Wieteke van Zeil: „Sieh hin. Ein offener Blick auf die Kunst“

Das Ganze im Kleinsten entdecken

06:52 Minuten
Das Cover zeigt das Gemälde einer Frau mit einer altertümlichen Kopfbedeckung.
© Verlag E.A. Seemann

Wieteke van Zeil

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Sieh hin. Ein offener Blick auf die KunstE.A. Seemann , Leipzig 2022

224 Seiten

26,00 Euro

Von Eva Hepper · 11.03.2022
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Wer auf die Details achtet, hat mehr vom Ganzen. Das ist die These der Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil. Ihre Bildbetrachtungen sind ein großes Vergnügen.
Das giftgrüne Teufelchen gibt sich große Mühe. Es wirft sein ganzes Gewicht in die Waagschale. Brüllend und mit aufgerissenen Augen will es die Entscheidung des Erzengels Michael zu seinen Gunsten beeinflussen. Das Menschlein in der anderen Waagschale soll zur Hölle geschickt werden.  
Die Szene der Seelenwägung auf dem großen Rosenkranz-Triptychon von Hans Süß von Kulmbach ist nur ein kleines Detail am linken unteren Rand. Fast könnte man es übersehen in all der farbenfrohen Pracht und Herrlichkeit, und doch zeigt sich genau hier das ganze Drama: die Sogwirkung des Bösen.

Wie vielversprechend es ist, ein Kunstwerk über seine Details zu erschließen, weiß die Niederländerin Wieteke van Zeil. Seit Jahren schreibt die Kunsthistorikerin in einer viel beachteten Zeitungskolumne über prachtvolle Gemälde und Skulpturen.

Das vermeintlich Nebensächliche

Ihr Blick gilt dabei stets dem vermeintlich Nebensächlichen: einem Paar Handschuhe, einem Hund am Bildrand, einem Mann im Hintergrund oder einer kaum sichtbaren Stecknadel. 43 dieser Bildbetrachtungen hat sie nun in einem so originellen wie lesenswerten Buch versammelt.
Alle Kunstwerke – berühmte wie auch weniger bekannte – werden mit zwei Abbildungen präsentiert, leider sind die oft zu klein und nicht in ausreichender Qualität gedruckt. So sieht man zunächst auf einer Seite nur das eine Detail, nach dem Umblättern folgt dann das Bild als Ganzes. Das ist effektvoll, weil sich so nicht gleich offenbart, um welches Werk es sich handelt, und wo sich der Ausschnitt befindet.
So zeigt eine Abbildung etwa kleine rote Flecken, die sich am Saum eines Dekolletés entlangziehen. Es sind, wie sich herausstellt, Blutspritzer, die die Künstlerin Artemisia Gentileschi ihrer Judith aufs Kleid gemalt hat. Damit wirkt das oft gemalte Sujet der grausamen Enthauptung des Holofernes noch realistischer.  
Auch die Bordellszene von Frans van Miers dem Älteren offenbart ihre niederschmetternde Tristesse erst durch den kaum sichtbaren Trunkenbold, der links auf dem Tisch schläft. Und der feine Schleier, den Petrus Christus seiner jungen Dame als Accessoire um den Nacken gelegt hat, wird gar erst sichtbar durch die Stecknadel, die ihn am Kleid festhält.

Zahlreiche Tipps für die Kunst des Sehens

Tatsächlich geht es Wieteke van Zeil in ihren Bildbetrachtungen um die Kunst des Sehens. Das vermittelt sie nicht nur in ihren lebendig geschriebenen, die Bilder begleitenden Texten, das führt sie auch in der Einleitung aus.
Hier gibt die Autorin viele nützliche Tipps, die helfen, das Auge zu schulen. Beispielsweise nur ein einziges Bild im Museum zu studieren oder die Ecken zu mustern, bevor man ins Zentrum blickt. Auch den Titel nicht zu beachten, kann beim freien Assoziieren helfen.
So macht die Kunstbetrachtung nicht nur großes Vergnügen, sie führt auch zu neuen Erkenntnissen. Das Flohpelzchen im Porträt der Bianca Ponzoni Anguissola dürften sicher die wenigsten kennen – von seiner Bedeutung ganz zu schweigen.
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