Vor 500 Jahren

Das erste "Ghetto" für Juden wird in Venedig errichtet

Der "Campo Ghetto Nuovo", Hauptplatz des Juden-Ghettos in Venedig, das 1516 als eigener Stadtteil eingerichtet wurde
Der "Campo Ghetto Nuovo", Hauptplatz des Juden-Ghettos in Venedig, das 1516 als eigener Stadtteil eingerichtet wurde © picture alliance / dpa
Von Henning Klüver · 29.03.2016
Anfang des 16. Jahrhunderts herrschten in Mitteleuropa kriegerische Verhältnisse: Flüchtlinge zog es nach Venedig, wo man sich auf den Laguneninseln sicherer glaubte als auf dem Festland. Unter den Fremden befanden sich auch viele Juden. Am 29. März 1516 bekamen diese ein eigenes Stadtviertel: das "Ghetto".
Es ist der 29. März 1516. In Venedig läuten die Glocken anlässlich der Verkündung eines Dekretes des Senates der "Serenissima Repubblica". Alle Personen jüdischen Glaubens, welcher Nationalität auch immer, müssen ab sofort Wohnsitz auf einem Gebiet am westlichen Rand der Lagunenstadt nehmen, das als Ghetto Nuovo bekannt ist.
Paolo Navarro Dina: "Wir stehen hier auf dem Campo del Ghetto Nuovo, das ist der zentrale Platz des Ghettos und sein ältester Kern. Hier fand die erste Zwangsansiedlung der Juden 1516 statt, als die Stadt die Einrichtung des Ghettos anordnete."
Es ist Abend und ganz still auf der merkwürdig fünfseitigen Piazza, auf der Paolo Navarro Dina, ein Sprecher der jüdischen Gemeinde von Venedig, steht. Nur vom nahen Ormesini-Kanal hört man das Tuckern eines Bootes.

Juden durften das Gebiet nur tagsüber verlassen

Der Name "Ghetto" leitet sich von dem venezianischen Begriff für eine Kupfergießerei in dieser Gegend ab. Das Gebiet wurde von Kanälen umflossen und war nur über zwei Brücken zu erreichen. So konnten die Zugänge, die nachts ganz verriegelt wurden, leicht kontrolliert werden. Die Juden durften das außerdem mit einer Mauer umschlossene Gebiet nur tagsüber verlassen.
Romedio Schmitz-Esser: "Aber so schrecklich das klingt in unseren Ohren, ist dieser Abschluss natürlich auch ein Bekenntnis zum Zusammenleben."
Der Historiker Romedio Schmitz-Esser leitet das Deutsche Studienzentrum in Venedig. Das waren kriegerische Jahre am Anfang des 16. Jahrhunderts. Durch Norditalien zogen französische und spanische Truppen und bedrohten das Hinterland von Venedig. Viele Menschen, darunter auch zahlreiche Juden, flohen in die multinationale Handelsmetropole in der Lagune mit ihren deutschen, griechischen und türkischen Minderheiten. Deren Ansiedlungen wurden ebenso kontrolliert, wenn auch nicht so streng wie bei den Juden, die das Pfandleih- und Bankwesen bedienten. Auch das wollte die Stadt mit der Gründung des Ghettos in den Griff bekommen.
Romedio Schmitz-Esser: "Wenn man sich anschaut, wie das zum Beispiel parallel dazu in anderen Regionen aussieht, etwa in Spanien, wo 1492 die Juden aus dem Land vertrieben werden, dann sieht man schon, dass das natürlich ein völlig anderer Zugang ist. Also man braucht die Juden, man möchte sie auch haben, man arbeitet mit ihnen zusammen."
Das Beispiel machte Schule. Ähnliche Einrichtungen wurden später ebenso in Rom und anderen europäischen Städten eingerichtet. Doch in Venedig ging es im Vergleich toleranter zu, als an vielen anderen Orten. Zeitweilig lebten hier rund 5000 Juden. Im Ghetto wurde es eng. So wuchsen die Häuser für Venedig ungewöhnlich sieben, acht Stockwerke hoch. Als das Ghetto unter Napoleon 1797 aufgelöst wurde, zogen viele Juden anderswo hin. Und die Kommunalverwaltung fing an, das Viertel kräftig zu sanieren, wie Donatella Calabi erzählt, die an der Universität Stadtgeschichte unterrichtet.
Donatella Calabi: "Der Besucher, der heute ins Ghetto kommt, glaubt sich in einem Viertel des 16. Jahrhunderts. Doch das ist nicht so. Es handelt sich zwar geographisch genau um das Gebiet des Ghettos. Aber von den Bauten her, da hat es doch entscheidende Eingriffe gegeben. Das Ghetto heute stammt im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert.

Stolpersteine im ganzen Stadtgebiet

Schon lange wohnen fast keine Juden mehr hier. "Stolpersteine", die der Kölner Künstler Gunter Demnig auch in Venedig zur Erinnerung vor Wohnungen jüdischer Einwohner verlegt hat, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben kamen, sind im ganzen Stadtgebiet verstreut. 250 Juden aus Venedig kamen damals nicht mehr aus den Lagern zurück. Heute zählt die jüdische Gemeinde etwa 450 Mitglieder. Auch die Familie von Paolo Navarro Dina lebt in einem anderen Viertel. Dennoch ist der Campo del Ghetto Nuovo ein Zentrum für die religiösen, sozialen und kulturellen Aktivitäten der Gemeinschaft geblieben.
Paolo Navarro Dina: "Auf diesem Platz können wir drei Synagogen finden. Die älteste ist die deutsche Synagoge. Daneben gibt es das Museum, das in den 1950er-Jahren eingerichtet wurde. Da drüben liegt das israelitische Altersheim in dem flachen Bau aus dem 19. Jahrhundert. Und auf dem Campo haben wir außerdem zwei Denkmäler, die an die Shoa erinnern."
Denn das Ghetto von Venedig, das erste abgeschlossene Judenviertel in der neueren Geschichte, hatte ja auch den städtischen Einrichtungen einen Namen geliefert, die während des Zweiten Weltkriegs zum Ausgangspunkt der mörderischen Vernichtungsmaschine Hitlerdeutschlands wurden.
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