US-Gesundheitssystem

Obama bleibt zweite Wahl bei den Ärmsten

Von Kerstin Zilm · 18.11.2013
Obamacare, so heißt das Gesetz im Volksmund, das eine Krankenversicherung für alle garantieren soll. Doch arme Amerikaner interessieren sich nicht für das neue Gesetz. Sie nutzen stattdessen mobile Kliniken, wo über das staatliche Hilfsprogramm Medicaid kostenlose Behandlungen angeboten werden.
Mehr als 50 Zahnarztstühle stehen auf dem Spielfeld der "LA Sports Arena". Unter dem Basketballkorb werden Spritzen, Plastikhandschuhe, Watterollen und Füllmaterial ausgegeben. Ärzte und Krankenschwestern in blauen Papierkitteln laufen hin und her. Ihre Patienten sitzen in den Zuschauerrängen, aufgeteilt in Sektionen: Zahnreinigung, Zahnfüllung und Zahnziehen. Auf einem der Stühle wartet Cornel McPherson auf seine Voruntersuchung.
"What can we do for you?"
Der muskulöse Mittvierziger in grauer Jogginghose und rotem T-Shirt braucht eine Brücke:
"Mir fehlen zwei Backenzähne. Ich kann auf der Seite nicht mehr kauen, beim Basketball rausgehauen mit einem Ellbogen."
Der Kriegsveteran jobbt als Hausmeister, bekommt finanzielle Unterstützung über das staatliche Programm Medicaid. Das schließt aber Zahnbehandlungen aus. Eine Brücke soll 5000 Dollar kosten. Das kann sich McPherson nicht leisten. Eigentlich braucht er auch eine Brille. Bei der Anmeldung musste er sich aber zwischen Zahn- und Augenbehandlung entscheiden. Die Brücke war ihm wichtiger.
"Ich bete, dass ich irgendwie auch Hilfe bekomme"
McPherson: "Ich hab mir Obamacare noch nicht angeschaut, weil ich eine Krankenversicherung nicht wirklich brauche"
Später vielleicht mal, sagt er noch. Hat er dann keinen Anspruch mehr auf Medicaid, zwingt ihn das neue Gesetz sogar, eine Krankenversicherung abzuschließen.
Heute hat der Arzt schlechte Nachrichten für ihn: die Klinik kann keine Brücke anfertigen. Er schickt ihn in die Warteschlange für Füllungen.
"We have to do everything we can to make sure every American has access to quality, affordable health care." —President Obama— Barack Obama (@BarackObama) November 14, 2013
In den Katakomben unter den Zuschauerrängen lassen die Patienten ihre Blutwerte testen. Mikey White sitzt erschöpft auf einem der Plastikstühle – über dem Schoß eine schwere Wolljacke. Neben der 50-Jährigen steht ein kleiner Rollkoffer. White ist mit Zug und Bus zum Stadion gekommen. Sie hat eine Zahnfleischentzündung und Probleme beim Lesen:
"Ich brauche einfach eine Brille. Ich bete, dass ich irgendwie auch Hilfe mit dem Zahnfleisch bekomme, zumindest Medizin gegen die Entzündung. Ich habe Blasen am Zahnfleisch, man kann es sehen."
"Das hier ist besser!"
Seit drei Jahren hat die alleinerziehende Mutter keinen festen Job, war zeitweise obdachlos und bekommt nur minimale staatliche Hilfe durch Medicaid. Auch sie hat sich noch nicht über Obamacare informiert:
"Ich hab mir nicht mal die Mühe gemacht, reinzuschauen. Es war nicht die richtige Zeit. Das hier ist besser!"
White hat gute Erfahrungen mit improvisierten Kliniken wie dieser und schlechte Erfahrungen mit der staatlichen Kinderversicherung für ihren Sohn gemacht:
"Ich landete andauernd morgens um zwei in der Notaufnahme, weil er nicht atmen konnte. Aber niemand hat ihn richtig diagnostiziert. Bis die Kindergärtnerin mir schließlich sagte: 'Das ist Asthma!' Ich musste schwer um ein Inhalationsgerät für zu Hause kämpfen."
Dann die erste gute Nachricht des Tages: White hat keine Diabetes.
„Your sugar is at 95 ..."
Der Arzt schickt sie weiter zum Augentest. White nimmt die Wolljacke über den Arm und zieht mit ihrem Rollkoffer ab. Dabei lässt sie einen Informationsstand zum Thema Gesundheitsreform links liegen.
Faltblätter warten auf Kundschaft
Am Stand sitzen drei Vertreter von Covered California, einer Organisation, die bei der Anmeldung zu Obamacare hilft. Sie legen Faltblätter und Broschüren in Fächerform und warten auf Kundschaft. Nur eine Frau beugt sich über die Infos. Betty Davis füllt für ihren Sohn ein Formular aus. Der ist 28, arbeitslos und ohne Krankenversicherung.
Betty Davis: "Er hat zu Hause eine Vase umgestoßen und sich dabei das Bein aufgeschlitzt. Wir zahlen jetzt noch für die Notaufnahme. 600 Dollar für 20 Stiche. Nachbehandlung können wir uns nicht leisten. Ich hab´ die Fäden selbst gezogen."
Ein Gipsarm mit der Aufschrift: "I love Obamacare"
Eine der seltenen Sympathiebekundungen: "I love Obamacare." © AFP
Am Stand bekommt sie allgemeine Informationen – aber keine konkrete Hilfe:
"Wir können ihnen keine spezifischen Angaben machen. Wir füllen mit ihnen ein Formular aus mit Name, Adresse und wie man sie am besten erreichen kann. Dann kontaktiert sie ein Spezialist."
… sagt Valerie Lopez und bringt die Broschüren wieder in Fächerform.
Unterdessen liegt Cornel McPherson auf einem Zahnarztstuhl, die Hände um seine Tasche gekrallt. Der Zahnarzt entfernt Zahnstein. Er unterstützt die Gesundheitsreform. Gilberto Garcia sagt aber: Obamacare kann nur funktionieren, wenn gleichzeitig – wie in Kalifornien – das Medicaid-Hilfsprogramm ausgebaut wird. Ansonsten drohen acht Millionen Geringverdiener trotz Versicherungspflicht durchs Netz zu fallen.
Informationstisch wird nicht gewürdigt
Garcia : "Mir tun all die Menschen leid, die sich keine Krankenversicherung leisten können. Alle brauchen das! Ich bin sicher, dass Kliniken wie diese weiter nötig sind, weil auch mit dem neuen Gesetz viele die Versicherung nicht zahlen können."
Garcia füllt zwei Löcher und drückt seinem Patienten noch Nummern von Kliniken in die Hand, die Zahnersatz fast kostenlos anbieten. Cornel lächelt schief und bedankt sich mit kräftigem Händedruck:
"Good job anyway, really appreciate it...."
Dann macht er sich auf den Weg zur kostenlosen Essensausgabe. Den Informationstisch zu Obamacare würdigt er mit keinem Blick.
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