Vergiftete Erbschaft

Autobiografische Familienrecherche über die Nazizeit in der Literatur

Oftmals ist ein Fund auf dem Dachboden Beleg für die Vergangenheit der Vorfahren.
Oftmals ist ein Fund auf dem Dachboden Beleg für die Vergangenheit der Vorfahren. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Sabine Voss · 08.05.2015
Oftmals ist ein Fund auf dem Dachboden Auslöser für die Suche nach dem, was lange verschwiegen wurde: Die Generation der Kriegsbeteiligten verstirbt und ihre Nachkommen stoßen beim Durchstöbern der Hinterlassenschaften auf Fotos, Briefe und Tagebücher aus nationalsozialistischen Zeiten, auch auf offizielle Dokumente mit dem "Heil"-Gruß, manchmal sogar auf eine Uniform.
Die Nazi-Generation hat ihre Geheimnisse sorgsam gehütet. Wer als Nachfahre die Schubladen nicht einfach wieder zumacht und den Entrümpler bestellt, wer wissen will, was der Vorfahr getan hat, muss auf unangenehme Wahrheiten gefasst sein.
Einige deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen haben ihre Recherchen festgehalten und am Beispiel der eigenen Familie dokumentiert, wie breit und tief NS-Täterschaft und Mitläufertum in der deutschen "Volksgemeinschaft" verankert waren. Ihre Bücher sind Suchbewegungen - und Versuche einer Standortbestimmung. Die Autorinnen und Autoren legen ein persönliches Bekenntnis ab über ihren Umgang mit der deutschen Erblast.

Zitator (Leo): "Wie viele Männer seines Alters existierte er im Ruhestand wie ein Findling nach der Eiszeit. Er war einfach da. Nichts gab es, und sei es noch so klein, was ihn angezogen, worauf er sich zubewegt hätte. Sein gesamtes geistiges Kapital war von einem schwarzen Loch geschluckt worden, in das er vor vielen Jahren investiert hatte."
Friedrich Leos beste Zeit war ohne Zweifel das "Tausendjährige Reich". Nach abgebrochenem Abitur gelang ihm dann doch noch der Karrieresprung ins Rasse- und Siedlungsamt der SS. Wie bedeutungslos war sein Leben im Nachkrieg, wie reizlos sein Rentnerdasein.
Blick auf die Nazigeneration aus der Enkelperspektive
Per Leo: "Also ganz klar, es gibt biografische Last durch Nazivorfahren, es ist aber eine reine Unterstellung, dass das immer so sein müsse. Und ich glaube, ich mach mir nicht viel vor, wenn ich sage, dieser Großvater ist für mich keine biografische Last gewesen. Ich habe ihn zu keinem Zeitpunkt je geliebt, er hat mir relativ wenig bedeutet, aber die paar Momente, wo er es geschafft hat, Nähe herzustellen, ist das manipulative Nähe."
In seinem Buch "Flut und Boden" entfaltet Per Leo den Blick auf die Nazigeneration aus der Enkelperspektive. Zu den eindrücklichsten Kindheitserinnerungen des Enkels gehört das Eierverstecken zu Ostern. Gut versteckte Eier sind solche, die in ihrer Umgebung verschwinden und deshalb schwer zu finden sind.
Per Leo: "Wenn man sich das bildlich vorstellt, wie er da oben auf der Empore steht und unten seine Enkelschar sich im Matsch schmutzig machen lässt, um die von ihm versteckten Eier zu suchen, dann ist auch die Freude an der eigenen Macht. Er hat unglaublich verstanden, eine Spannung zwischen sich und dem jüngeren Gegenüber aufzubauen. Er konnte hinreißend erzählen, sehr spannend erzählen, aber immer – man würde amerikanisch sagen – mit den Mitteln des Suspense, der Spannung, die dich hinhält und die es ermöglicht, den Hörer an der Leine zu führen."
Die Kriegsgeschichten schweigen von den Untaten. Die Tätergeneration lebte in einem Staat, der seinen Vorgänger und die in ihm begangenen Taten verurteilte. Entsprechend groß war die Selbstbeschränkung. Zwei Nachkriegsgenerationen wurden mit Halbwahrheiten, Auslassungen und Umdeutungen in Unklarheit gehalten über das Ausmaß der Verstrickung ihrer Eltern und Großeltern.
