Forschungsprojekt Space2Ride

Wie Fahrradfahren sicherer werden kann

07:28 Minuten
Zahlreiche Radfahrer und Radfahrerinnen stauen sich in der Leipziger Innenstadt an einer Ampel.
Wie in so vielen anderen deutschen Großstädten ist auch in Leipzig die Fahrradinfrastruktur vielerorts noch verbesserungswürdig. © picture alliance/dpa/dpa-Zentral/Jan Woitas
Von Natalie Putsche · 16.08.2022
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Viele finden Radfahren in Städten gefährlich. Eine Studie der Uni Dresden soll nun feststellen, warum Menschen auf dem Rad und Autofahrer zu nah aneinandergeraten.
Eine große Kreuzung in Leipzig. Pkw, Busse, Straßenbahn, Fahrradfahrer und Fußgänger teilen sich den Raum. Es gibt einen Fahrradweg auf beiden Seiten der Hauptstraße, und auf jeder Straßenseite ein Stoppschild für Pkw und Busse zur Hauptstraße hin. Ich treffe Nessie, die täglich mit dem Rad zu ihrer Arbeit in einem Kindergarten fährt. Unter anderem muss sie auch hier entlang. Sie zeigt auf eine Stelle, wo gerade zwei Pkw von der Hauptstraße abbiegen.
"Da, wo die abbiegen, die dürfen auch nur rechts lang, teilt sich das ja noch bisschen auf in diese Busspur, und Radfahrer dürfen auch geradeaus fahren. Das ist immer schon das Erste, wo es brenzlig wird. Hier vorne an dem Punkt versuchen sie mich noch zu überholen, hier bei der ersten Einmündung.”
Die Leipzigerin Nessie hat einen gefährlichen Arbeitsweg. Der Eindruck entsteht, als sie mir erzählt, was sie regelmäßig erlebt, seitdem sie vom öffentlichen Nahverkehr, der ihr zu unzuverlässig war, aufs Fahrrad umgestiegen ist.
"Es gab mehrere Momente, wo ich einfach zu eng überholt wurde, wo mir die Vorfahrt genommen wurde.”
Sie sei oft mit dem Schrecken davongekommen.
“Und ein paar Monate später hat's dann auch wirklich geklappt, sag ich mal: Da hat mich nochmal jemand zu knapp überholt. Die Straßenbahnschienen liefen nicht parallel zur Fahrbahn, sondern das sind verwaiste Gleise, da fährt keine Straßenbahn mehr. Die nähern sich dem Bordstein an, das heißt, man muss als Radfahrer so ein X drüberfahren, und da überholte mich ein weißer Transporter. Ich geriet in die Schienen, bin gestürzt, und auch ein ganzes Stück weit geschlittert. Und wie ich so über den Boden schlitterte, ich konnte gar nicht so viel denken, außer: Jetzt sterbe ich.”
Sie hatte Glück. Der 29-Jährigen ist außer ein paar Schürfwunden nichts passiert. Seitdem versucht sie, sich besser zu schützen, sofern das überhaupt ginge, sagt sie. Jetzt habe sie reflektierende Streifen am Fahrradmantel, an jeder Speiche Reflektoren, reflektierende Streifen am Rahmen und einen Rückstrahler. Sogar am Fahrradkorb habe sie einen Großstrahlreflektor, erzählt sie.
“Und dazu hab ich eine neongelbe Jacke an. Da steht auf dem Rücken in reflektierenden Großbuchstaben: Abstand. Und dann habe ich natürlich noch einen silbernen Helm, mit reflektierenden Streifen natürlich. Und trotzdem kommt's auch jetzt immer noch zu superbrenzligen Situationen, zu superengen Überholabständen. Wenn das 1,40 Meter Überholabstand sind, oder 1,20 Meter, dann macht mir das noch nichts, aber wenn man mit 30 cm an mir vorbei ballert...”

Forschungsprojekt für mehr Sicherheit

Genau hier, wenn Autofahrer und Radfahrer sich gegenseitig auf die Pelle rücken, setzt das Forschungsprojekt „Space2Ride“ an. Nessie ist eine der Probandinnen. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur mit insgesamt 100.000 Euro.
„Im Prinzip ist es so, dass wir zum einen schon seit mehreren Jahren in der Wahrnehmung der Radfahrenden ein subjektives Sicherheitsdefizit erkennen können. Es wird häufig geäußert, dass zu nah überholt wird“, sagt Mobilitätswissenschaftler Sven Lißner von der Uni Dresden, der das Projekt betreut.
„Zum anderen ist es so, dass es im April 2020 die Novelle der StVO gab, in der der seitliche Überholabstand gegenüber Radfahrenden final festgeschrieben wurde, und zwar auf 1,50 Meter innerorts und 2 Meter außerorts. Und das war für uns so ein bisschen der Ansatzpunkt zu sagen: Okay, das sollten wir vielleicht mal kontrollieren, inwieweit das denn eingehalten wird.”

