"Verhalten der Parteien gefährdet Demokratie"

Wolfgang Nowak im Gespräch mit Michael Groth und Martin Steinhage · 05.03.2011
Nachdem im Fall Guttenberg "aus allen Glashäusern mit Steinen" geworfen worden sei, ginge es nun um Schadensbegrenzung, meint Wolfgang Nowak, einst Berater von Kanzler Schröder. Die Nüchternheit im Politikbetrieb erfülle den Wunsch der Bevölkerung nach Führung nicht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Nowak, in einem Zeitungsartikel über Sie hieß es: "Ein Grenzgänger war er schon immer." Ist das eine zutreffende Einschätzung?

Wolfgang Nowak: Selbst sieht man sich anders, als man in den Zeitungen gesehen wird, aber ich war immer an der Grenze zwischen verschiedenen Bereichen. Wie es Herr De Maizière mal gesagt hat, ich war immer zu viel und zu wenig von beiden Sachen, also, zu wenig A, zu wenig B. Das ist CDU-Länder und SPD-Länder. Insofern kann das stimmen.

Deutschlandradio Kultur: Im Folgenden, Herr Nowak, nur ein ganz unvollständiger Abriss Ihrer Erwerbsbiografie vor der jetzigen Tätigkeit für die Herrhausen-Gesellschaft. Nach dem Jurastudium über lange Jahre in der Bildungspolitik, ferner Medienunternehmer und Publizist, außerdem Staatssekretär in Sachsen und Kanzlerberater von Gerhard Schröder. Über Sie war auch mal zu lesen, Sie seien ein "quirliger Unruhegeist". Teilen Sie diese Einschätzung?

Wolfgang Nowak: Ich war eigentlich immer ein Störer. Das fing in der Schule schon an. Und ich war immer ein Störer und ich habe wahrscheinlich, weil ich mich nie an parteiinterne Denkverbote gehalten hatte, sondern eigentlich immer versucht habe, dagegen zu sein, habe ich sicherlich viel Unruhe gestiftet. Ich hab mich nie damit zufrieden gegeben, dann den Mund zu halten und nichts zu sagen, sondern ich habe tatsächlich Probleme aufgegriffen, benannt und kritisiert – unabhängig davon, ob sie der jeweiligen Partei, für die ich gearbeitet habe, gepasst haben oder nicht.

Deutschlandradio Kultur: Die politischen Ämter haben wir angesprochen. Aber sowohl als Staatssekretär in Sachsen als auch als Ministerialdirektor im Kanzleramt sind Sie am Ende unfreiwillig gegangen. Sie wurden gegangen. Wie ist das, wenn man nicht mehr gewollt wird, wenn man Einfluss und dann natürlich auch den direkten Draht zu den Mächtigen verliert?

Wolfgang Nowak: Also, getroffen hat es mich in Sachsen, weil es unerwartet kam. Ich hatte in Sachsen das Schulgesetz geschrieben und die ersten vier Jahre des Landes den Aufbau des Schulsystems geleitet. Das hat mich sehr stark getroffen, vor allen Dingen deshalb, weil Aufgabe und mein Leben eins geworden waren. Ich hatte hier zum ersten Mal in meinem Leben eine Aufgabe gefunden, von der ich überzeugt war, dass sie mich ganz gefordert hatte. Diese Aufgabe hat mir was gegeben, ein Land neu zu gestalten nach – wenn Sie so wollen – 40 Jahren Trockenstarre. Der Fall tut weh. Da triffst du einen auch. Da kann man auch nicht sagen, das macht mir nichts. Das ist sehr schwer, danach wiederzukommen.

Gestürzt bin ich … man hat mir nie eine Begründung gegeben, es war klar, ich war als SPD-Mann in einer CDU-Regierung, habe aber nicht SPD-Politik betrieben, vielleicht auch keine CDU-Politik, sondern meine eigene sächsische Politik. Es ist sehr schwer. Ich weiß auch nicht, ob man dann so leicht wieder hoch kann. Man sucht die Schuld erst bei anderen, nicht bei sich selbst. Es dauert sehr lange, bis man die Schuld bei sich selbst entdeckt. Und dann kann man es auch nicht fassen, dass keiner sich mehr für einen interessiert. Das war sehr schwer.

Ich habe danach Glück gehabt, mich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, indem ich ein Medieninstitut aus dem Nichts heraus gegründet und sozusagen dadurch mich befreit habe. Aber ich glaube, dass diese Augenblicke, der Tag nach dem Sturz, ein sehr gefährlicher und sehr schwieriger Tag war.