Es ist das Verdienst der 68er, den Boden für eine kritische Auseinandersetzung mit der Nazigeneration bereitet zu haben. Doch jeder Generation stellt sich die gewaltige Herausforderung neu, in den geliebten Eltern, Großeltern und demnächst wohl auch Urgroßeltern schuldig Gewordene zu vermuten. In der Regel allerdings akzeptieren Kinder und Enkel das Bedürfnis der Alten, sich auszuschweigen. Bis heute trennt – nach einem Wort des israelischen Psychologen Dan Bar-On – eine "doppelte Wand" die Generationen: Die Nazigeneration schweigt auch an ihrem Lebensende, und ihre Kinder und Kindeskinder stellen keine Fragen. Nur wenige Nachgeborene machen Ernst damit, die Wahrheit zu beleuchten – so wie Per Leo, Anne Weber und Niklas Frank, Gegenwartsautoren dreier Generationen.
Per Leo betrachtet seinen Großvater als Kriminalfall. So wie Friedrich Leo gern Eier versteckte, maskierte er seine Rolle im Dritten Reich, indem er Heldengeschichten erzählte. Sein Enkel will wissen, was dahinter steckt:

Zitator: "Als ich die Geschichte von Großvaters Flucht endlich zu hören bekam, stand ihre Form so fest wie ein liturgischer Text. Kein Wort, das nicht schon alle meine Onkels und Cousins an der genau der gleichen Stelle gehört hatten, nach genau der gleichen Kunstpause, mit genau der gleichen Betonung. Sobald ich 'ein großer Junge' geworden war, hatte Großvater begonnen, mich mit Erzählungen geringeren Kalibers anzufüttern, und mir dabei das Gefühl gegeben, ich sei es, der etwas von ihm wolle. Plötzlich verging kein Besuch mehr, ohne dass ich auf einen passenden Moment gelauert hätte, ihm eine Geschichte'vom Krieg' zu entlocken. Ich war der jüngste seiner Enkel und Neffen, weitere waren nicht zu erwarten. Vermutlich zum letzten Mal also begann nun ein Spiel, das er wie kein anderes beherrschte, ein Spiel, das ihm die Aufmerksamkeit und Nähe eines Jungen verschaffte, dem er sonst nichts zu bieten hatte. Ein Spiel mit begrenzten Ressourcen. Er dosierte sie meisterhaft."
Der Umgang mit dem Nachlass wird zum Thema der Gegenwartsliteratur
Das Interesse des Enkels ist endgültig geweckt, als er nach dem Tod des Nazigroßvaters dessen Bücher ordnet. Der Umgang mit dem Nachlass ist inzwischen ein Topos der Gegenwartsliteratur: Hier nehmen viele Buchprojekte deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, die sich mit der eigenen Familie im Nationalsozialismus befassen ihren Anfang. Die Generation der Kriegsbeteiligten verstirbt, und die Nachkommen stoßen beim Durchstöbern und Sortieren ihrer Hinterlassenschaften auf Fotos, Briefe, Tagebücher, auch offizielle Dokumente, sogar auf die Uniform im Schrank.
Per Leo: "Bei meinem Großvater ist es tatsächlich vor allem das Schriftgut. Und das ist auch bezeichnend, weil er ein bürgerlicher Überzeugungstäter war. Das heißt, er war ein Nazi, der sich etwas dabei gedacht hat. Diese Bibliothek könnte man als Giftschrank des Dritten Reichs bezeichnen. Ganz viele Bücher, die guckt man an, und man sieht nichts als Nazikitsch. Das kann sofort weg, das haben wir durchschaut, das empfinden wir zurecht als lächerlich heute. Dann sind andere, Klages und Heidegger, beides sind ernst genommene Denker, die beide eine gewaltige Schlagseite zum Nationalsozialismus haben. Und das weckte bei mir tatsächlich Neugier – also schon so weit es geht, ohne die eigene Position zu verraten, sich in die Geistes- und Gedankenwelt der überzeugten Nazis hineinzubegeben."
