"Kultur des Erinnerns"

Von Markus Rimmele · 26.05.2005
Noch vor sehr kurzer Zeit wäre eine solche Veranstaltung wohl undenkbar gewesen. Das staatliche spanische Kulturinstitut lädt dazu ein, über Erinnerungskultur zu diskutieren. Dreißig Jahre lang existierte in Spanien ein Tabu. Über den Bürgerkrieg, der das Land so tief gespalten hatte, wurde nicht gesprochen.
Der Übergang zur Demokratie wurde erkauft durch ein kollektives Schweigen über die Vergangenheit. Doch seit kurzer Zeit bricht etwas auf in Spanien. Die Gesellschaft will wissen, was war. Die Kinder und Enkel der Opfer von Krieg und Diktatur schweigen nicht mehr, sondern forschen nach. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hält diesen Weg für alternativlos.

"Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben, sind nur eingeschränkt lebensfähig. Und ich meine, das gilt auch für Gesellschaften. Es gibt aus meiner Sicht nur zwei Formen des Gedächtnisverlustes: dass man sich wirklich nicht erinnern kann oder nicht erinnern will. Bei Individuen gibt es diese beiden Möglichkeiten, bei Gesellschaften gibt es nur die eine Möglichkeit, dass man sich nicht erinnern will. Und dieses ist ein Pfad, der meistens in die Lüge führt. Und wie wir als ältere Herren, die wir hier sitzen, wissen: Auf kurze Sicht funktionieren Lügen im Leben, auf längere Sicht funktionieren sie nicht. "

Spaniens Außenminister Miguel Ángel Moratinos pflichtet Fischer bei und betont, dass es kein Zufall ist, dass die Spanier bei der Aufarbeitung der Franco-Zeit oft nach Deutschland blicken.

Moratinos: "Ich glaube, Spanien kann auf diesem Gebiet viel von Deutschland lernen. Das Nachdenken über die eigene Geschichte begann in Deutschland 25 Jahre nach dem Kriegsende. Auch bei uns sind jetzt rund 25 Jahre seit der Einführung der neuen Verfassung vergangen. Die neue sozialistische Regierung in Spanien und überhaupt die allgemeine Situation im Land erlauben es nun, die Schubladen der Geschichte ein Stück zu öffnen und zu erfahren, was in Spanien zur Zeit des Bürgerkriegs passierte. Und dabei kann uns die Erfahrung der Deutschen behilflich sein. "

Tatsächlich befindet sich Spanien heute an einem Punkt, wo sich die Bundesrepublik Ende der 60er Jahre befand. Zahlreiche Bürgerinitiativen und lokale Gruppen haben sich gebildet und erforschen den Krieg und seine Folgen, den franquistischen Terror der Nachkriegszeit. Fast täglich fallen Tabus. Erst vor wenigen Wochen wurde in Madrid die letzte Franco-Statue der spanischen Hauptstadt vom Sockel geholt, und schon erklingen die ersten Stimmen, die das wie ein nationales Heiligtum umhegte Franco-Grab entfernen wollen. Dinge, an die bislang niemand, auch nicht die spanische Linke, zu rühren wagte. Zu groß war die Angst, die junge Demokratie durch alte Konflikte zu gefährden. Spanien steht noch ganz am Anfang der Aufarbeitung seiner dunklen 40 Jahre im 20. Jahrhundert. Kann da Deutschland mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit wirklich ein Vorbild sein? Joschka Fischer möchte dem nicht uneingeschränkt zustimmen. Die Deutschen hätten schließlich, anders als die Spanier, den Tod von mehr als 50 Millionen Menschen zu verantworten.

Fischer: "Und insofern ist Deutschland in einer sehr besonderen Situation. Man kann das nicht mit dem Bürgerkrieg in Spanien gleichsetzen. Sondern es war der Griff nach der Weltmacht um den Preis der völligen moralischen Selbstzerstörung, um furchtbarste Verbrechen. "

Und doch ist es sinnvoll für die Spanier nach Deutschland zu blicken, glaubt der Schriftsteller und ehemalige spanische Kulturminister Jorge Semprún. Wie wohl kaum ein anderer kennt er beide nationalen Tragödien. Als Sohn spanischer Republikaner musste er sein Heimatland in den 30er Jahren verlassen, schloss sich dem französischen Widerstand an und wurde von den Deutschen nach Buchenwald verschleppt. Für ihn hat Deutschland, was den Umgang mit der Vergangenheit angeht, sogar eine europäische Aufgabe, gerade auch in Hinblick auf den europäischen Osten.

Semprún: "Zum einen hat Deutschland als einziges europäisches Land Erfahrungen mit beiden Totalitarismen gemacht. Dann hat Deutschland enge historische Beziehungen nach Ost- und Mitteleuropa, häufig aggressiver Natur, aber immerhin existierende Beziehungen. Und schließlich der wichtigste Punkt: In Deutschland gibt es eine Geschichte der Selbstkritik, der so genannten Trauerarbeit. Ich glaube, Deutschland ist das Land in Europa, wo in den vergangenen Jahrzehnten von der Jugend, von Politikern und Akademikern die intensivste Selbstkritik geleistet wurde. "

Diese Selbstkritik hält auch der deutsche Außenminister für Spanien, aber immer wieder auch für Deutschland für unabdingbar. Er beklagt, dass hierzulande in jüngster Zeit das Hauptinteresse den Fragen nach Hitlers Alltag oder dem Leben im Führerbunker gegolten habe. Für ihn, den dieses Thema sichtlich immer wieder sehr bewegt, stehen andere Fragen im Vordergrund:

Fischer: "Wie war es möglich, dass sich unser Land so an das Verbrechen ausgeliefert hat gegen seine eigene bisherige Geschichte. Warum war es möglich, dass der Antisemitismus Deutsche zu Nichtdeutschen erklärt hat. Was für ein Selbstbild hatten wir? Und ich glaube, das Geheimnis liegt nicht im Führerbunker oder in den Nazis begraben. Sondern warum haben die Deutschen ihren größten Sohn vertrieben? Diese Fragen - und Einstein hat seinem Land nie mehr vergeben - die müssen beantwortet werden. Da findet man die Antwort, und nicht im Führerbunker. "

Antworten wollen in den kommenden Tagen auch die Referenten beim deutsch-spanischen Symposium finden. Das Spektrum reicht von Historikern bis hin zu Schriftstellern beider Länder.


Service:

Das Symposium "Kultur des Erinnerns - Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland" findet vom 26. bis 28. Mai 2005 in Berlin statt.

Link:

"Kultur des Erinnerns" - Symposium zur Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland
Der Schauspieler Bruno Ganz, links, als Adolf Hitler und Heino Ferch, rechts, als Albert Speer in dem Film "Der Untergang" von Bernd Eichinger
Szene aus dem Film "Der Untergang"© AP
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