Beim zweiten Mal im Kanzleramt waren es echte politische Differenzen, die ich hatte. Da war mir klar, es konnte nur einer dann bleiben. Und da musste ich die Konsequenz ziehen, dass ich eine andere Politik für richtig hielt, die von Schröder-Blair damals formuliert war und die nach der Wahl nicht mehr gefragt war. Da fällt der Abgang leicht, weil man weiß, warum man geht. Aber wenn man in Sachsen aus heiterem Himmel erfährt: Auf einmal, jetzt bist du nicht mehr da, es wird auch kein Grund gegeben, es wird eigentlich so an einem vorbei geredet und hinterher werden dann die Reisekostenrechnungen durchsucht, um noch einen Grund zu finden, der dann nicht gefunden wurde. Das so in Sachsen, so aber auch im Kanzleramt dann wieder... Also, in Sachsen hat es mich existenziell fast getroffen.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben von Ihnen in der Vorbereitung einen Artikel gefunden mit dem schönen Titel "Erfolgreich scheitern". Wir unterstellen, Sie haben da versucht, das...

Wolfgang Nowak: Das ist meine Biografie, wenn Sie wollen, mein sächsisches … Ausdruck meiner sächsischen Erfahrungen.

Deutschlandradio Kultur: Ja. Und in diesem Artikel gab es auch den Satz: "Der Gescheiterte ist in Gefahr." Daraus anschließend die Frage: In welcher Gefahr schwebten Sie denn einst?

Wolfgang Nowak: In zwei Seiten ist er in Gefahr. In einer ist er in Gefahr, so richtig krank zu werden. Wenn Sie aus dem vollen Lauf herauskommen, sich voll für eine Sache engagieren, also mittendrin sind und dann abrupt abbremsen, dann reagiert der Körper praktisch mit einer heftigen Reaktion. Das ist die eine Gefahr.

Die andere Gefahr ist, dass man sich abkapselt, verbittert zurückzieht, nur noch zynisch in einer Ecke sitzt und nicht mehr die Kraft hat, eigentlich das richtige Leben zu finden, das außerhalb dieses Berufes stattfindet. Man ist in Gefahr wie Herr zu Guttenberg, um einen jetzt gerade prominenten Gescheiterten anzusprechen. Der ist in Gefahr in dem Augenblick. Diese abrupte Bremse, dieses Herausstürzen aus allen Schlagzeilen, die Aufgabe, die ihm genommen worden ist, der ist auch gesundheitlich in Gefahr.

Deutschlandradio Kultur: Auf zu Guttenberg kommen wir gleich noch, Herr Nowak. Aber ich will noch einen Augenblick bei dem anderen Punkt bleiben. Macht macht einsam. Und je höher man in der Hierarchie der Macht steht, desto einsamer ist man wahrscheinlich. Kann man eigentlich dort noch so etwas wie Freundschaften pflegen auf der Ebene der Politik?

Wolfgang Nowak: Es gibt in der Politik wenig Freundschaften. Man merkt das dann, wenn man stürzt, dass man plötzlich ganz wenige Leute hat. Das sind aber die wichtigen Menschen im Leben, die einem dann geblieben sind. Es gibt, glaube ich, keine Freundschaften in der Politik. Und das macht die Politik auch so unerfreulich.

Deutschlandradio Kultur: Wir waren schon beim Scheitern. Und Sie selbst haben das Stichwort Karl-Theodor zu Guttenberg genannt. Rasanter Aufstieg, steiler Absturz. Verspüren Sie an der Stelle Mitleid mit dem Freiherrn?

Wolfgang Nowak: Ja. Ich muss es Ihnen sagen. Wahrscheinlich ist es, in der heutigen Zeit traut sich keiner das zu sagen. Ich spüre Mitleid mit ihm. Das entschuldigt nicht sein törichtes Verhalten vor den Medien und auch sein Fehlverhalten mit der Doktorarbeit, aber natürlich spüre ich Mitleid, wenn man ihn sich so anschaut. Und aus sämtlichen Glashäusern dieser Republik – und die Universitäten sind mit allen ihren Problemen Glashäuser, die Parteien sind Glashäuser – wird mit Steinen nach ihm geworfen. Und jetzt beseitigt man Herrn Guttenberg, aber die Scherben, die man selbst im eigenen Vorgarten hat, die sieht keiner. Es fängt ein bisschen Nachdenklichkeit über den Promotionsbetrieb an den deutschen Hochschulen an, über das, was da Wissenschaft genannt wird. Aber wenn man aus so viel Glashäusern auf einen Mann wirft – und alle Parteien sind jetzt reingewaschen, jetzt ist der Böse weg –, dann empfinde ich Mitleid mit jemandem, der auch ein bisschen uneinsichtig ist und der lange Zeit brauchen wird, um zu erfahren, was mit ihm geschehen ist und was er selbst mit sich selbst gemacht hat.