Aus der Gegenwart blickt der Ich-Erzähler, ein Historiker um die vierzig, zurück auf sich selbst als 20-jährigen Studenten, der eine Halt gebende, Identität schaffende Aufgabe findet: die Erforschung der Nazigeneration. Das Ergebnis ist ein Buch, der Roman "Flut und Boden": die Familiengeschichte eines Erzählers, der immer auch über sich und sein Interesse an der Vergangenheit spricht.
Per Leo: "Wir sind Teil von Diskursen über die Nazizeit, als Zeitgenossen, die ja schon in einer Welt leben, in der das Sprechen über die Nazis, die Bilder von den Nazis in Form von Filmen, Büchern, viel Populärkultur, ständiger Rederei, ständigen Diskursen allgegenwärtig ist. Sie können ja keine Facebook-Diskussion führen, ohne dass irgendein Nazivergleich fällt. Diese Diskurse sind eben in sich hochproblematisch, weil sie bestimmte Sichtweisen nahelegen, die wir in der Regel stillschweigend übernehmen, die uns aber oft auch in die Irre leiten. Zum Beispiel die reine Identifikation mit den Opfern: Es klingt komisch, man muss sich zu einem Teil auch mit den Tätern identifizieren, um begreifen zu können, wie das alles passiert ist. Also ich und die meisten in Deutschland lebenden Enkel sind nun mal Nachfahren der Täter. Wir sind keine Opfernachfahren."
Stelen mit Fotografien von Überlebenden des Zweiten Weltkrieg stehen im Foyer der Ausstellung "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg" im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: "Wir sind noch nicht fertig mit unserer Geschichte"© picture alliance / dpa / Gregor Fischer
Das Deutschtum aus der Sicht der Enkel
Zitatorin (Anne Weber): "Ich meine, allmählich genug vom Deutschtum zu wissen. Geräuschvoll wurde es mir beigebracht. Ich ahne, was ich von diesem verschollenen Wort nie werde wissen können: wie es geschmeckt haben mag mit einem Kindergaumen, wie es geklungen haben mag in Kinderohren. Ich bin zu alt für dieses Wort. Ich höre in ihm: Massengrab. Ich höre die Stille nach dem Tusch. Ich höre millionenfaches Geflüster."
Anne Weber: "Das ist so eigenartig, finde ich, zu sehen, wie die Worte einen völlig anderen Sinn bekommen haben und wir uns auch gar nicht mehr zurück versetzen können oder nur mit größter Anstrengung. Zum Beispiel das 'Deutschtum', was ja ein Wort ist, das überhaupt nicht mehr verwendet wird und nach dem Zweiten Weltkrieg verschwunden ist aus unserem Vokabular. Wir wissen zwar, dass sich die Worte verwandeln im Laufe der Jahrzehnte, aber man denkt es ja nicht immer mit, wenn man über die Vergangenheit nachdenkt. Das sollte man aber vielleicht."
In ihrem Buch "Ahnen" geht Anne Weber dem väterlichen Familienzweig nach. Sie ist 1964 geboren worden, in einer Nachkriegszeit, als es für die deutschen Familien aufwärts geht. Der Bausparvertrag gehört zur Wirtschaftswunderzeit dazu, die Waschmaschine, das Eigenheim, das erste Auto, die erste Ferienfahrt, der erste Fernseher. Aus dieser 'ungebrochenen' Stabilität fällt Anne Weber heraus – als uneheliches Kind, als illegitime Tochter eines Vaters, der sie nicht anerkennt. Nach dem Abitur wandert sie aus und geht nach Frankreich, wo sie seitdem lebt.
Anne Weber: "Ich schreibe ja immer zwei Fassungen meiner Bücher. Und auch in diesem Fall ist es eine Art Übersetzung, allerdings eine sehr freie Übersetzung. Zum Beispiel habe ich ja auch den Titel verändert in der französischen Fassung. Das Buch trägt auch im Französischen einen deutschen Titel. Und zwar den Titel: Vaterland. Wobei die Franzosen eher 'Vaterland' sagen. Natürlich hätte ich die deutsche Fassung nie Vaterland genannt, dieses Wort ist einfach unverwendbar geworden, jedenfalls als Titel, für mich. Aber wenn man es auf einem französischen Cover sieht, dann wird es ein ganz anderes Wort, und es wird ein bisschen, als hätte ich es in Anführungszeichen gesetzt. Da ist einfach eine Distanzierung drin zu dem, was es bedeutet, die etwas von meiner eigenen Distanz zu meinem Vaterland, zu meinem Herkunftsland ausdrückt."
