Juden in Bayern? Wenn man den Polizeistatistiken der vergangenen Jahre glaubt: ziemlich sicher. Trotzdem hat der Freistaat seit einiger Zeit einen eigenen Antisemitismus-Beauftragten und auch die Justiz hat im vergangenen Sommer Antisemitismus-Beauftragte an den drei Generalstaatsanwaltschaften in Bamberg, Nürnberg und München installiert.

Klare Botschaft an potenzielle Straftäter

In München hat diesen Posten Oberstaatsanwalt Andreas Franck inne, ein schlanker Endvierziger. Wir treffen uns im fünften Stock eines modernen Bürogebäudes in der Münchner Innenstadt:
"Wir wollten ein klares Zeichen setzen, eine klare Botschaft senden, zum einen an potenzielle antisemitische Straftäter, dass das nicht geduldet wird. Und das andere Signal ging in Richtung der Juden und Jüdinnen in Bayern: Die Justiz steht fest an eurer Seite und ihr könnt euch zu hundert Prozent auf uns verlassen."
Zugleich ist der Posten eines Antisemitismus-Beauftragten aber auch ein Signal nach innen, an die Justiz, betont Andreas Franck:
"Damit tatsächlich in jeder bayerischen Staatsanwaltschaft jeder dafür sensibilisiert ist. Wir haben uns bayernweit als Staatsanwaltschaften auf die Fahne geschrieben, dass es bei antisemitischen Straftätern grundsätzlich keine Opportunitätseinstellungen gibt wegen Geringfügigkeit oder geringer Schuld."
Bayernweit zählte die Polizei zuletzt etwa 150 antisemitische Straftaten pro Jahr. Im Bereich der Generalstaatsanwaltschaft München hat sich die Zahl seit 2015 mehr als verdoppelt: von 24 auf 51 im Jahr 2017. Wobei unklar bleibt, ob es tatsächlich mehr Taten gibt oder ob inzwischen mehr angezeigt werden.
"Ganz, ganz überwiegend handelt es sich um Äußerungsdelikte im Bereich von Beleidigung, Volksverhetzung, Holocaustleugnung. Wir hatten 2017 eine antisemitische Gewalttat: In einem Mieter-Vermieter-Verhältnis packte der eine den anderen am Kragen und schüttelte, aber Gott sei dank bewegen wir uns nicht im Bereich von gravierenden dramatischen Gewalttaten."

Bayern – keine Insel der Seligen

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt allerdings, dass Bayern keinesfalls eine Insel der Seligen ist: 1980 erschoss ein Mitglied der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg Shlomo Levin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. Und 2003 planten Neonazis ein Bombenattentat auf die Grundsteinlegung für das neue jüdische Gemeindezentrum in München.
Dazu kommen regelmäßige Schändungen jüdischer Friedhöfe, die Zerstörungen von Gedenktafeln, das Beschmieren von Stolpersteinen, Beleidigungen, Volksverhetzungen – aber auch ein Bereich des Antisemitismus, bei dem die Justiz machtlos ist, muss Oberstaatsanwalt Francke zugeben:
"Das sind so Stereotype, so Klischees. Wenn man etwa damals gesprochen hat von der Wallstreet, von der Juden-Kapital-Elite der Ostküste – jetzt spricht jemand allein von der 'Ostküste'. Jeder weiß zwar, was gemeint ist, aber es ist schon schwierig, jetzt zu sagen, jemand hätte vorsätzlich jetzt eine Volksverhetzung begehen wollen. Wir versuchen, hier beherzt einzuschreiten, aber tatsächlich, wenn Sie bedenken, dass wir in einem liberalen Rechtsstaat leben, in dem auch Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist – tatsächlich sind uns an der ein oder anderen Stelle schlichtweg die Hände gebunden."
Rund 17.500 Mitglieder zählen die 13 jüdischen Gemeinden in Bayern – das sind nicht einmal anderthalb Promille der Gesamtbevölkerung. Warum kann eine so kleine Bevölkerungsgruppe nicht einfach unbehelligt vor sich hin leben, warum wird sie regelmäßig mit Hass überzogen – seit Jahrtausenden?
Zurück nach München. Auch Tom Kučera sucht nach Antworten. Der Rabbiner der liberalen Gemeinde Beth Shalom empfängt in seinem kleinen Büro im Gemeindezentrum – es ist ein normaler Wochentag, heute steht kein Streifenwagen vor der Tür.
"Es ist in den Menschen verankert und keiner hat eine Idee warum. Und ich wünschte, dass man das beeinflussen könnte. Aber leider ist Antisemitismus einer der Beweise, der traurigen Beweise, dass wir auch die zyklische Zeit erfahren. Das bedeutet, dass die Menschen sich nicht belehren ließen in der Vergangenheit, um davon in der Zukunft etwas Besseres zu machen und ich befürchte, dass wir in der Zeit leben, wo diese Schleife der zyklischen Zeit uns auf eine unangenehme Weise wieder erreicht."
Rabbiner Tom Kucera von der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München steht vor einem Toraschrein, in dem die Torarollen aufbewahrt werden.
Rabbiner Tom Kučera von der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München steht vor einem Toraschrein. © dpa / picture alliance / Sven Hoppe
Dabei ist Tom Kučera eigentlich ein Symbol für gesellschaftlichen Fortschritt. Der freundliche Mann mit dem aufmerksamen Blick gehört zur ersten Generation von Rabbinern, die in Deutschland nach der Shoah ordiniert wurden – 2006 in Dresden. Kurz danach kam der gebürtige Tscheche nach München. Hier fühlt er sich wohl und sicher, doch dass jüngst in Deutschland Rabbiner auf offener Straße attackiert wurden, hat auch ihn getroffen.
"Daniel Alter, der in Berlin angegriffen wurde, der wurde mit mir zum Rabbiner ordiniert, und ich war mit ihm im Kontakt, weiß ich, wie auch seine Tochter traumatisiert wurde und wie sie auch dann eine psychologische Beratung und Betreuung brauchte, um das loszuwerden."
Ein Mehrfamilienhaus irgendwo in München. Hier wohnt Eva Ehrlich, wir haben sie schon beim Shabbat-Gottesdienst kennengelernt. Vor Jahrzehnten floh sie vor dem Antisemitismus in der damaligen Tschechoslowakei nach Bayern.

