Sexualisierte Gewalt

Was der Fall Gisèle Pelicot verändert

Gisèle Pelicot bei der Ankunft am Gericht von Avignon.
Gisèle Pelicot wird für ihre Entscheidung, den Prozess gegen ihren Ex-Mann und seine mutmaßlichen Mittäter öffentlich stattfinden zu lassen, als Heldin und feministische Ikone gefeiert. © picture alliance / abaca / Coust Laurent / ABACA
Ein Vergewaltigungsprozess in Frankreich erschüttert viele: Der Fall Gisèle Pelicot könnte die Debatte über sexualisierte Gewalt nachhaltig prägen. Der Prozess verdeutlicht ihre Normalität, die Scham vieler Opfer und die Verantwortung der Männer.
Der Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot hat in den vergangenen Monaten immense Aufmerksamkeit erregt, auch international: Über zehn Jahre hinweg wurde sie regelmäßig von ihrem damaligen Ehemann mit schwersten Angstlösern und Schmerzmitteln betäubt und im Internet anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Der Hauptangeklagte Dominique Pelicot hat gestanden. Zusammen mit ihm sind 50 weitere Männer angeklagt.
Der Prozess in Avignon in Südfrankreich findet nicht - wie bei solchen Verfahren üblich - hinter verschlossenen Türen statt. Die inzwischen 72-jährige Gisèle Pelicot hatte das Gericht darum gebeten, den Prozess öffentlich stattfinden zu lassen und darum gekämpft, dass auch Fotos und Videos gezeigt werden, die ihr Ex-Mann von den Taten gemacht hat.

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Die Staatsanwaltschaft forderte für den Hauptangeklagten die Höchststrafe von 20 Jahren und für die anderen Strafen zwischen vier und 18 Jahren, was über dem üblichen Strafmaß liegt. Sie wies die Argumente der Angeklagten zur Unzurechnungsfähigkeit zurück und stellte klar, dass es keine „normale, versehentliche oder unfreiwillige Vergewaltigung“ gebe. Das Urteil soll spätestens am 20. Dezember gesprochen werden. Die Anwältin von Dominique Pelicot argumentierte, dass sein perverses Verhalten auf frühere traumatische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch in seiner Jugend und einen tyrannischen Vater zurückzuführen sei, und plädierte für eine mildere Strafe.
Der Fall Pelicot hat zu einer intensiven Diskussion über sexualisierte Gewalt gegen Frauen geführt. Die Ungeheuerlichkeiten der Taten durch Fremde, die über Jahre stattfindenden Vergewaltigungen durch ihren eigenen Ehemann und der Mut, den Gisèle Pelicot für diesen Prozess aufgebracht hat, zeigen mehrere Aspekte sexualisierter Gewalt deutlich auf.

Gisèle Pelicot und die Scham nach sexualisierter Gewalt

Immer wenn Gisèle Pelicot das Gerichtsgebäude in den vergangenen Monaten betrat, ertönte Applaus - ein Ritual. Manchmal warteten rund 100 Personen auf sie, um ihre Unterstützung zu zeigen - vor allem andere Frauen. Der Prozess bewegt viele, auch weil Gisèle Pelicot öffentlich macht, was ihr angetan wurde, ihr Gesicht zeigt, sich als Opfer nicht versteckt. "Die Scham muss die Seite wechseln", hatte sie zu Prozessbeginn erklärt.
In ihrer letzten Aussage vor den Plädoyers am 19. November übte sie scharfe Kritik an den Aussagen mehrerer Angeklagter. "Das ist der Prozess der Feigheit", sagte sie, nachdem auch die letzten Mitangeklagten vor dem Strafgericht von Vaucluse sowie die beiden Söhne des Ehepaars angehört wurden. Sie habe im Prozess Dinge gehört, die inakzeptabel seien, die man nicht zu hören ertrage. Pelicot verwies dabei auf Angeklagte, die angaben, wie fremdgesteuert gewesen zu sein oder selbst womöglich unter Drogen gesetzt worden zu sein.
"Es ist für mich sehr schwierig, wenn gesagt wird, dass es praktisch eine Banalität ist, Madame Pelicot vergewaltigt zu haben", sagte Pelicot vor Gericht. Sie frage sich, wann die Angeklagten entschieden hätten, das Vorgehen nicht anzuzeigen. Die Gesellschaft sei patriarchal und müsse dies erkennen. "Wir banalisieren Vergewaltigungen", kritisierte die 72-Jährige.
Die Historikerin Heike Specht, Autorin des Buchs "Die Ersten ihre Art: Frauen verändern die Welt", nennt Pelicot "eine Heldin". Specht ist beeindruckt von ihrer Haltung und unterstreicht, dass Pelicot mit einem System breche: "Nicht sie muss sich schämen. Sondern die Männer müssen sich schämen", sagt Specht. "Wir haben einfach diese 5.000 Jahre Patriarchat auf dem Buckel, wo Frauen geshamet wurden dafür, dass ihnen Schlimmstes angetan wurde."