Zitatorin: "Es fängt damit an, dass mein Passwort 'Panzerdivision' ist. Ich habe es vor Jahren gewählt, als ich das letzte Mal eine Dauerkarte für die untere, den Forschern vorbehaltene Etage der Bibliothèque nationale beantragt hatte. Nun hätte ich natürlich Lindenblüte oder Seidenwurm wählen können. Ich hatte Panzerdivision gewählt. Es war der Kosename, den mir einmal ein äußerst charmanter, in der hohen, wenn auch in meiner Wertschätzung seither gesunkenen Kunst der Ironie unschlagbarer Franzose gegeben hatte und der mit möglichst nasalem Akzent, weichem 's' und Betonung auf der letzten Silbe ausgesprochen gehört: Pansèredivisión. Dieser Name, der nicht etwa nur mir als Deutscher galt, sondern gewisse, mir ganz persönliche Eigenschaften treffen sollte und vermutlich auch trifft, war mir einst komisch erschienen. Im Zusammenhang mit den Nachforschungen, die ich mit Hilfe dieses Passwortes betreiben will, hört er sich nicht mehr so komisch an. Es soll um einen Deutschen gehen, der einige Jahre in Polen verbracht hat. Um meinen Urgroßvater."
Nazigeneration stellt sich beim Schreiben in den Weg
Anne Weber: "In meinem Buch steht tatsächlich im Mittelpunkt die Figur dieses Urgroßvaters Florens Christian Rang, und der ist 1864 geboren und 1924 schon recht früh gestorben, und insofern unschuldig nicht nur geboren sondern auch gestorben, die Gnade des frühen Todes sozusagen. Das Buch ist aber angelegt als eine Reise, eine Reise in die Vergangenheit zu diesem Urgroßvater hin."
Sanderling nennt Anne Weber ihren Urgroßvater nach einem Vogel, der an der Küste dem Hin und Her der Wellenbewegung folgt. So ähnlich ist der Lebensweg des Urgroßvaters: eine Biographie im Zickzack. Denn eine sichere Beamtenkarriere als Jurist im Preußischen Staatsdienst gibt Florens Christian Rang auf, um Dorfpfarrer in Polen zu werden. Dem Bücherschreiben bleibt er allerdings treu, ebenso seinen Weggefährten: Geistesgrößen wie Walter Benjamin und Martin Buber zählten zu seinen engen Freunden.
Anne Weber: "Ich habe einfach von Anfang an sehr schnell gemerkt, dass ich tatsächlich nicht wissen kann, was das für ein Mensch war, wie es damals war, wer das war, sondern dass ich es im Grunde bei einer Annäherung würde belassen müssen. Und deshalb auch die Idee der Reise, die Idee der Bewegung zu diesem Mann und seiner Zeit hin. Also ich habe nicht getan, was man wahrscheinlich in einem historischen Roman oder in einer Biografie machen würde, dass man sich erstmal informiert und recherchiert und alles mögliche Material ansammelt und wenn man das Gefühl hat, genügend Kenntnisse zu haben, dass man dann anfängt, das Ganze zu strukturieren und zu erzählen und zu organisieren, sondern ich hab's im Grunde umgekehrt gemacht, aus diesem Herantasten selbst, aus dieser Annäherung, daraus ist die Form dieses Buches, die Geschichte meiner Annäherung entstanden."
Zitatorin: "Seit ich aufgebrochen bin zu dieser Reise in die Fremde, zu meinem Vorfahren hin, habe ich ein Bild vor Augen: Ich sehe ein unüberwindbar scheinendes Gebirge, das sich zwischen mir und dem hundert Jahre vor mir Geborenen aufrichtet. Ein gewaltiges Massiv, ein Riesengebirge, angehäuft aus Toten."
