Verletzung aller Regeln

Von Matthias Thiel |
Nein - eigentlich ist es ja nicht nur der Fall Norbert Röttgen, an dem sich die Geister scheiden. Skandal sollte genauso laut und vernehmlich bei den vielen anderen Abgeordneten gerufen werden, die schon lange und ganz selbstverständlich ihren zum Teil recht lukrativen Nebentätigkeiten nachgehen oder die eigentlich einen Hauptjob haben und nebenbei im Bundestag sitzen.
Reinhard Göhner zum Beispiel, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, nachweislich ein Fulltimejob: Wie will es der Diener zweier Herren glaubhaft machen, dass er ohne jeden Interessenskonflikt im Parlament agiert?

Oder die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die weiter als Rechtsanwälte arbeiten und gegen das neue Gesetz über die Offenlegung von Nebeneinkünften der Abgeordneten klagen. Besonders beliebt auch die Tätigkeiten als Mitglied eines Vorstandes, eines Aufsichts- oder Verwaltungsrates in den verschiedensten Gesellschaften und Unternehmen. Und die Gewerkschaften und Verbände, deren Funktionäre ganz selbstverständlich im Bundestag sitzen.

Nein, kein lauter Aufschrei der Entrüstung. Höchstens ist ein leises Wehklagen zu hören, ob denn solche Volksvertreter tatsächlich nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Sie dürfen nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sein - so verlangt es jedenfalls die Verfassung. Und, Stichwort Transparenz, die Wähler sollen wissen, welchem Job ihr Vertreter noch nachgeht, um dessen Unabhängigkeit abwägen zu können. Allerdings enthalten die vom Deutschen Bundestag beschlossenen Verhaltensregeln keinerlei allgemeine Berufsethik für ihre Abgeordnete.

So erfährt die Öffentlichkeit das Eine oder Andere über die Verbindungen, die der Mandatsträger hat. Ob und wie er nun mögliche andere Interessen vertritt, das bleibt jedoch offen, trotz klarer Vorschrift im Grundgesetz.

Wenn man dann noch die vielen Einflüsterer in der Hauptstadt dazu rechnet - rund 2000 Verbände stehen auf der offiziellen Lobbyliste des Bundestages, von den vielen nicht gemeldeten Firmenrepräsentanten und Politikberatern mal ganz abgesehen-– also wenn man diese tausenden Lobbyisten hinzuzählt, dann kann es tatsächlich nicht mehr weit her sein mit der Unabhängigkeit des Parlaments. Fast normal ist es ja im täglichen Betrieb inzwischen, dass Stellungnahmen und Vorlagen der Parteien und Fraktionen von den jeweiligen Interessenverbänden geschrieben werden.

Mit der Weigerung Norbert Röttgens, sein Mandat aufzugeben, wenn er zum BDI wechselt, also weiter im Bundestag bleiben zu wollen, wenn er Industrielobbyist wird, damit erleben wir nun allerdings eine neue Dimension. Der gewählte Abgeordnete, der nachträglich beim Industrieverband einsteigt, ohne dass es der Wähler zuvor wusste, verletzt nun endgültig alle Regeln. Nicht nur die verfassungsrechtlichen.

Das ist eine weitere Stufe auf der offenbar nach oben offenen Skandalskala. Moral, politische Hygiene - alles Fremdworte. Der Fall Röttgen überrascht nicht wirklich. Aber jetzt endlich muss Schluss sein mit der Verquickung beruflichem Engagement und unabhängigem Mandat.

Herr Röttgen, machen sie jetzt den Anfang und geben rechtzeitig ihren Sitz im Deutschen Bundestag zurück.
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