Deutschlandradio Kultur: Taugt der Fall als Lehrstück für Aufstieg und Sturz eines Spitzenpolitikers – sowohl was die Fehler Guttenbergs angeht, aber auch was die Versuche seiner politischen Freunde angeht, ihn zuerst zu halten und schließlich auch der Umgang mit der Presse? Das ging ja bei Guttenberg ganz schnell von "Hosianna" bis "Kreuziget ihn".

Wolfgang Nowak: Aber das ist eigentlich immer schon so gewesen, dass ein Politiker aufsteigt und dann wird er interessant und dann kann man ihn erst richtig angreifen. Nein, ich glaube, das Lehrstück, für das Guttenberg herhalten muss, ist, dass die Zustimmung, die Guttenberg erfahren hat, und so kontrovers es klingt, so absurd das klingt, ist gleichzeitig ein Beispiel für die Parteienverdrossenheit und Politikerverdrossenheit in unserem Land.

Guttenberg und Obama, ich will sie nebeneinander stellen, haben eins gemeinsam – der eine etwas größer, der andere etwas kleiner. Sie sind auf der Welle der Politikverdrossenheit geritten und haben sich diese Welle sozusagen politisch genutzt. Obama kam nach Washington, um "Change" zu bringen. Er hat die Menschen enttäuscht. Er wurde dann genauso wie das, was er kritisiert hat. Und bei Guttenberg ist es ähnlich gewesen, dass er eine Demonstration gegeben hat, dass es anders sein könnte, dass jemand – ich zitiere jetzt Max Weber, man muss ja heute immer sehr sorgfältig zitieren – dass er nicht "von der Politik lebt, sondern für die Politik lebt".

Damit hat er eine Sehnsucht der Menschen nach einem Politiker, der anders ist, sehr stark erfüllt. Jetzt ist Guttenberg weg, aber die Sehnsucht ist geblieben. Und die Frage ist nur, wer füllt sie? Und das ist die Trauer … das andere Glashaus, von dem ich spreche. Keiner macht sich Gedanken darum, dass die Parteien nicht an dem schlechten Ansehen, an dem sie leiden, dass sie daran überhaupt nicht leiden. Und dass die Politiker in ihrer Schablonensprache, ihrem "bring mir mal ein Bier", oder wie eine Politikerin immer sagt, "warme Worte und kalte Taten", an diesem ganzen – entschuldigen Sie bitte – dummen Dauerrollen, Abrollen von Sprachfetzen, die nichts aussagen, dass sie daran festhalten und vergessen, dass die Sehnsucht und die Zustimmung eines Herrn Guttenberg gleichzeitig eine der massivsten Kritik an dem derzeitigen Parteiensystem sind, ohne dass Herr Guttenberg nun der strahlende Erlöser ist, aber die Leute wollten in ihm mehr sehen als er war. Sie haben auf ihn Erwartungen gerichtet, denen er nicht entsprechen konnte. Das macht seinen Sturz aus, macht aber seine politische Bedeutung aus.

Deutschlandradio Kultur: Sozusagen in einem größeren Zusammenhang wollen wir gleich noch mal das Stichwort Politik- und Politikerverdrossenheit aufnehmen. Zunächst einmal die platte Frage, aber ich glaube, es ist eine wichtige Frage: Politik und Ehrlichkeit, ist das ein Begriffspaar, was nach Ihrer Einschätzung zusammenpasst?

Wolfgang Nowak: Es sollte zusammenpassen, es passt nicht zusammen. Der Freiburger Theologe Eberhard Schockendorf hat in einem großen moraltheologischen Buch geschrieben, dass er die "Pflichtlüge" der Politiker ja von den Menschen als Lüge erkannt wird und dass die Menschen wissen, dass die Politik nicht die Wahrheit sagt, nur dass diese Lüge nicht verwerflich sei, weil sie ja niemanden täusche, sondern sie würde ja erwartet werden.