Anne Weber: "Da es eine Reise ist, spielt auch das Dazwischen eine gewisse Rolle, und damit auch die dazwischen liegenden Generationen, nämlich meines Großvaters, einer der Söhne dieses Mannes, und ein bisschen auch meines Vaters. Das heißt, diese Nazigeneration stellt sich bei mir in den Weg, als Hindernis, zu dem, um den es ja eigentlich geht in dem Buch, um den Urgroßvater. Aber dieser Urgroßvater kann auch nicht mehr gedacht werden, und diese ganze Zeit kann von mir nicht mehr gedacht werden, ohne das Bewusstsein dessen, was danach, nach ihm geschehen ist in Deutschland."
Zitatorin: "Aus einer späteren Schrift Sanderlings springt mir das Wort 'Täter' entgegen. Aber wie weit ist es von seiner jetzigen ausschließlichen Bedeutung entfernt. Die Täter sind bei Sanderling, kaum zu glauben, das Pendant zu den Denkern. Mir ist, als sähe ich das Wort zum ersten Mal in seiner unwiederbringlichen Kindheit. Fast zärtlich betrachte ich, wie es sich einfügt in den Satz, in dem es die schöne Rolle des Handarbeiters innehat. Zehn Jahre später ist es schon auf dem Weg zu seinem neuen Pendant, dem Opfer."
Einer von vier Söhnen Sanderlings war ein Nazi, ein Schreibtischtäter, Mitarbeiter in der Reichsschriftumskammer der SS: Anne Webers Großvater, den sie nie kennengelernt hat, der Vater ihres Vaters. Seine Enkelin setzt sich ins Bundesarchiv, studiert seine Akten und beauftragt schließlich einen Historiker. Der kommt in seiner Begutachtung zu dem Schluss: "Ab jetzt würde ich mir über Ihren Herrn Großvater keine Illusionen mehr machen."
Leben im besetzten Polen
Zitator (Frank): "Ich ziehe die letzten Bundesarchiv-Kopien aus der Mappe. Norman, weißt du eigentlich, dass sich Vati am 28. April noch sein Gehalt für Februar und März 1945 auszahlen ließ, insgesamt 7000 Reichsmark? Nicht schlecht. Hat er die aus der geklauten Staatskasse des Generalgouvernements raus geholt, die vermutlich in seinem Andachtsraum neben Leonardo da Vinci und den zwei Rembrandts stand? "Das ist interessant. Mutti hat er bei seinem letzten Besuch auf dem Schoberhof 50.000 Reichsmark zugesteckt. Woher hatte er die? Er muss wirklich noch eine schwarze Kasse gehabt haben. Wer die wohl nach seiner Verhaftung eingesackelt hat? Gell, das interessiert dich auch? Diese kleinen Szenen in großer Weltgeschichte."
Zwei Brüder reden über ihren Vater, den Hauptkriegsverbrecher Hans Frank, Generalgouverneur im besetzten Polen. Auf dem Krakauer Wawel, wo Frank residierte, lebte es sich wie an einem Königshof mit Festen und Gelagen. Der Krieg war fern. "Einkaufen gehen" nannte es Brigitte Frank, wenn sie in SS-Begleitung jüdische Geschäfte ausräumte. Der älteste Sohn war damals Gymnasiast, der jüngste ein Kleinkind.
Nun ist Norman Mitte 80 und sein "kleiner" Bruder macht aus dem Disput mit ihm ein Buchprojekt. "Bruder Norman" heißt Niklas Franks Protokoll einer geschwisterlich liebevollen Reiberei über die gemeinsamen Eltern.
Niklas Frank: "Dieses grauselige Leben, das er letztlich geführt hat, weil er eben nicht aus dieser Falle rauskam – dass er seinen Vater liebt, obwohl er zugleich wusste, dass er ein Verbrecher war – das hat mich interessiert. Und dann habe ich angefangen, hab immer das Laptop mitgebracht und hab das aufgeschrieben. Erst wollte er gar nichts sagen, das fand ich auch interessant, er wollte gar nichts sagen. Und selbst, wenn er sagte, ich sage nichts, und ich hab das aufgeschrieben, und das hat ihn dann gegiftet, und dann fing er an zu erzählen. Ich hab ihn gefragt von seiner Kindheit an, und dann wurde er immer neugieriger auf sich selber. Ich habe ihm da, glaube ich, noch mal zwei richtig schöne Jahre beschert."