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Pelicot trete aus der Opferrolle heraus und schaffe ein Bewusstsein dafür, dass die Betroffenen sich nicht schämen müssen. Dafür könne man ihr nicht genug danken, findet Specht.
Für Emilia Roig, Autorin der Bücher "Das Ende der Ehe" und "Lieben", ist Gisèle Pelicot "eine feministische Ikone". Ihre mutige Haltung sei noch nicht weit verbreitet in der Gesellschaft. Doch stets den Fokus darauf zu setzen, wie mutig Pelicot sei, ist nach Einschätzung von Roig nicht unbedingt hilfreich: "Jedes Mal, wenn wir sagen, sie ist mutig, geben wir ein Signal, dass die Norm bleiben sollte, eben nicht darüber zu sprechen." Überlebende von sexueller Gewalt sollten aber nicht mutig sein müssen, um darüber zu reden, was ihnen widerfahren ist.

Die Normalität von Vergewaltigung und Missbrauch

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet. Nach Angaben des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ist in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau erfährt körperliche oder sexualisierte Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner. Zum Opfer schwerer sexualisierter Gewalt wird dem BMFSFJ zu Folge jede siebte Frau.
Die weite Verbreitung sexualisierter Gewalt, gerade auch innerhalb intimer Beziehungen, wird durch den Fall Pelicot überaus plastisch. Angesichts der Anzahl und Unterschiedlichkeit der Tatverdächtigen lässt sie sich nicht verdrängen oder externalisieren. Der Fall widerspricht der Annahme, dass sexualisierte Gewalt vor allem in anderen gesellschaftlichen Milieus als dem eigenen oder durch den sogenannten "Fremden im Park" verübt werde.
Zum einen, weil auf der Anklagebank als Haupttäter der ehemalige Ehemann des Opfers sitzt. "Diesen Schock dieser Frau muss man sich mal vorstellen: dass sie mit einem Mann zusammenlebt, der über Jahre so etwas gemacht hat", sagt die Autorin und Historikerin Heike Specht.
Zum anderen, weil die übrigen Tatverdächtigen einen Querschnitt der Gesellschaft bilden: Die Männer sind Fernfahrer, IT-Fachmänner, Schreiner, jung und alt, gebildet und ungebildet. Manche haben Familie, andere nicht. Ein "Herr Jedermann" sei angeklagt, sagt die ARD-Korrespondentin Julia Borutta und betont, dass die Angeklagten nicht vom anderen Ende Frankreichs nach Mazan zu Dominique und Gisèle Pelicot nach Hause gekommen seien: "Das sind alles Männer, die im Umkreis von wenigen Kilometern rekrutiert wurden." Dies deute darauf hin, dass es ein großes Interesse an solchen Angeboten im Internet gebe, wie sie Dominique Pelicot eingestellt habe.
"Das ist kein Einzelfall, kein monströser Akt, der individualisiert werden kann", betont auch die französische Autorin Emilia Roig: Es könne nicht ausschließlich Dominique Pelicot als Monster dargestellt werden.
Sie findet am Fall Pelicot auch die "scheinbare Normalität dieser Ehe" interessant, die in den ersten Berichten über das Verfahren beschrieben worden sei. Dabei gehe aus den Erzählungen der Tochter der Pelicots hervor, dass die Beziehung durchdrungen war von Machtverhältnissen und Missbrauch, vor allem psychologischer Art. Diese Form der Gewalt werde in heterosexuellen Ehen normalisiert, sagt Roig. "Eine gewisse Form von patriarchaler Gewalt gibt es in ganz, ganz vielen Familien - und dennoch wird es nicht gesehen."

Die Verantwortung und das Schweigen der Männer

Die große Gemeinsamkeit der 51 Angeklagten im Fall Pelicot ist ihr Geschlecht: Es waren Männer, die eine sedierte Frau mutmaßlich vergewaltigt haben. Doch es scheint, als interessiere das in erster Linie Frauen.
Der Kölner Rapper LGoony kritisierte Mitte September in einem viel geliketen Posting auf Instagram, dass es vor allem Frauen seien, die über Verbrechen wie dieses diskutieren. Er betonte, dass Frauen sich vollkommen zurecht immer öfter darüber beschwerten, dass sich Männer an dem Diskurs nicht beteiligten.

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Später führte er seine Gedanken dazu weiter aus: Seiner Erfahrung nach fühlten sich Männer zu Unrecht nicht angesprochen vom Thema Gewalt gegen Frauen. "Der Diskurs geht uns alle an, vor allen Dingen auch Männer", unterstreicht der Rapper. "Eigentlich sollte es so sein, dass mehr Männer was dazu sagen. Weil die Täter fast immer männlich sind. Deswegen ist es wohl hauptsächlich ein männliches Problem.”
In der weitgehenden Sprachlosigkeit von Männern gegenüber Verbrechen wie denen an Gisèle Pelicot zeigt sich nach Einschätzung der Journalistin Shila Behjat, wie wenig weit wir gekommen seien im Kampf gegen männliche Gewalt an Frauen. Behjat hat das Buch "Söhne großziehen als Feministin" geschrieben. Es gehe nicht nur um die Männer, die gewalttätig werden gegenüber Frauen, sagt die Journalistin. Sondern auch um die Männer, die das tolerieren, die nicht dagegen aufstehen und nichts dagegen sagen.

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"Ich glaube, wir sind bei diesem Thema erst weitergekommen, wenn Männer tatsächlich in diese Verantwortung gehen", glaubt Behjat.

jfr
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