Sie können in der Politik nicht immer die Wahrhaftigkeit sagen oder den Leuten sagen, so wie es ist. Sie sollten es, aber es gibt Dinge, die man eben nicht aussprechen, nicht sagen kann in besonders kritischen Bereichen. Aber tatsächlich sollten wir zu einer Politik kommen, in der man mehr sagt, was ist, als das sagt, was die Partei von einem hören will.

Deutschlandradio Kultur: Nun ist Guttenberg weg. Das, was die Menschen in ihn projiziert haben, haben Sie beschrieben. Schauen wir uns mal das jetzt vorhandene Personal an. Fehlt es da an originellen Köpfen?

Wolfgang Nowak: Also, Nüchternheit kommt jetzt durch, De Maizière, der ein sehr sachlicher und sehr guter Mann ist. Wir haben eine Versachlichung, aber es ist keiner von denen da, denen die Leute nachstreben, nach denen sie sich sehnen. Und die Menschen sehnen sich nach Führung. Sie sehnen sich nach einer Figur, die anders ist. Sie sehnen sich nach jemandem, der nicht so ist wie alle Politiker, der vielleicht eben etwas bunter ist und zu dem man auch aufblicken kann. Insofern haben wir jetzt sehr viel Nüchternheit. Und sie sind alle wieder unter sich, sind alle zufrieden. Das Mittelmaß, das würde ich nicht so gemein sagen und sagen, das Mittelmaß regiert, das ist falsch, aber sie sind wieder unter sich. Aber sie stillen nicht, sie erfüllen nicht die Sehnsucht. Das macht sie im Grunde genommen so gefährlich.

Deutschlandradio Kultur: Sie beobachten ja den Politikbetrieb, wir haben das angesprochen, schon über Jahrzehnte. Erkennen Sie eine Tendenz, dass die tatsächlichen Spitzenkräfte, die Spitzenleute heute lieber gleich in die Wirtschaft gehen, da sie da mehr Einflussmöglichkeiten haben, vielleicht auch mehr Geld verdienen und vor allen Dingen schneller vorankommen als über die Ochsentour in den Parteien?

Wolfgang Nowak: Sicherlich, wenn Sie jemanden von der Politik abbringen wollen, habe ich früher mal gesagt, schicken Sie ihn in einen Ortsverein der SPD in Berlin. Dann wissen Sie, dass innerhalb kürzester Zeit die Leute politikverbiestert sind.

In der Wirtschaft gibt es auch Seilschaften, gibt es auch Filz, aber nicht in dem Maße wie in der Politik. Und es gibt schon in großen Unternehmen eine Art Leistungselite. Wir mögen sie nicht so nennen wollen, aber es ist eine Leistungselite, denn man kommt da wirklich nur nach oben, wenn man tatsächlich bestimmte Dinge in der Firma erbracht und geleistet hat.

In der Politik kommt es drauf an, die richtigen Verbindungen zu haben, in den richtigen Gremien zu sein und die Ochsentour immer zu machen, die Herr zu Guttenberg, das wirft man ihm ja auch vor, nicht gemacht hat. Er kam plötzlich und strahlte. Dass die Wirtschaft attraktiver ist, das liegt am Geld. Aber in der Wirtschaft stürzt man natürlich genauso schnell und genauso grausam. Man fällt nur komfortabler.

Es wäre schön, wenn die besten Kräfte wieder in die Politik gingen. Wenn der Austausch zwischen den verschiedenen Bereichen größer wäre, also zwischen Wirtschaft und Politik, dass die Leute eben nicht nur von der Politik leben und leben müssen und dann die üblichen Kompromisse machen, sondern dass man auch aus der Politik herausgehen kann und trotzdem einen anderen Beruf ergreifen kann.

Deutschlandradio Kultur: Das war ja vielleicht auch, wenn ich das einfügen darf, das Reizvolle an zu Guttenberg. Er ist finanziell völlig unabhängig. Das hat ihm ja auch Stärke verliehen. Aber er ist aus anderen Gründen gescheitert.

Wolfgang Nowak: Das ist in Amerika jetzt auch viel. Blumenberg, der Bürgermeister von New York, überlegt auch, ob er den Obama herausfordern soll mit dem Satz eben, "ich brauche keine Parteispenden, ich brauche gar nichts, ich habe mein Geld, ich kann also sagen, was ich will, und bin niemandem verpflichtet". Ich glaube, die Sehnsucht nach diesem Politiker ist da, auch die Sehnsucht nach einem Helmut Schmidt ist da, der wird ja vergöttert geradezu, die Sehnsucht nach dem unabhängigen oder sich unabhängig gebenden Denker, der unabhängig ist und der auch führen kann. Das ist ein bisschen der Charme auch von Steinbrück gewesen, der sich ja auch so ein bisschen als eine Schmidt-Schnauze-Kopie dann gegeben hat. Das ist aber eine Sehnsucht, die da ist.