Mit Ende vierzig, 1987, veröffentlicht Niklas Frank sein umstrittenes Buch "Der Vater. Eine Abrechnung". Sechzehn Jahre später, 2003, folgt sein Buch "Meine deutsche Mutter". In "Bruder Norman" erzählt Niklas Frank, was dieser Familiengeschichte noch fehlt: das Leben eines Täterkinds.
Zitator: "Norman schaut auf meine Finger, die übers Laptop stöckeln. 'Du gierst danach, weiter auf dem Ticket eines Hauptkriegsverbrechers durch die Welt zu gondeln. Aber du musst nicht deinen zwei schalen Büchern über unsere Eltern ein drittes über deinen unter sieben Schleiern lebenden Bruder hinterher sülzen. Hör auf damit.' Nein. Ich habe ein Recht auf dich, auf die Nackenschläge, die dir unsere Eltern
verabreicht haben. Ich habe ein Recht auf die Lügen deines Lebens, um sie mit den meinen zu vergleichen. Wir leben doch die gleiche Lüge.
Ich nicht. Er zuckt die Achseln. Ist mir überlegen. Schaut mich an."
Man soll nie mit erhobenem Finger dastehen
Niklas Frank: "Man soll nie mit erhobenem Finger dastehen. Mich erwischt's ja auch. Ich glaube, es ist jetzt vier Jahre her, wo ich diesen Traum hatte, da bin ich heute noch wütend drüber. Da träume ich tatsächlich, ich gehe neben meinem Vater her, der Vater in seinem Ledermantel, dieses typische Geraschel auch dabei, diese eigentlich GESTAPO-Mäntel, die er aber auch trug, und ich war ganz klein. Und er schaut überhaupt nicht zu mir her. Und ich habe ein ganz furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich dieses Buch gegen ihn geschrieben habe. Und das kommt jetzt noch mal raus."
In dem mit Familienfotos reich bebilderten "Bruder Norman" fehlt auch das Foto des toten Vaters nicht, der, abgenommen vom Strang, bleich auf dem Boden liegt. Brigitte Frank kommt auf die Idee, die Briefe ihres Mannes aus der Gefängniszelle im Selbstverlag herauszugeben – unter dem Titel: "Im Angesicht des Galgens". Davon kann sie, die mit dem Ende des Hitler-Reiches den Königshof verloren hatte und verarmt war, eine Weile gut leben. Von ihren fünf Kindern leiden vier an chronischen Krankheiten. Die jüngste Tochter begeht Selbstmord, die älteste reibt sich Zeit ihres Lebens an der Verteidigung ihres Vaters auf. Und Norman quält und müht sich noch als Greis, den Vater in gut und bös zu spalten.
Niklas Frank: "Das liegt im Menschen drin, in seinem Gefühlshaushalt, dass er seine Eltern liebt. Bloß, wenn er auf einen Vater stößt, wo ein paar Kilometer Akten beweisen, in was er involviert war, dann muss man eine Entscheidung treffen. Es gibt keinen Ausweg, außer die Schuld des Vaters, seine Verbrechen richtig bis ins Innerste anzuerkennen. Wie ein Fußballergebnis! Das bringt einem sehr viel Freiheit. Wobei ich sagen muss, ich habe meinen Vater nie geliebt. Meine erste politische Tat war: Er stand gegenüber, und ich hab ganz still seine Brille genommen und hab die beiden Bügel abgerissen, noch nichts gewusst habend über das, wofür er stand. Aber ich mochte ihn nie."
Zitator: "Norman, erstaunlich, dass du dich von Anfang an geweigert hast, den Nürnberger Prozess als Chance zu begreifen, etwas objektiv über das wirkliche Wesen der Hitler Diktatur zu erfahren. Wieso? Du schreibst Vati am 26. März 1946: Der Prozess ist ja nun in das Stadium der Wahrheit getreten. Man meint damit allgemein den Beginn der Verteidigung. Wir sind immer dabei. Niki, es war wie ein Stretchband, das sich immer enger um uns zusammenzog. Dazwischen hatte die Wahrheit keine Chance. Jeder Zweifel wurde zerdrückt. Stell dir vor, ich hätte nach all den vorgelegten Beweisen der Anklage Vati geschrieben: ‚Mein Lieber Vati, wenn das stimmt, was dir die Anklage vorwirft, will ich nicht mehr dein Sohn sein!' Diesem armen Mann in der Zelle!"
