Venedig

Das erste Ghetto der Welt

Was wie ein einfacher Bretterverschlag wirkt ist die fast 500 Jahre alte Synagoge Scola Canton.
Die Synagoge Scola Canton in Venedigs Ghetto © picture-alliance/ dpa / Ron Sachs
Von Arkadiusz Luba / Online-Text: tmk · 26.08.2016
"Ghetto", das steht für Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt – doch das Ghetto Nuovo in Venedig garantierte Juden auch Schutz vor Pogromen und Inquisition. Nun wurde das erste abgeschlossene Judenviertel im modernen Europa 500 Jahre alt.
"Es ist, wissen Sie, wie zurück nach Hause zu kommen", sagt die 85-jährige Rachel aus London. Sie betritt das Campo del Ghetto Nuovo in Venedig zum ersten Mal wieder nach über 70 Jahren. Es ist zu schwer für sie, mehr darüber zu sagen als: "Da ich die Vergangenheit kenne: Es ist nicht ruhig für mich hier. Zu viel Leiden."
Rachel kam nach Venedig, um den 500. Jahrestag der Entstehung des ersten Ghettos in der Welt zu gedenken. Ihre Familie musste zur Zeit der Naziherrschaft in Europa aus Venedig fliehen. In diesen Tagen denkt sie an die Stadt von 1516.
Die Glocken der Basilika St. Marco läuten, um ein Dekret des Senats zu verkünden. In dem alten Dokument heißt es:
"Sei es befohlen, dass alle Juden, die jetzt in verschiedenen Vierteln unserer Stadt leben, und all die, die von auswärts kommen, bis auf weitere Überlegung, in die abgesonderten Häuser des Gettos, das die Kapazitäten dafür hat, gehen und alle zusammen leben müssen. Diese Anordnung ist unverzüglich auszuführen. Es sei ihnen nicht gestattet, irgendwo anders zu wohnen, als in dem genannten Bezirk; so, dass sie nachts nicht umher ziehen."

Von Christen bewacht

Das Ghetto Nuovo war eine kleine von Kanälen umschlossene Insel am Stadtrand, zu der man über zwei Brücken gelangen konnte. Das zitierte Dekret des Dogen verlangte an diesen beiden Zugangspunkten Tore zu errichten. Sie wurden von Christen bewacht, täglich beim ersten Schlag der Glocke geöffnet und zur Mitternacht wieder geschlossen. So entstand das erste abgeschlossene Judenviertel im modernen Europa. Es war der 29. März 1516.
"Das Wort 'Ghetto' stammt von dem venezianischen 'geto'. Es bedeutet 'Guss'. In dem Campo del Ghetto Nuovo befanden sich früher Kupfergießereien. Aber keiner freut sich, dass das erste Ghetto hier entstand. Und was es für mich bedeutet? Das ist ein Ort mit interessanten Geschichten", sagt Barbara Del Mercato, Organisatorin der Gedenkfeierlichkeiten "500 Jahre Ghetto von Venedig". Nachdem die Gießerei im 14. Jahrhundert schloss, kaufte eine Bauunternehmerfamilie den Grund, räumte ihn und baute Reihenhäuser zur Miete.

Deutsche Juden flüchteten hierher vor der Verfolgung

Anfangs lebten hier 700 Familien – italienische und viele aschkenasische Juden aus Mitteleuropa, die jiddisch sprachen. Für sie war das Wort "geto" (sprich: "dżieto") schwierig auszusprechen. Sein Klang, so wie wir ihn heute kennen, ist auf sie zurückzuführen.
Deutsche Juden flüchteten hierher vor der Verfolgung. Die levantinischen Juden zogen nach. Mitte des 16. Jahrhunderts kamen die Juden aus Spanien und aus Portugal. Fünf Synagogen dienten jeweils einer anderen Stammgruppe von Juden.
In Venedig dieser Zeit durften die Juden als Ärzte, Kaufmänner, Geldverleiher und Lumpenhändler arbeiten. Im 17. Jahrhundert kontrollierten sie den Außenhandel. Geschäfte und Wissenschaften blühten. Mit der Französischen Revolution riss 1797 Napoleon die Tore zum Ghetto ab. Bis zu Mussolinis Rassengesetze von 1938 hatten die Juden in Venedig viele Freiheiten. Sie mussten allerdings außerhalb des Ghettos ein gelbes Zeichen an ihren Schultern und später einen gelben Hut tragen.