Und das, was Herr von zu Guttenberg gemacht hat, ist, diese Sehnsucht besetzen. Und er hat ja – alle sind über ihn hergefallen und er war weder den Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, noch den Auseinandersetzungen dann gewachsen letzten Endes.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja seit einiger Zeit, ich nenne es mal so, auch die "Ohne-Mich-Bewegung". Spitzenpolitiker sagen, ich will nicht mehr – Köhler, von Beust, Koch, unterschiedliche Gründe auf jeden Fall. Koch ging in die Wirtschaft, was ihm dann sofort auch wieder vorgeworfen wird. Können Sie das verstehen, wenn diese Politiker sagen: ich mag eigentlich nicht mehr? Oder ist das Flucht vor der Verantwortung?

Wolfgang Nowak: Ich glaube, es ist Flucht vor der Verantwortung. Also, das kann man nicht machen, dass man sich ein politisches Amt erstrebt und anstrebt und dann wirklich Ekel davor empfindet. So klingt's ja manchmal. Ich glaube, das stößt mich ab. Wenn ich Politiker bin, dann muss ich auch für ein Ziel eintreten, für eine Aufgabe stehen und muss mich dafür einsetzen und kann da nicht sagen, so, jetzt sind drei Jahre rum, jetzt langweilt mich alles, ich gehe jetzt weg. Das halte ich für eine sehr, sehr negative Einstellung. Also, ich kann das nicht verstehen. Ich kann verstehen, dass man Ekel vor der Politik empfinden kann in bestimmten Augenblicken. Das habe ich auch. Aber dass man dann einfach hinschmeißt, das halte ich für nicht in Ordnung.

Deutschlandradio Kultur: An dieser Stelle, Herr Nowak, wollen wir Ihr Stichwort von eben noch einmal aufnehmen mit der Frage: Sehen Sie tatsächlich die Gefahr, dass aus Politikverdrossenheit, andere sprechen ja auch von "Politiker"-Verdrossenheit, so etwas wie Demokratieverdrossenheit erwachsen kann?

Wolfgang Nowak: Ich sehe die Gefahr. Ich sehe sie sogar groß, dass die Parteien und so, wie sie alle auftreten, wie sie sich geben, die Demokratie verderben. Die Leute sind nicht politikverdrossen. Sie wollen sich politisch engagieren. Das sehen Sie an den vielen Facebook-Abenteuern, an Attac, an allen möglichen Gremien, die sich gebildet haben, an Stuttgart 21. Das sind alles ...

Deutschlandradio Kultur: Stichwort Wutbürger.

Wolfgang Nowak: Ja, ich würde gar nicht sagen "Wutbürger". Da sind immer die alten Opas mit gemeint, die nicht wollen, dass in ihrer Umgebung eine Baustelle passiert. Aber ich meine, die Leute wollen Politik machen, aber sie fühlen sich von der Politik ausgesperrt, dieses Aussperren, die Politik, die in ihren Parteitagen, ihren Gewerkschaften, in ihren Gremien ist und sich da mit Sprechblasen beschäftigt. Ich befürchte, dass die Demokratie bei uns nicht genügend gepflegt wird. Der Fall Guttenberg macht es deutlich, dass wir – nachdem wir aus den Glashäusern mit Steinen geworfen haben – jetzt einmal im Politikbegriff Schadensbegrenzung betreiben müssen. Sonst leidet tatsächlich die Demokratie. Diese Sehnsucht nach Volksabstimmungen ist ja eine Sehnsucht nach einer anderen Politik. Und darauf muss man antworten.

Deutschlandradio Kultur: Wie kann denn diese Schadensbegrenzung aussehen?

