Venezuela

In den Supermärkten fehlt es an allem

Sie sehen eine Frau, die einen Fisch putzt, rechts und links stehen Kinder.
In Venezuela trifft die Wirtschaftskrise die Ärmsten der Armen © AFP / Juan Barreto
Benjamin Reichenbach im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 25.05.2016
Der Leiter des Büros der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in Caracas, Benjamin Reichenbach, sieht Venezuela nah am Staatsbankrott. Es komme zu Protesten und Plünderungen, weil es an Lebensmitteln fehle und das Land aus der Wirtschaftskrise nicht herauskomme.
Das Modell der Ölrente, auf dem der Chavismus aufgebaut sei, sei in der Krise, sagte Reichenbach im Deutschlandradio Kultur. Die Regierung habe seit der Verhängung des Ausnahmezustandes Lokalkomitees per Dekret damit beauftragt, eine bessere Verteilung der Lebensmittel zu organisieren. In den Supermärkten fehlten Milch und Toilettenpapier, aber es gebe auch weniger Brot. Hinzu kämen Stromprobleme, sodass die öffentliche Verwaltung nur noch an zwei Tagen die Woche arbeite. In den Krankenhäusern würden die Patienten nicht mehr ausreichend versorgt.

Opposition will Regierung abwählen lassen

"Diese Komitees ändern aber nichts an den grundlegenden volkswirtschaftlichen Problemen des Landes", sagte Reichenbach. Sie hätten dazu geführt, dass die nationale Produktion zum Erliegen gekommen sei und sich immer mehr internationale Firmen aus Venezuela zurückzögen. Reichenbach nannte das Beispiel von Coca Cola und den Mangel an Zucker im Land. "Dieser Teil des Dekrets, wie viele Gesetze in den letzten Jahren, versucht eher an den Symptomen zu kurieren ohne sich tatsächlich mit den Ursachen auseinander zu setzen", sagte der Stiftungsvertreter. Die Opposition wolle ein Abwahlreferendum herbeiführen.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Es ist ein bisschen wie der alte Witz von der Einführung des Sozialismus in der Wüste: Was passiert? Zehn Jahre gar nichts, und dann wird der Sand knapp. So ist es derzeit in Venezuela. Das Land hat einen Riesenstandortvorteil, eigentlich, denn unter der Erde lagern immense Ölvorräte. Dennoch leidet es unter einer Energiekrise und einer Finanzkrise und einer Wirtschaftskrise, und dazu kommt noch das politische System. Präsident Nicolas Maduro hat per Dekret den Ausnahmezustand verhängt. Benjamin Reichenbach leitet in Caracas das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Guten Tag beziehungsweise guten Abend, denn bei Ihnen in der venezolanischen Hauptstadt ist es ja jetzt schon Nacht.
Benjamin Reichenbach: Guten Morgen, Frau Billerbeck!
von Billerbeck: Ausnahmezustand, was bedeutet dieses Dekret des Präsidenten?
Reichenbach: Mit dem Dekret, das die Regierung Maduro letzte Woche verhängt hat, wurden unter anderem sogenannte Lokalkomitees für Versorgung und Produktion geschaffen, die für eine bessere Verteilung der Lebensmittel sorgen sollen. Die Verteilung der Lebensmittel war zuletzt immer mehr problematisch. Diese Komitees ändern aber nichts an den grundlegenden volkswirtschaftlichen Problemen des Landes, die dazu geführt haben, dass die nationale Produktion immer mehr zum Erliegen gekommen ist und dass auch immer mehr internationale Produzenten sich aus Venezuela zurückziehen oder die Produktion einstellen, wie zuletzt der Fall Coca-Cola aus Mangel an Zucker. Das heißt, dieser Teil des Dekrets, wie viele andere Gesetze in den letzten Jahren, versucht eher an den Symptomen zu kurieren, ohne sich tatsächlich mit den Ursachen auseinanderzusetzen.
von Billerbeck: Wie lässt sich das im Alltag beobachten? Sie leben ja dort in Caracas? Was heißt in Venezuela Krise? Wie merkt man das zum Beispiel beim Einkaufen?
Reichenbach: Die Situation der venezolanischen Bevölkerung ist natürlich sehr , sehr angespannt, und das trifft vor allem auch in Hinblick auf den Zugang zu Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs zu. Das heißt, es gibt viele Produkte nicht so einfach zu kaufen. Wenn Sie in einen Supermarkt gehen, finden Sie eben kein Toilettenpapier, Sie finden auch keine Milch, kein Olivenöl. Es gibt auch immer weniger Brot, weil es an Weizenmehl fehlt et cetera. Dann gibt es Stromprobleme, Probleme der Stromversorgung, die dazu geführt haben, dass der öffentliche Dienst nur noch zwei Tage die Woche arbeitet, was wiederum nicht dazu beiträgt, die Produktion anzukurbeln. Das Land befindet sich im dritten Jahr in Folge in einer Rezession, und die Inflation liegt inzwischen im dreistelligen Bereich. Das heißt, wir sind in einer extrem erratischen wirtschaftlichen Situation, die sich immer weiter zuspitzt, was inzwischen eben teilweise auch dazu führt, dass es Proteste und Plünderungen durch die Bevölkerung gibt.

