Vergangenheitsbewältigung

Moderation: Katrin Heise · 27.05.2005
Nach Ansicht des Historikers Walter Bernecker gibt es in Spanien rund 30 Jahre nach dem Ende der Franco-Ära erste Ansätze, die Zeit des Bürgerkriegs und der Diktatur aufzuarbeiten. Im Gegensatz zu Deutschland habe es in Spanien lange Zeit keinen Wunsch nach einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben. Man habe es den Historikern überlassen, die Geschichte aufzuarbeiten.
Heise: Kultur des Erinnerns - Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Spanien - so ist ein Symposium überschrieben, das das spanische Kulturinstitut Cervantes zusammen mit dem Goethe-Institut zurzeit in Berlin veranstaltet. Die Außenminister beider Länder haben es eröffnet. Im Mittelpunkt steht der Umgang mit den traumatischen Schlüsselerlebnissen des 20 Jahrhunderts, das sind in Spanien auf der einen Seite der Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur, in Deutschland natürlich die Nazi-Diktatur, der Holocaust und die Teilung. Ich sprach gestern während des Symposiums mit Professor Walter Bernecker, er ist Historiker und Autor zahlreicher Werke zur spanischen Geschichte, und wir unterhielten uns über die spanische Erinnerungskultur. Ich fragte ihn, ob es im Spanischen eine Entsprechung zum deutschen Wort Vergangenheitsbewältigung gebe.

Bernecker: Nein, ich glaube, dass die deutsche Sprache da ziemlich einmalig ist, wir meinen, dass man die Vergangenheit bewältigen kann. Andererseits sind wir ja auch schon wieder etwas abgerückt von diesem Wort. Das ist ja ein inzwischen sehr altes Wort. In den 50er Jahren ist das bereits verwendet worden und ich glaube, dass wir uns langsam darüber im Klaren werden, dass man eigentlich die Vergangenheit gar nicht richtig bewältigen kann. Man kann sie aufarbeiten, analysieren, man kann Lehren daraus ziehen. Aber die spanische Sprache etwa kennt den Ausdruck in der Weise überhaupt nicht und es ist ganz symptomatisch, dass der Untertitel dieses Symposiums in Deutsch Vergangenheitsbewältigung heißt, aber im Spanischen kommt diese Wort gar nicht vor. Es lässt sich nämlich gar nicht übersetzen.

Heise: Warum glauben Sie denn, dass es so ein Wort in der spanischen Sprache nicht gibt? Steht das vielleicht für den Umgang der Spanier, für das lange Schweigen der Spanier zu ihrer Vergangenheit.

Bernecker: Vielleicht beantworte ich die Frage anders herum: Warum gibt es das im Deutschen? Es gibt es im Deutschen, weil wir, beziehungsweise die Generation unserer Eltern, vor ungefähr 40 Jahren der Meinung war, sie könnten tatsächlich die Vergangenheit bewältigen und sie haben auch ein Bedürfnis nach Bewältigung dieser Vergangenheit. Und hier kann ich jetzt ansetzen, das ist jetzt, glaube ich, der große Unterschied zum spanischen Fall. Natürlich gehen die Spanier auch mit ihrer Vergangenheit um, aber eben ganz anders. Dieser sehr intensive Wunsch, diese Vergangenheit in dem Sinne zu überwinden, dass man ständig wieder in der Vergangenheit herumstochert, dass man ständig die Vergangenheit weiter erforscht, dieser intensive Wunsch ist in der Weise in der spanischen Gesellschaft nicht vorhanden gewesen. Lange Zeit hat man eher gesagt, dass die Vergangenheit Vergangenheit sei. Das ist auch von offizieller Seite so proklamiert worden. Mit dieser Vergangenheit beschäftigen sich die Menschen, die professionell damit zu tun haben, das sind wir, die Historiker. Wir haben das immer getan, in Deutschland genauso wie in Spanien. Der Unterschied zum Deutschen besteht aber darin, dass eine große gesellschaftliche Auseinandersetzung, eine massenmediale Auseinandersetzung über das Fernsehen, über Rundfunk, über Ausstellungen, über Diskussionen, Symposien, stattgefunden hat, so dass tatsächlich ganze Schulklassen, Universitäten - also wie das in Deutschland eigentlich seit Jahrzehnten der Fall ist - etwas derartiges hat es in Spanien bisher nicht gegeben. Und wir erleben jetzt den Anfang so einer Art Aufarbeitung der Vergangenheit.

Heise: Würden Sie das denn bedauern, dass es das in Spanien noch nicht gegeben hat? Man hat mal gesagt, man hat am Anfang so eine Art Amnestie erlassen, damit die Demokratie sich überhaupt entwickeln konnte, weil man Angst hatte, es würde sich sonst in Spanien keine Demokratie entwickeln können nach dem Tod Francos.

Bernecker: Ja das ist richtig, allerdings ist die Amnestie eine rein juristische Maßnahme gewesen, nämlich die Verbrechen der Vergangenheit werden nicht verfolgt werden und das gilt für beide Seiten. Insofern hat es nichts zu tun mit der Frage, ob die Gesellschaft über dieses Thema debattiert. Das ist ja mehr eine Form der Amnesie und nicht der Amnestie. Den Spaniern ist oft gesagt worden, sie hätten diese Form der Amnesie gewählt. Sie fragen, ob ich das bedauere. Das ist eigentlich keine moralische Kategorie, ob ich es gut oder falsch finde. Es war die Form, die die Spanier in einer sehr kritischen Phase ihrer Geschichte, nämlich im Übergang von der Diktatur zur Demokratie, gewählt haben, um diesen Übergang zu ermöglichen. Es war die weit verbreitete Vorstellung, "Wenn wir jetzt anfangen, nach Francos Tod, über diese Dinge öffentlich zu debattieren, werden wir die Fronten der 30er Jahre, die zum Bürgerkrieg geführt haben, wieder aufreißen". Und die offizielle Politik von allen, von den Rechten, wie von den Linken, war "Wir wollen diese Gräben nicht wieder aufreißen, also lassen wir diese Debatte ruhen. Sie soll dort geführt werden, wo sie hingehört, nämlich in die Geschichtsbücher, bei den Historikern, auf die Tagungen, aber eben nicht im großen Kreis der Gesellschaft".