Wolfgang Nowak: Die Schadensbegrenzung kann aussehen, dass wir anders die Politiker rekrutieren, sie mehr einem anderen Prozess unterziehen. Zum Beispiel schon beim Wahlrecht, dass man nicht diese Landeslisten hat, wo dann bei der SPD die ganzen Gewerkschaftsleute reinkommen und bei der CDU andere Leute, die versorgt werden müssen, sondern dass man eben nur den Abgeordneten bekommt, den man direkt wählen kann, mit dem man Kontakt hat, und dass man wie in Frankreich zwei Wahlgänge macht. Wer im ersten nicht die absolute Mehrheit hat, muss sich im zweiten dann noch mal einem zweiten Wahlgang stellen. Aber dass wir den Abgeordneten sehen können und fragen können. Wir haben unsichtbare Abgeordnete. Die FDP hat keinen einzigen Wahlkreis. Das sind für den Bürger unsichtbare Abgeordnete. Man kennt Herrn Westerwelle, vielleicht noch zwei, drei andere. Die anderen kennt man nicht. Das ist bei den Grünen ähnlich. Da gibt’s auch Wahlkreisgewinner. Aber ich brauche einen Politiker, der in meinem Wahlkreis für etwas eintritt. Und ich muss ihn fragen können. Und das ist in diesem heutigen System nicht möglich.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei der politischen Kultur. Die kontroverse, strittige Diskussion wird ja in den allermeisten Parteien, ich denke, da geben Sie uns Recht, zumindest in der Außendarstellung vermieden. Ist das eines der Defizite, das Sie beklagen?

Wolfgang Nowak: Es ist ein Defizit, dass wir eigentlich alle großen Themen, die wir haben, nicht im Parlament diskutiert haben – weder den Euro, auch die Wiedervereinigung. Auch die vielen Fragen, die da sind, werden dann in irgendwelchen Gremien oder in der EU diskutiert. Wir müssen die Bürger tatsächlich für Fragen interessieren und sie in die Diskussion hineinziehen.

Andererseits wissen wir auch, dass wir Deutschen, das sagt man uns wenigstens nach, große Kontroversen nicht lieben, dass wir eigentlich eher den Konsens lieben. Das ist genau so. Das ist das gleiche Argument, dass man sagt, der Bürger will ja gar keine Reformen. Der will Reformen nur bei anderen.

Das sind also im Grunde genommen Sätze, die die Parteien sagen, um nichts tun zu müssen. Aber ich glaube, dass dann, wenn eine Kontroverse da war, Willy Brandt zum Beispiel, der wird ja immer wieder genannt, da ging es ja um eine Ostpolitik, da werden die Bürger mobilisiert. Hier mobilisiert die Bürger keiner mehr. Im Gegenteil, wenn mal eine große Frage auftritt, heißt es gleich, die müssen wir aus den Wahlen heraushalten. Das halte ich für eine der gefährlichsten Aussagen.

Oder man beruhigt den Bürger und sagt: Es gibt hierzu keine Alternative. Das ist ein ganz furchtbarer Satz, der das Ende der Demokratie bedeutet. Also glaube ich, wir sollten schon mal wieder einen öffentlichen Dialog über wirkliche Fragen haben, aber nicht, wie viele Fußnoten jemand benutzt.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn man das beobachtet, sind die Parteien, und wenn man auch Ihnen folgt, sind die Parteien gar nicht in der Lage dazu, das zu machen, weil sie immer den großen Mantel des Schweigens über jede interessante Diskussion, über jede kontroverse Diskussion decken. Wohin geht denn der politische Diskurs nach Ihrer Ansicht, wenn die Parteien das eben nicht mehr leisten? Wo findet der statt in Zukunft?

Wolfgang Nowak: Er findet dann statt in obskuren Blogs. Er findet statt in obskuren Diskussionen. Er findet in regionalen Aufständen wie Stuttgart 21 oder wie die Schulabstimmung in Hamburg statt. Er sucht sich seine Ziele. Er sucht sich Ventile. Und das beunruhigt mich. Wir hatten Glück, dass dieses Gefühl der sozusagen Politikverdrossenen nur ein Herr von zu Guttenberg aufgegriffen hat. Es könnte auch ein Berlusconi sein, der es aufgreift. Das ist ein gedeckter Tisch für jemanden, der auf Wutbürger, der auf Politikverdrossenheit setzt und darauf eine Politik aufbauen will. Dieser Tisch ist bereitet. Und diesen Tisch sollten wir um Gottes Willen schnell abräumen. Und das tut keiner. Die sind alle jetzt zufrieden!

Deutschlandradio Kultur: An der Stelle kommen wir zu Ihrer aktuellen Tätigkeit. Es ist sozusagen schon im Subtext eingeflossen, Ihre Auffassung und die Defizite, die Sie in der Politik, im Politikbetrieb sehen. Sie sind, wir sagten es eingangs, der Sprecher der Geschäftsführung der Alfred Herrhausen Gesellschaft. In drei Sätzen, Herr Nowak: Was genau macht die Herrhausen Gesellschaft?