Niklas Frank: "Mein Vater, bei seiner Zeugenbefragung durch seinen Rechtsanwalt Seidel, hat er gesagt, als der ihn fragte: „Haben Sie je irgendwas mit der Vernichtung der Juden zu tun gehabt?", dann hat er gesagt; 'Ja'. Und kurz darauf, nach diesem Anerkenntnis seiner persönlichen Schuld, verhört ihn im Kreuzverhör der russische Ankläger, der war sehr clever, und da hat er sofort wieder alles geleugnet. Ich meine, wenn ich einmal die Schuld zugebe, dann bleib ich auch dabei! Es hätte mir sehr geholfen, wenn er dabei geblieben wär' und von da ab ganz ehrlich geantwortet hätte, mit allem."
Bedingungslose Anerkennung der deutschen Verbrechen
Die bedingungslose Anerkennung der deutschen Verbrechen ist für Niklas Frank conditio sine qua non. Keine Podiumsrunde, keine Lesung, in der er diese für ihn notwendige Voraussetzung nicht durchsetzt. Wer in die Abwehr flüchtet, in Entlastungs- und Entschuldigungsformeln, ins Relativieren und Kleinrechnen, wird von ihm zurückgepfiffen. In seinem letzten Buch "Auf diesem Erdenrund" soll es um Entnazifizierungsverfahren gehen, also um den Übergang vom Verbrecherstaat in die Demokratie. Dazu reist er durch Deutschland und besucht die Landesarchive.
Niklas Frank: "Da muss ich teilweise zwischendurch immer wieder rausgehen und eine rauchen, weil das ist so ein entsetzlicher Reigen an Lug und Trug und falschen eidesstattlichen Erklärungen, das gibt's überhaupt nicht, und dass daraus eine tatsächlich gut funktionierende Demokratie geworden ist, ist für mich das zweite Wunder eigentlich. Das gibt's überhaupt nicht! Aber es ist spannend. Und glauben Sie, dass ich je in den Archiven zur Seite gedrückt werde von Söhnen, Töchtern, Enkeln oder Enkelinnen, die nach ihren Vätern und Großvätern suchen? Ich hole da Akten, die sind so verstaubt, da bin ich sicher, ich bin der Allererste, der da mal nachschaut."
Per Leo: "Das wäre ja auch das Charakteristische der Enkelposition, dass man erst mal die Position der Kinder – nehmen wir stellvertretend Niklas Frank –, die von einer harschen, richtig auch gekränkten Ablehnung getragen ist, total verständlich, dass wir die suspendieren. Das lassen wir mal gut sein. Ihr habt euren Kampf durchgefochten, ihr habt auch gewonnen, und das ist auch gut so. Aber indem wir sie suspendieren, gucken wir durch euch hindurch auf die Großeltern und sehen dann vielleicht – nein, nicht vielleicht, wir sehen ganz bestimmt Dinge, die ihr gar nicht sehen konntet oder wolltet."
Per Leo hat seinem Nazi-Großvater Friedrich Leo eine komplementäre Figur an die Seite gestellt: dessen älteren Bruder Martin. Das lässt die Gegensätze der Charaktere besonders deutlich hervortreten. Martin ist zart, feingliedrig, leidet unter der Bechterewschen Krankheit und wird von den Nazis zwangssterilisiert. Und er ist geistig beweglich, ein Freigeist und dadurch imprägniert gegen die Gewalttätigkeit, der sein Bruder verfällt.