Selbst chronisch Kranke werden nicht behandelt

von Billerbeck: Wenn Sie davon sprechen, dass der öffentliche Dienst auch leidet und auch sogar nur zwei Tage die Woche arbeitet, dazu gehört ja auch so was wie zum Beispiel die Krankenhäuser. Was bedeutet das für ganz normale Menschen, wenn die Krankenhäuser da auch nicht richtig funktionieren?
Reichenbach: Das ist natürlich ein großes Problem im Gesundheitssektor. Es gibt also eine dramatische Unterversorgung, die mit unterschiedlichen Faktoren zusammenhängt. Da kommt auch dazu, dass es eben an Material fehlt, dass es an Medikamenten fehlt, dass es auch eine starke Abwanderung von Humankapital gerade im Gesundheitsbereich gegeben hat. Das heißt, es gibt zu wenig Ärzte, es gibt auch zu wenig Pflege- und Krankenpersonal. Das heißt, in der Folge können so gut wie nur noch Notfälle behandelt werden und selbst chronisch Kranke mit sehr schweren Erkrankungen nicht mehr behandelt werden, und das heißt auch, das eben jeder, der einen Krankheitsfall in der Familie hat, sehr große Anstrengungen unternehmen muss, um überhaupt an einen Platz im Krankenhaus zu kommen und die Versorgung ein Stück weit mit aufrechtzuerhalten, das ist sehr schwierig für viele Menschen in Venezuela.
von Billerbeck: Stichwort Versorgung: Zu lesen ist hier auch, dass das Militär und von den Sozialisten kontrollierte Bürgerwehren ermächtigt seien, notfalls mit Waffengewalt die Lebensmittelversorgung sicherzustellen. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Reichenbach: Das ist ein Passus, der in dem genannten Dekret enthalten ist. Das ist jetzt so noch nicht zur Anwendung gekommen, aber ich habe im Eingang genannt, dass eben sogenannte Lokalkomitees zur Versorgung gebildet worden sind. Die Idee ist, dass die Versorgung reibungsloser und die Verteilung der Produkte reibungsloser ablaufen soll als vorher und dass man die Bevölkerung dabei mit einbezieht. In der Praxis funktioniert das eher schwierig natürlich, aber wie gesagt, das Grundproblem liegt auch dahinter, nämlich, dass es einfach zu wenig Produkte gibt, unabhängig davon, wie diese verteilt werden.