Heise: Sie haben gesagt, jetzt ist es anders geworden, jetzt ist es sozusagen raus aus den Hörsälen. Wer führt sie denn jetzt?

Bernecker: Die Diskussion wird inzwischen geführt, ich würde ganz allgemein sagen, von der Zivilgesellschaft, die Zivilgesellschaft, die sich ja in Spanien sehr organisiert hat. Ich denke etwa an die vielen Vereinigungen. Im Spanischen sagt man "por la recuperación de la memória historica", also zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses. Es gibt viele solche Organisationen auf regionaler, auf lokaler Ebene. Es wird aber jetzt auch geführt inzwischen im Fernsehen, es wird in den Massenmedien geführt. Das heißt also, große Teile der Gesellschaft sind inzwischen davon tangiert. Aber der Grund, warum sich das geändert hat, das sind im Wesentlichen zwei, zum einen ist es einfach der Faktor Zeit. Der Faktor Zeit, es ist eine neue Generation heute herangewachsen, die nicht mehr die Notwendigkeit sieht, diese Dinge zu verschweigen. Die vorhergehende Generation sah diese Notwendigkeit, gerade um die Demokratie zu ermöglichen und zu stabilisieren. Die heutige Generation sieht diese Notwendigkeit nicht mehr. Die Demokratie ist stabil. Also wir können und müssen inzwischen darüber reden. Das ist der eine, der Zeitfaktor und der zweite Faktor ist ein rein politischer. Ich denke, er hängt mit der Regierung der konservativen Partei in Spanien zusammen, die ja acht Jahre lang von 1996 bis 2004 in Spanien regiert hat, also gerade in den Jahren, in denen diese neuen Bewegungen, die jetzt so intensiv diese Debatte führen, aufgekommen sind. Und sie sind aufgekommen, gewissermaßen in Opposition und als Reaktion auf eine Geschichtspolitik, die diese konservative Regierung geführt hat, die ja gerade verhindern wollte, dass solche Debatten geführt werden, die von Regierungsseite aus verhindern wollte, dass zum Beispiel der Putsch von Franco 1936 verurteilt wird, die alles unternommen hat, um die Republikaner weiterhin im Abseits stehen zu lassen, die keine Gleichbehandlung der Unterlegenen im Bürgerkrieg möglich gemacht hat. Solche politischen Handlungen haben zu einer sehr massiven Reaktion, einer Gegenbewegung in der Gesellschaft geführt und das ist sicherlich der zweite Grund, weshalb wir gerade jetzt diese Bewegung erleben.

Heise: Sie haben gesagt, dass es jetzt wirklich auch die einfachen Menschen mit einbezieht, die jetzt anfangen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es werden zum Beispiel Massengräber aus der Francozeit geöffnet. Wenn ich mir jetzt vorstelle, in einem Dorf wussten dann ja doch alle, dass dort so ein Massengrab ist. Über Jahrzehnte ist darüber geschwiegen worden. Sie haben von Gräben wieder aufreißen gesprochen. Das geschieht doch jetzt, oder?

Bernecker: Ja, im wörtlichen Sinne geschieht es, dass die Gräben aufgerissen werden. Ob die Gräben in diesem übertragenen Sinne, nämlich zwischen den Menschen, wieder aufgerissen werden, ist eine ganz andere Frage. Man darf nicht vergessen, der Bürgerkrieg liegt jetzt inzwischen doch 70 Jahre zurück. In diesen Massengräbern liegen Menschen, die 1936 bis, sagen wir mal, 1940/41/42 erschossen worden sind. Danach hat ja diese extreme Brutalität, die massive Repression auch nachgelassen im Francismus, das heißt also, das ist jetzt mindestens 60 Jahre her. Sehr, sehr viele der unmittelbar Beteiligten leben nicht mehr. Es sind die Enkelkinder vor allem, die heute Klarheit haben wollen. Sie wollen keine Gräben aufreißen, sie wollen keine Rache. Niemand sagt das. Sie wollen Aufklärung und sie wollen schlicht weg ein würdiges Begräbnis für ihre Vorfahren.

Heise: Das heißt, die Enkel fragen jetzt. Die Kinder haben nie gefragt?

Bernecker: Die Kinder haben nicht darüber gesprochen, nein, die Angst war enorm. Man darf nicht vergessen, es ist eine ganze Generation Diktatur dazwischen gewesen, von 1939 bis 1975. Es war unmöglich in dieser Zeit diese Fragen anzusprechen. Und unmittelbar nach 75, nach Francos Tod, aus den eben genannten Gründen auch nicht. Dann sind noch einmal 25 Jahre vergangen und jetzt sind es in der Tat die Enkel, die darüber sprechen.


Service:

Das Symposium "Kultur des Erinnerns - Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland" findet vom 26. bis 28. Mai 2005 in Berlin statt.

Link:

"Kultur des Erinnerns" - Symposium zur Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland
Der israelische Außenminister Silvan Schalom, vorne, geht durch das Stelenfeld des Holocaust-Denkmals in Berlin
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