Jüdisches Online-Magazin "Hagalil"

Ehrlich führt den Besucher in ein kleines Büro, vielleicht 15 Quadratmeter groß, die Wände voll mit Fachliteratur, ein Schreibtisch, ein Computer. Hier ist die Heimat von "Hagalil", dem größten jüdischen Online-Magazin in deutscher Sprache. Gegründet wurde Hagalil von Eva Ehrlich und ihrem verstorbenen Ehemann David Gall 1995. Heute wird Hagalil, das sich durch Spenden und Werbung finanziert, millionenfach geklickt.
Fast von Beginn an hat Hagalil auch einen besonderen Service angeboten: Ein Formular, um rechtsextreme, rassistische und antisemitische Internetseiten zu melden. Jede Meldung wird geprüft und gegebenenfalls Strafanzeige erstattet. Zeitweise gingen monatlich mehr als 200 Meldungen ein – und natürlich wurde auch Hagalil selbst Ziel von Hass und Hetze.
"Früher haben wir E-Mails gekriegt, mit Beschimpfungen und allem möglichen. Es gab auch viele Naziseiten mit Inhalten, die leider nicht in Deutschland gehostet waren. Inzwischen hat sich das so verändert, dass dieser ganze Hass und Antisemitismus in Facebook, auf Twitter, auf Instagram und in Blogs stattfindet. Und da ist natürlich die rechtliche Verfolgung ziemlich schwierig."
Eva Ehrlich, inzwischen im Rentenalter, arbeitet zwar immer noch aktiv mit bei Hagalil, das meiste aber macht inzwischen ihre Tochter Andrea Livnat.
"Die ist ja die Chefredakteurin, wir können Sie jetzt anrufen, die lebt in Tel Aviv, aber arbeitet an Hagalil. Es ist ja egal, wo das gemacht wird, Hauptsache, es wird gemacht."

Normalität gibt es nicht

Das größte deutschsprachige Online-Medium über das Judentum wird inzwischen maßgeblich von Israel aus betrieben. Dass Hagalil-Chefredakteurin Andrea Livnat ihre Heimatstadt München verlassen hat und nach Tel Aviv gezogen ist, war jedoch keine Flucht, betont sie.
"Das hat zunächst mal ganz persönliche Gründe, also ich hab hier promoviert und meinen Mann kennengelernt und mittlerweile haben wir drei Kinder und ich bin heilfroh, dass sie nicht in Deutschland aufwachsen.
Ich hab mich in München nicht bedroht gefühlt im Sinne von tätlichen Angriffen, aber es sind diese ständigen Nachfragen und man muss sich ständig rechtfertigen, erklären, man geht auf eine Party, irgendwie kommt das zur Sprache: Israel, ja was macht denn Israel, ach du bist Jüdin. Ach, du bist Jüdin!"
Einfach als Jude, als Jüdin leben können – ohne sich darüber groß Gedanken zu machen, ohne ständig in Habacht-Stellung zu sein. Das wäre Normalität. Doch die gibt es nicht.
"Ich habe auch keine Hoffnung auf Normalität. Es wär schön, wenn man einfach auch so leben könnte, dass die Leute mit Kippa auf die Straße gehen könnten, mit Davidstern, ohne irgendwie blöd angeredet zu werden. Das wäre die Normalität. Aber Sie haben das gesehen, Sie waren bei uns in der Synagoge: Wir beten unter Polizeischutz. Und unsere eigenen Sicherheitsleute sind bewaffnet und haben kugelsichere Westen an. Haben Sie schon mal eine Kirche gesehen, wo so was ist? Nein."
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