Per Leo: "Und mir ging es schon drum, diesen Martin und den Friedrich als zwei Hälften eines Bildes, was zerrissen ist, zusammen zu kleben. Das hat eine dunkle und eine helle Seite, aber es ist ein Bild, eine Familie, es ist eine Kultur, ein Land und dadurch wird schon etwas gerettet. Aber Rettung heißt in dem Fall nicht, dass man nicht auch über die Katastrophe spricht, sozusagen, die erst die Situation heraufbeschworen hat, in der was gerettet werden muss. Der Nazi alleine, der lässt sich nicht retten, aber wenn Sie sagen, der hatte einen Bruder, und die kommen aus dem gleichen Haus, ganz pathetisch gesprochen, gehören die beiden zusammen, dann würde ich schon sagen, ist das ein Versuch, deutsche Geschichte zu schreiben, die von der Nazizeit nicht schweigt, aber auch sagt, da gibt es schon mehr als das und auch Gutes."
Wir sind noch nicht fertig mit unserer Geschichte
Wo immer wir leben, haben wir es nicht weit zu einem Lager oder Nebenlager. Auf diesem Boden sind wir geboren worden und aufgewachsen.
"Opa war kein Nazi" lautet der Titel einer bekannten Studie des Sozialpsychologen Harald Welzer. Die Enkel- und Urenkelgeneration weiß gut Bescheid über die von Deutschen begangenen Greuel. Und je besser sie Bescheid weiß, desto größer ist ihr Wunsch, die eigene Familie zu entlasten – was umgekehrt das Indiz für ein Schamgefühl ist. Wir sind noch nicht fertig mit unserer deutschen Geschichte, sie verblasst nicht durch den historischen Abstand. Was genau geht sie jeden Einzelnen an? Niklas Frank, Per Leo und Anne Weber geben in ihren Büchern Antworten darauf, die so persönlich sind wie durch ihre Generationszugehörigkeit geprägt. Es werden bestimmt nicht die letzten sein, die kommenden Generationen werden ihre eigenen finden.
Niklas Frank: "Wir sind durch unseren Holocaust ein auserwähltes Volk. Wir wissen ganz genau, wohin Feigheit führen kann, was am Ende dann ist, nämlich Gasöfen und Morde an Unschuldigen. Ich habe persönlich keine Schuldgefühle, eher dann als Deutscher, dass wir fähig waren. Ich sage auch oft nach den Lesungen, bei der Diskussion: Ich liebe Deutschland, aber Ihnen allen misstraue ich."
Per Leo: "Platt gesagt: Wir hatten alle Nazigroßeltern. Die paar Fälle, wo es nicht so war, die sind bemerkenswert. Im weitesten Sinne sind unsere Großeltern Nazis gewesen. Und wer sich damit beschäftigen will, soll es tun, und wer es nicht will und kein Problem damit hat, genauso gut. Es gibt keinen moralischen Imperativ, diese Nazivergangenheit aufzuarbeiten, finde ich."
Anne Weber: "Der Großvater und die Nazizeit, das ist tatsächlich etwas, was ich von Kindheit an – nicht den Großvater an sich, aber die Tatsache, dass man als Deutscher diese Vergangenheit mit sich herumträgt, ja, wahrscheinlich wie jeder Deutsche, habe ich das immer gewusst. Und ich habe das auch immer als eine Belastung erfahren und bin jetzt auch sehr erleichtert – nicht, dass ich das Gefühl hätte, dass ich mich damit einer Bürde entledigt hätte – aber doch, dass ich mich dieser Sache einmal in meinem Leben gestellt habe."
Zitatorin (Anne Weber): "Wenn es heute noch ein Deutschtum gäbe, wenn es etwas gäbe, was die Deutschen kennzeichnet und von allen anderen deutlich unterscheidet, dann wäre es wohl das Bewusstsein des in Deutschland Getanen, dieser besonderen, tödlichen Art des made in Germany. Dieses Bewusstsein lebt in allen, ob sie es – das in Deutschland Getane – leugnen, ob sie endlich davon verschont werden und nichts mehr davon hören wollen, ob sie zu Gedenkstätten pilgern, in Gedenkstätten-Cafeterien sitzen und Kuchen essen, ob sie Judaistik studieren, ob sie nächtens Hakenkreuze auf Friedhofsmauern schmieren oder nie einen Gedanken daran verlieren. Das Bewusstsein davon können sie nicht verlieren, ebenso wenig wie man sich von einem Herzfehler lossagen kann. Geschichte ist etwas Angeborenes."
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