Radfahren mit Dashcam

Das Forschungsprojekt soll auch zeigen, welche städtebaulichen Faktoren und Verkehrsführungen eine Rolle bei kritischen Situationen spielen.
“Und im Endeffekt diese Information dann auch mit den Kommunen teilen. Im Projekt ist das dann die Kommune Leipzig, aber prinzipiell soll das natürlich auch eine bundesweite Übertragbarkeit erfahren können. Ein weiterer Akteur, der auch interessiert ist, ist die Verkehrspolizei“, sagt Sven Lißner.
Für „Space2Ride“ wurden Ende Mai 200 Radfahrerinnen und Radfahrer in Leipzig mit Messinstrumenten, sogenannten Dashcams, die wie Rücklichter aussehen, ausgestattet.
„Und zwar haben wir versucht, möglichst gleiche Geschlechterverhältnisse in unserer Stichprobe zu haben, und wir haben auch versucht, dass alle Altersgruppen auftreten – einfach um zu sehen, ob es unterschiedliche Personenmerkmale gibt, die gegebenenfalls näheres Überholen eher triggern oder das vielleicht verhindern.”
Die Dashcam zeichnet per Infrarot und Sensor automatisch Erschütterungen auf.
„Wir bekommen ausgelesen: die Route, die der Radfahrer, die Radfahrerin gefahren ist. Und wir bekommen die seitlichen Überholabstände, wenn diese stattfinden.“

Erste Erkenntnisse durch Vorstudie

Eine Kamerabeobachtung wird es nicht geben, um nicht mit dem Datenschutz in Konflikt zu kommen. Besonders kritische Szenen sollen die Probandinnen und Probanden aber selbst festhalten. Eine Vorstudie eines Studenten habe bereits gezeigt, dass bei ungefähr 40 Prozent der Überholvorgänge die vorgeschriebenen 1,50 Meter unterschritten werden.
„Neben der doch recht hohen Anzahl von nahen Überholvorgängen, ist es auch so, dass es auch noch mal ein bisschen differiert. Es ist beispielsweise so, wenn ein Schutzstreifen auf der Straße markiert ist, die Kfz tendenziell näher überholen. Das erklären wir uns zum einen durch die etwas geringere Straßenraumbreite, und zum anderen dadurch, dass sich ein gewisses Territorial- oder Revierverhalten einstellt.
Dass der Autofahrer denkt: Solange der Radfahrer auf diesem Schutzstreifen fährt und ich auf meinem Teil der Straße, muss ich den seitlichen Überholabstand gar nicht so einhalten, oder es ist ihm gar nicht bewusst, dass er das tut. Dann muss das ganze Konzept, wann lege ich einen Schutzstreifen an, natürlich noch mal überdacht werden“, erklärt Sven Lißner.

Mangelnde Kontrolle

Eine zusätzliche Erkenntnis vorab: Busse und Lkw überholen näher als Pkw, was sich laut Sven Lißner aus den Maßen der Fahrzeuge und dem zur Verfügung stehenden Straßenraum erklären lässt.
„Das sind bis jetzt die Daten aus den Vorstudien. Und momentan ist es so, dass sicherlich die meisten Leute diese Regel für sinnvoll erachten würden. Eine Strafe gibts auch, aber was die Hauptherausforderung ist, dass die Regel auch kontrolliert wird.”
Dafür ist die Verkehrspolizei offenbar noch nicht ausreichend ausgestattet und vorbereitet.
„Hier gibt es momentan sowohl technische Probleme als auch mangelnde personelle Kapazitäten, um eine Regeleinhaltung da flächendeckend durchzusetzen. Und so lange man nicht Gefahr läuft, tatsächlich kontrolliert zu werden und sanktioniert zu werden als Pkw-Fahrer, ist es nicht ganz so leicht, da große Verbesserungen zu erzielen.”
Das Projektende von „Space2Ride“ ist für den 30. August vorgesehen. Nessie erhofft sich von den Ergebnissen, dass in Zukunft mehr getan wird, um Radfahrer vor Autos zu schützen, die ihnen zu nahe kommen.
„Ich würde mir wünschen, dass die Polizei in Leipzig anfängt, Überholabstandskontrollen zu machen. Und da rede ich nicht von zehn am Tag. Ich würde mich schon über eine im Jahr freuen.”
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