Veronika Moos: „Nachbarn"

Opfer und Täter Tür an Tür

07:02 Minuten
Cover des Buchs "Nachbarn" von Veronika Moos.
© Verlagshaus Römerweg

Veronika Moos

Nachbarn. Bahnhofstraße 44/46Waldemar Kramer Verlagshaus, Wiesbaden 2022

174 Seiten

20,00 Euro

Von Michael Opitz |
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Die jüdische Familie Strauss wird 1942 deportiert. Zuvor lebt sie Tür an Tür mit Familie Moos, überzeugten NS-Anhängern. Anhand von historischen Briefen erzählt Veronika Moos parallel die Geschichten beider Familien und macht Geschichte so erfahrbar.
Am 18. März 1940 findet Heinrich Moos für sich, seine Frau Hildegard, die drei gemeinsamen Kinder und seine Schwiegermutter eine 180 m2 große Sechszimmer-Wohnung in der Wiesbadener Bahnhofstraße 44. Doch das vollkommen scheinende Familienglück wehrt nicht lange, denn im Juni 1940 wird Moos nach Berlin abkommandiert. Einen Monat später erhält er seine Einberufung und kurze Zeit später wird er nach Frankreich versetzt.

Kriegsbegeisterte Nazi-Nachbarn

Für ihn ein Glück, denn endlich darf auch er, der seit 1932 Mitglied der NSDAP ist, gegen die „jüdische Bande“ kämpfen, wie er in einem Brief von der Front an seine Familie in der Heimat schreibt. Für seine Frau ist das Getrenntsein hart, dennoch ist sie stolz auf ihren Mann, der so etwas „Gewaltiges“ wie den Krieg erleben darf. Der letzte Brief von Heinrich Moos an die Seinen ist vom 22. Juli 1945 datiert.
Zu diesem Zeitpunkt sind Hedwig und Sebald Strauss, die jüdischen Nachbarn der Familie Moos, die in der Bahnhofstraße 46 wohnten, bereits seit mehr als zwei Jahren tot. Im September 1942 sind sie nach Theresienstadt deportiert und im selben Monat ermordet worden.
1919 hatte der erfolgreiche Weinhändler Sebald Strauss das Haus in der Bahnhofstraße 46 gekauft, in dem er seitdem zusammen mit seiner Frau Hedwig und seinen drei Kindern wohnte. Sein Sohn Alfred, der bis 1933 als Rechtsanwalt arbeitete, durfte wegen seiner „nichtarischen“ Abstammung nicht mehr seinen Beruf ausüben und emigrierte 1939 nach Bolivien.

Zwei Schicksale, parallel erzählt

Ebenso wie der Briefwechsel der Familie Moos hat sich auch die Korrespondenz zwischen Alfred und seinen Eltern erhalten. Veronika Moos, die Enkelin von Heinrich und Hildegard Moos, hat die Briefe beider Familien nun unter dem Titel „Nachbarn“ als Buch veröffentlicht, ergänzt durch Schilderungen des zeithistorischen Geschehens.
Das Schicksal beider Familien lässt sich parallel nachverfolgen, denn die Briefe der Familie Moos sind jeweils auf der linken, die der Familie Strauss auf der rechten Seite des Buches zu lesen. Diese unbedingt lesenswerte Briefsammlung vermittelt Einblicke in den deutschen Kriegsalltag und das Frontgeschehen im Westen. Darüber hinaus ist zu erfahren, wie es der in Deutschland verbliebenen jüdischen Bevölkerung ergangen ist.

Was wird mitgeteilt, was verschwiegen?

Obwohl die Parteigänger und die Opfer des NS-Systems in der Bahnhofstraße Wand an Wand wohnten, war die Deportation der jüdischen Nachbarn aus dem Haus Nummer 46 am 24. Mai, 11. Juni und am 1. September 1942 kein Thema für Hildegard Moos in den Briefen an ihren Mann. Auch wegen solcher „Fehlstellen“ sprechen die Briefe für sich. Aufschlussreich ist, was in ihnen mitgeteilt wird. Zugleich aber gilt es, auch zwischen den Zeilen zu lesen und zu hinterfragen, warum das Ehepaar Strauss dem Sohn nichts von den Fliegerangriffen und Bombardierungen auf Wiesbaden berichtet.
Durch den von Veronika Moos herausgegebenen Briefwechsel wird Geschichte erfahrbar. Die Autorin schreibt im Vorwort, dass sie bei der Arbeit an dem Buch ihre Großeltern neu kennengelernt hat: Ihnen war das Schicksal ihrer Nachbarn gleichgültig. Nebenan wohnte das „Judenpack“, das vertrieben gehörte.
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