Fehlender Wille für Reformen

von Billerbeck: Venezuela ist also in einer schweren Krise, man rechnet mit einem Staatsbankrott. Und wenn so ein Ruin kurz bevorsteht, da fragt man sich, wie reagiert die Regierung Maduro darauf? Hält sie an den beschlossenen Sozialprogrammen fest?
Reichenbach: Ja, die Regierung Maduro sieht die Ursache der Krise in einem Wirtschaftskrieg, verursacht durch die Privatwirtschaft und Teile der politischen Opposition und das Ausland. Das heißt, sie ist zumindest im Kern, der Spitze der Regierung, nicht gewillt, die Reformen zu machen, wie sie eben von der Opposition gefordert werden. An den Sozialprogrammen hält sie zwar fest, aber es geht ihr natürlich immer mehr das Geld aus, was auch mit den sehr stark fallenden Ölpreisen zu tun hat. Das heißt, dass das Modell, auf dem der Chavismus in den letzten 15 Jahren aufgebaut hat, die Ölrente, ist immer mehr in der Krise, und das ist ein Problem für die Regierung, das natürlich immer schwieriger zu lösen ist und sie nahe an den Staatsbankrott heranführt.
von Billerbeck: Sie arbeiten für eine politische Stiftung, erleben also auch die Politik sehr hautnah in dem Land, über das Sie berichten und in dem Sie tätig sind. Erleben Sie eigentlich noch Opposition? Findet die in dem Land noch statt? Denn die Opposition hatte ja bei den Wahlen 2013 nur knapp verloren.
Reichenbach: Ja, die Opposition hat ja im Dezember die Parlamentswahlen sehr eindeutig für sich entschieden, was dazu geführt hat, dass es jetzt seit Januar, seitdem das neue Parlament hier angetreten ist, eine Auseinandersetzung zwischen Regierung und Parlament gibt, sozusagen eine Auseinandersetzung der politischen Gewalten. Die Opposition will ein Abwahlreferendum gegen Präsident Maduro durchführen, und die Möglichkeit eines solchen Referendums ist in der venezolanischen Verfassung ausdrücklich vorgesehen, wenn 25 Prozent der Wahlberechtigten das unterschreiben. Allerdings sind die Konsequenzen eines solchen Referendums unterschiedlich, je nachdem, wann es stattfindet.
Wenn es noch 2016 stattfindet und der Präsident abgewählt würde, müssten Neuwahlen angesetzt werden. Wenn es aber erst 2017 zu einem solchen Referendum kommt, würde es nach einer Abwahl automatisch zu einer Übernahme des Vizepräsidenten kommen. Das heißt, es gibt einen politischen Streit zwischen Regierung und Opposition über das Datum eines Abwahlreferendums, und die Opposition hat wenig Druckmittel, den Termin für ein solches Referendum festzusetzen.

Kein Ausweg in Sicht

von Billerbeck: Als Kenner des Landes, wie schätzen Sie es ein, wohin steuert Venezuela? Wird es aus dieser Krise rauskommen, und wenn ja, wie?
Reichenbach: Es fällt derzeit sehr schwer, sich einen vernünftigen Ausweg aus der Krise vorzustellen. Jede zukünftige Regierung, egal ob Chavismus oder Opposition, wird tiefgreifende wirtschaftliche Reformen durchführen müssen, und die sind in jedem Fall mit extrem hohen politischen Kosten verbunden. Hinzu kommt, Sie haben es genannt, hoher Einfluss des Militärs und ineffiziente staatliche Institutionen. Das sind alles Rahmenbedingungen, die in anderen Ländern in historisch vergleichbaren Situationen zu so etwas wie nationalen Einheitsregierungen oder parteiübergreifenden politischen Pakten geführt haben. Davon ist in Venezuela aber überhaupt nichts erkennbar.
Vielmehr ist der Eindruck, dass beide politische Lager das jeweils andere vernichten wollen, wobei die Regierung eben den wenig intakten Staatsapparat kontrolliert und die Opposition von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird. Eine Lösung wird von manchen Beobachtern in internationaler Vermittlung gesehen. Es wird immer wieder Kuba genannt oder auch der Vatikan. Das ist aber eine Option, die nicht sehr einfach wäre vermutlich. Die andere Option, die denkbar erscheint, ist, dass der Chavismus es schafft, Maduro als Präsidenten in naher Zukunft selbst, intern abzulösen, egal, welche Option aber auch immer sich in der Realität verwirklichen würde, die strukturellen Probleme des Landes, wie der Wiederaufbau der nationalen Produktion, dürften sehr, sehr lange, mehrere Jahre mit Sicherheit in Anspruch nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema