Uwe Timm: "Ikarien"

Zwischen Ruinen und Rassisten

Soldaten der US-Armee stehen am 07.05.1945 vor dem stark beschädigten Hofbräuhaus in München. Dazu das Buchcover von Uwe Timms Buch "Ikarien".
Uwe Timm: "Ikarien" © dpa - report/ Kiepenheuer & Witsch
Von Ursula März · 07.10.2017
Uwe Timm ist ein Experte darin, sich die Vergangenheit vorzuknöpfen. In mehreren Romanen und Erzählungen beleuchtete der Schriftsteller die 68er-Bewegung. Für sein neues Werk "Ikarien" hat er sich mit dem Erfinder des Begriffs "Rassenhygiene" befasst. Der Roman spielt in der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fast jedes der Prosawerke von Uwe Timm führt in die Vergangenheit, bevorzugt in Umbruchsepochen des 20. Jahrhunderts. So untersuchte er in mehreren Romanen und Erzählungen die Revolte der 68er, in anderen die Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus. Auch Timms neuer Roman "Ikarien" ist historisch angesiedelt. Die Kernhandlung spielt Ende April 1945, in jener Stunde Null genannten Zeit anarchischer Auflösung. Aber Timms vielschichtiger Roman greift weit darüber hinaus und eröffnet eine faszinierende Fluchtlinie: Den Übergang sozialistischer Gesellschaftsutopien zum braunen Gedankengut rassistisch-eugenischer Menschenverbesserung.

Alfred Ploetz, ein Pionier der Eugenik

Die fiktive Hauptfigur des Romans ist der 25-jährige Michael Hansen. Er ist amerikanischer Offizier deutscher Herkunft, mit den alliierten Truppen nach Kriegsende in München stationiert. Hansen wird vom US-Geheimdienst beauftragt, die Beziehung zwischen dem NS-Regime und dem Wissenschaftler Alfred Ploetz zu untersuchen. An diesem Punkt vermischt sich die Romanfiktion mit historischer Dokumentation: Alfred Ploetz war eine reale Figur, eine politisch schillernde zudem. Er gilt als Pionier der Eugenik, nicht zuletzt als Erfinder des Begriffs "Rassenhygiene".
Im 19. Jahrhundert begeisterte sich Ploetz für die ebenfalls historisch-reale Bewegung der Ikarier, der Timms Roman seinen Titel verdankt. Inspiriert von dem französischen Revolutionär Étienne Cabet gründeten die Ikarier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika nach sozialistischen Maximen organisierte Gemeinden.

Hören Sie hier auch das Gespräch, das wir mit Uwe Timm auf der Frankfurter Buchmesse geführt haben:
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Ploetz fuhr als junger Mann in die USA, um die gelebte Utopie der Ikarier kennenzulernen. Sie befriedigte ihn nicht. Ihm schwebte eine fundamentalere Umwälzung der Gesellschaft vor: Die Auslese der Rasse. Sie wurde zum Zentrum seiner fanatischen wissenschaftlichen Erforschung der Eugenik, die er schließlich in den Dienst des Nationalsozialismus stellte. Der ehemals sozialistische Alfred Ploetz bereitete den Verbrechen der NS- Euthanasie den Weg.

Schicksalserzählungen der menschlichen Art

All dies umfasst der Erzählstoff des Romans, der eine gewaltige Beiladung historischen Materials transportiert und somit die Gefahr birgt, zur interessanten, wenn auch literarisch etwas zähen Geschichtslektion zu geraten. Dass er dieser Gefahr entgeht, verdankt er einem Kunstgriff: Der Autor schickt seinen Helden Michael Hansen in ein Münchner Antiquariat, wo er dem Dissidenten Walden begegnet. Er ist ein ehemaliger Weggefährten von Alfred Ploetz, der sich von ihm lossagte und in einem Konzentrationslager inhaftiert wurde. In langen, spannend zu lesenden Gesprächen gibt Walden nun dem amerikanischen Offizier Auskunft über seine Lebensgeschichte, seine Freundschaft mit Ploetz und dessen satanischen Pakt mit dem Nationalsozialismus.
Anschaulich illustriert der Roman dabei das Alltagsleben der Stunde Null - nicht zuletzt die amourösen Begegnungen Vertretern der amerikanischen Siegermacht und deutschen Frauen. Auch Michael Hansen verliert sein Herz an eine junge Dame, deren wirtschaftlicher Pragmatismus an Rainer Werner Fassbinders Film "Die Ehe der Maria Braun" erinnert. Neben politischem Erkenntnisgewinn bietet "Ikarien" Schicksalserzählungen der menschlichen Art. Beides aber verrät die literarische Konstruktionskunst eines engagierten Alterswerks.

Uwe Timm: "Ikarien"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017
512 Seiten, 24 Euro

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