Der gelbe Davidstern hat wohl hier seinen Ursprung

"Der gelbe Davidstern, den alle Juden zur Nazizeit tragen mussten, hat wahrscheinlich hier seinen Ursprung. Er wurde zum Symbol rassistischer Verfolgung der Juden", sagt Paolo Navarro Dina, der Sprecher der jüdischen Gemeinde von Venedig.
Ein sogenannter Judenstern
Ein sogenannter Judenstern© picture alliance / dpa / Foto: Caroline Seidel
Und doch meinen manche Akademiker, das erste Ghetto sei nicht aus ideologischen oder rein religiösen Gründen eingerichtet worden. Das Bedürfnis, Menschen verschiedener Abstammungen, verschiedener Sprachen und verschiedener Gewohnheiten voneinander zu trennen hat eine lange Tradition. Oft führen solche Unterschiede nämlich zu Konflikten zwischen den Einheimischen und den Fremden. So sei die Idee des venezianischen Ghettos ziemlich widersprüchlich, unterstreicht Donatella Calabi, Professorin für Urbanistik und Buchautorin über das Ghetto Nuovo: "Das Ghetto ist sicher ein abgeschlossener Raum, es ist ein Raum der Segregation. Der Senat wusste, dass Konflikte entstehen können. Daher seine Idee, die geschäftstüchtigen Juden eingeschlossen in der Stadt zu behalten, sie aber auch so zu beschützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit der Stadt auszutauschen."
Petra Schaefer, Kunsthistorikerin am Deutschen Studienzentrum in Venedig, ergänzt: "Über die Jahrhunderte gab es in Venedig immer wieder die Bestrebungen der Republik Venedig, fremde Lebenswelten in irgendeiner Form hier aufzunehmen, aber natürlich auch zu kontrollieren. Das Ghetto ist hier ein zentrales Thema. Und damit verbunden natürlich auch die Frage der einschließenden, eingrenzenden und ausgrenzenden Architektur. Es gibt heute diese ausgrenzende Architektur nicht mehr. Die Brücken sind offen, die Tore sind offen. Wir können uns ganz frei bewegen zwischen einer und einer anderen Gemeinschaft."
Das Campo del Ghetto Nuovo des ehemaligen jüdischen Viertels von Venedig ist ein beliebter Treffpunkt vor allem für Touristen. Die meisten Juden leben heute in anderen, nobleren Teilen der Lagunenstadt. Aber für Paolo Navarro Dina blieb das alte Ghetto ein Teil seiner Identität. Er sagt: "Für mich sind dies alle jüdischen Feste, wie zum Beispiel der Seder zum Pessach. Auch der hebräisch-venezianische Dialekt, der keine hohe Sprache ist, sondern ein Slang. Venedig ist wie eine Welthauptstadt des Judentums."

Das Ghetto soll ein jüdisches Kulturzentrum werden

Heute leben nur knapp 500 Juden in Venedig. Viele von ihnen, wie andere Venezianer auch, suchen ihr Glück woanders in der Welt. Der Erberat von Venedig will mit über zehn Millionen Euro Budget das Ghetto sanieren und ein jüdisches Kulturzentrum daraus machen. Zusätzlich müsste die Gemeinde international handeln, um lebendig zu bleiben, meint Davide Federici und hofft, dass seine Organisation "Venice beyond the Ghetto" es auch ermöglichen wird.
"Noch stirbt die Gemeinde nicht, sie ist aber krank: Ihre Population und ihre Vitalität gehen zurück", sagt Federici. "Sie erlebt das Gleiche, wie die Stadt Venedig. Man könnte sie wieder gesund machen, wenn sich die jüdische Gemeinde mehr nach außen öffnet. Warum nicht eine Art koschere Schule für die Welt hier eröffnen? Und vor allem junge Leute einbinden."
Ob Venedig und deren jüdischen Gemeinde der Umbruch gelingt? Das weiß Marta Moretti von der städtischen Organisation Venezia Unica nicht. Der Name ist jedoch Programm: "Das Ghetto ist ein Unikat und ein Teil einer ebensolchen Stadt. Man fühlt den Geist eines besonderen Ortes und nimmt seine Schönheit wahr. Man sollte die Chance nutzen und sie erkunden."
"Niemand außer Gott kann so etwas wie Venedig erschaffen. Das ist vielleicht die größte Leistung der Menschheit und die, die sie Gott am ehesten gleichen lässt. Da man solche Wunder nicht erschaffen kann, sollte man jene erhalten, die es gibt", schrieb einmal die französische Philosophin Simone Weil. Sie bleibt auch heute aktuell.
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