Wolfgang Nowak: Das ist eine sehr kleine Gesellschaft, die eben nach Alfred Herrhausen benannt ist, dem früheren Chef der Deutschen Bank, der ermordet worden ist. Und wir suchen eigentlich Spuren der Zukunft in der Gegenwart. Wir befassen uns mit den Städten, der Entwicklung der Städte im 21. Jahrhundert. Und wir befassen uns mit den neuen, mit den BRIC-Staaten, wie die ihre Zukunft sehen und wie die Zukunft der BRIC-Staaten mit der Zukunft der anderen Städten kompatibel ist.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt sagen Sie noch kurz: BRIC-Staaten?

Wolfgang Nowak: Das sind Brasilien, Russland, Indien, China.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind auch offiziell das internationale Forum der Deutschen Bank. Wie unabhängig kann man dann sein?

Wolfgang Nowak: Wir sind als gemeinnützige GmbH … die Unabhängigkeit hängt eigentlich davon ab, von der Toleranzschwelle des jeweiligen Chefs der Deutschen Bank. Und die ist bei Herrn Ackermann ausgesprochen groß, so dass wir eine sehr große Freiheit haben. Wir berichten ihm direkt. Und deshalb kann ich auch nur dort arbeiten, weil er sich in unsere Arbeit nicht einmischt, sondern die Arbeit lässt. Ich weiß nicht, ob ich eine Veranstaltung machen könnte "Enteignung der Banken" oder "Verstaatlichung der Banken". Das würde ich sicherlich machen können, aber dann würde man mich einer anderen Aufgabe übergeben. Die Unabhängigkeit hängt sehr stark ab von dem jeweiligen Chef der Deutschen Bank.

Deutschlandradio Kultur: Ist also vor dem Hintergrund die Herrhausen Gesellschaft, könnte man das so sagen, eine Denkfabrik, ein Think Tank?

Wolfgang Nowak: Ja, das ist ja heute sehr modern in Deutschland, Think Tank zu sagen. Drei Leute, die zusammensitzen, sind ein Think Tank. Wir sind eher ein Netzwerk. Wir versuchen, aus verschiedenen Ländern … ein Think Tank darf nie national sein, er muss international sein, wir versuchen, wir sind ja sehr klein, wir versuchen, Bürgermeister, Wissenschaftler, Architekten zusammenzubringen und dann gemeinsam über Dinge nachzudenken. Aber wir sind eher das Zentrum eines Netzwerkes.

Ich würde mir nicht anmaßen, ein Think Tank zu sein. Dazu fehlen uns auch Erfahrungen und auch die Kenntnisse. Aber dadurch, dass wir verschiedene Leute, sowohl bei den … wenn ich nachdenke über die G20, als auch bei der Stadtplanung, Bürgermeister, Stadtplaner, bis hin zu Regierungschefs, zusammenbringen, um dann zu fragen, wie Städte in Indien oder wie sie sich vor allen Dingen in Mexiko, wie sich Mexiko-City weiterentwickeln kann oder nicht mehr weiterentwickeln kann, da laden wir ein zum Denken und zum Suchen von Spuren, wie es in Zukunft weitergehen kann.

Aber wir sind keine Gruppe mit 300 Mitarbeitern, die permanent denkt. Die veraltern sehr schnell. Das ist in Amerika anders, weil die Regierungen, die Leute, auch Think Tanks übernehmen und wieder zurückführen, so dass frisches Denken durch altes ersetzt wird.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei den Denkfabriken. Deren Aufgabe ist ja vor allen Dingen die Politikberatung. Sie haben die USA angesprochen. Da sind die ja aus dem politischen Geschäft gar nicht wegzudenken. Wie steht's denn hierzulande um diese Kultur?

Wolfgang Nowak: Sehr schlecht. Ich meine, Sie können nicht davon ausgehen, dass die Parteistiftungen die Politik beraten. Die sind genauso brav wie ihre Parteien bzw. genauso passiv. Die sind nur dann gut, wenn sie irgendwann 8.000 Kilometer entfernt Probleme aufgreifen. Dann fangen sie an zu denken.

Wir haben keine richtigen Think Tanks in Deutschland. Wir haben eine Stiftung Wissenschaft und Politik. Die ist eine, würde ich sagen, herausragende. Aber alles andere nennt sich zwar so, aber dass die Politik wirklich auf diese Denkfabriken horcht? Die vertraut sich eher McKinsey an. Aber das muss man der Politik nachsehen. Als ich in der Politik war und es kamen Leute und wollte mit mir über modernes Regieren sprechen, das waren welche, die nie in einer Regierung gesessen hatten, die gar nicht wie so ein grauenhafter Apparat funktioniert oder auch nicht funktioniert, wie tückisch eine Verwaltung sein kann, das ist dann alles sehr theoretisch. Ein Think Tank setzt voraus, dass Leute, die dort arbeiten, auch eine Funktion dort hatten, wo sie beraten. Und das haben wir nicht.

Deutschlandradio Kultur: Und ist in Amerika der Unterschied, verstehe ich das richtig, dass die Durchlässigkeit dort größer ist?

Wolfgang Nowak: Ja, ist sehr stark. Ich arbeite sehr eng, ich bin auch Mitglied eines Gremiums von der Brookings-Institution, weil ich in der Regierung war, das ist der Grund, weil ich in einer Regierung war. Wir zahlen kein Geld an die Institution. Da ist ein Austausch. Und als dann Obama kam, sind meine ganzen Bekannten … mussten diese Fragebögen ausfüllen und gingen in die Administration. Das fand ich sehr gut. Es kamen dann neue Leute rein. Das heißt, wenn ein neuer Präsident kommt, kommen die auch wieder zurück. Aber Sie können, wenn Sie mit denen diskutieren, dann sind das Leute, die etwas vom Fach verstehen.

Deutschlandradio Kultur: Keine Trockenschwimmer?

Wolfgang Nowak: Ja. Die wissen, wie es ist, wenn man Botschafter in Mexiko ist.

Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie denn Ansätze, dass hier in unserer politischen Kultur so etwas, so zarte Pflänzchen entstehen, dass es so was mal gibt?

Wolfgang Nowak: Es wäre schön, weil, wir brauchen ja, wir wissen ja auch, dass die Parteien nicht mehr Orte des Denkens und des Gestaltens sind. Das heißt, wir brauchen Institutionen, in denen einmal über den Tellerrand hinaus und vielleicht sogar noch weiter gedacht wird, ohne dass man auf die Beschlusslage der Partei oder bei der SPD auf Frau Nahles Rücksicht nehmen muss oder bei der CDU auf Herrn Seehofer, sondern dass man jenseits der Nahles' und der Seehofers mal Themen aufgreifen kann. Das könnten Think Tanks leisten. Und die haben wir nicht.

Deutschlandradio Kultur: Vor gut zehn Jahren, als Sie noch im Kanzleramt tätig waren, haben Sie wörtlich einmal eine "Verarmung des zukunftsgerichteten Denkens in Deutschland" beklagt. Gilt das zehn Jahre später noch immer?

Wolfgang Nowak: Eigentlich ja. Eigentlich, muss ich sagen, hat sich das – das ist das Schöne an Deutschland – nicht viel geändert. Wir arbeiten nicht von der Hand in den Mund, sondern von Landtagswahl zu Landtagswahl. Vielleicht kann man auch nicht zukünftig denken, sage ich, jetzt nach zehn Jahren weiser geworden, wenn alle vier Jahre eine neue Regierung kommt, das sieht man im Bildungsbereich, und als erstes mal immer die Schulen umbaut. Dann kann man nie gute Schulen bekommen, wenn alle vier Jahre die Schulen verändert werden. Bayern und Baden-Württemberg sind so erfolgreich mit Schulen, weil sie so lange Regierungen hatten. Nordrhein-Westfalen ist ebenfalls so erfolglos geworden, weil sie auch so lange regiert haben.

Das ist eine Frage unseres Wahlsystems. Deswegen müsste das zukunftsgerichtete Denken tatsächlich von außen in die Parteien hineingetragen werden und durch Öffnung der Parteien für Leute, die von außen kommen und die die Ochsentour nicht gemacht haben.

Deutschlandradio Kultur: Dann viel Glück. Die letzte Frage, Herr Nowak …

Wolfgang Nowak: Ja, man braucht Glück in der Politik.

Deutschlandradio Kultur: ... zielt auf Ihre persönliche Zukunft. Sie haben viel erlebt. Einiges davon haben Sie uns in den letzten 25 Minuten geschildert. Planen Sie, Ihre Erfahrungen – mit der Politik vor allem, aber auch die anderen – mal in einem Buch zu verewigen?

Wolfgang Nowak: Das ist eine große Frage, die ich mir auch immer wieder stelle. Vielleicht mache ich das mal, aber dann brauche ich sehr viel Ruhe, sehr viel Zeit. Und die werde ich sicherlich eines Tages haben. Ich bin in diesem Prozess noch.

Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank.
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