US-Fernsehserie "Holocaust"

Ein Meilenstein der Erinnerungskultur

Das Bild zeigt eine Szene aus der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust", in der deportierte Juden auf dem Weg ins Konzentrationslager durch den Schnee gehen.
Deportation ins Konzentrationslager: Szene aus der US-Serie "Holocaust" © picture-alliance / dpa
Von Stefan Reinecke · 07.01.2019
Die deutsche Erstausstrahlung von "Holocaust" im Januar 1979 war ein unvergleichliches Medienereignis: Nun läuft die US-Serie erneut im Fernsehen. Sie entfalte ihre emotionale Wucht auch heute noch, urteilt der Journalist Stefan Reinecke.
Manche weinten, andere gestanden, selbst beim Massenmord an jüdischen Zivilisten im Osten dabei gewesen zu sein. Als im Januar 1979 die Serie "Holocaust" im deutschen Fernsehen zu sehen war, riefen Tausende bei den ausstrahlenden dritten Programmen an. Nie zuvor hat ein Film ein solches Redebedürfnis ausgelöst. "Holocaust" setzte eingekapselte Erinnerungen frei. Jüngere fragten Ältere: Was habt ihr damals getan?
Vor dem Bildschirm – man hatte damals nur einen Fernseher im Haushalt – schloss sich für einen Moment die Kluft zwischen der kodifizierten offiziellen Erinnerung und dem familiären Gedächtnis.

WDR, NDR und SWR zeigen die vierteilige US-Serie "Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss" ab 7. bzw. 9. Januar 2019.

Emotionale Bilder von Tätern und Opfern

Die emotionale Wucht der Serie verdankte sich den Bildern von Tätern und Opfern. Die großbürgerliche jüdische Familie Weiss ist perfekt assimiliert, und lädt zur reibungslosen Identifikation ein. Der Täter, der SS-Mann Eric Dorf ist kein grimmiger, sadistischer Übermensch, sondern ein arbeitsloser, unpolitischer Jurist, der zum pragmatischen Organisator des Massenmordes wird.
Es war kein Zufall, dass Dorf und andere untere SS-Chargen von amerikanischen Schauspielern dargestellt wurden – während Himmler und Heydrich von Briten gespielt wurden. Das amerikanische Publikum sollte sich mit dem Täter identifizieren können.
Die Figur Dorf sollte zeigen: Jeder kann zum funktionierenden Rädchen einer Verbrechensmaschinerie werden. 1978, im Jahr der amerikanischen Erstausstrahlung, sollte das US-Publikum auch an Vietnam und My Lai denken können. Dort hatte Willam Calley, ein "all american boy", ein Massaker an Zivilisten befehligt.

Konkrete Geschichte und universelle Metapher

Eine Botschaft von "Holocaust" lautete: Es kann überall passieren. Das fügte sich in den 1970er und 80er-Jahren in die generelle Skepsis gegenüber der industriellen Moderne. Waren nicht Atomkraft und Wettrüsten auch Katastrophen, die von gesichtslosen, effektiven Bürokraten gemanagt wurden?
Die Serie Holocaust hatte somit einen doppelten Effekt. Sie führte in Deutschland konkret das Verdrängte vor Augen. Und sie markierte gleichzeitig eine Station in der Verwandlung des historischen Geschehens in eine universelle Metapher. Das Wort Holocaust wurde auch wegen dieser Serie zum Begriff, der Genozide und Menschheitsverbrechen symbolisiert.

Täter waren in Wirklichkeit keine "weißen Blätter"

Bei dieser Metaphorisierung und der Inszenierung des SS-Täters als Jedermann ging auch etwas verloren. Die Organisatoren der Vernichtung waren in Wirklichkeit keine unpolitischen Karrieristen wie Eric Dorf, keine weißen Blätter, die von den Nationalsozialisten beschrieben wurden.
Sie waren, wie wir aus der Täterforschung wissen, Akademiker, Juristen und Historiker, die kühl die Ausrottung der "Untermenschen" planten, organisierten und durchführten. Es waren freundliche, gebildete Männer, die Literatur und Musik schätzten. Sie wussten, was sie taten und nahmen die Kosten in Kauf.

Auch 40 Jahre nach Erstausstrahlung aktuell

Und wie wirkt die Serie Holocaust 2019? Überraschend vital. "Holocaust" ist konventionell, fast bieder erzählt, viele Dialoge, kein Bilderspektakel. Die Wirkung speist sich aus der noch immer effektiven Idee, Geschichte als doppelte Familiengeschichte zu zeigen. So rücken uns Täter und Opfer nah vor Augen.
Die Serie mobilisiert Gefühle, man leidet mit den Opfern - vor allem aber erzählt "Holocaust" die Geschichte der Vernichtung, von der Reichspogromnacht bis zur Wannseekonferenz, von Babi Jar bis zum Warschauer Ghettoaufstand. Und man muss nichts über die NS-Geschichte wissen, um diese Serie zu verstehen.
Laut einer Umfrage von 2017 wissen 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht, was Auschwitz war. Es gibt offenbar ein Defizit an handlich verpackter, barrierefreier historischer Aufklärung wie "Holocaust" sie bietet. Insofern ist diese Serie aktuell. Überraschend, erschreckend aktuell.

Stefan Reinecke, geboren 1959, ist seit 15 Jahren als Redakteur und Publizist in Berlin tätig, u. a. als Redakteur beim "Tagesspiegel" und bei der "taz", für die er derzeit als Autor arbeitet. Mehrere Buchveröffentlichungen, zuletzt eine Biografie von Christian Ströbele.

Der Publizist Stefan Reinecke
© privat

Für die "taz" hat Stefan Reinecke mit der Regisseurin Alice Agneskirchner über ihre Dokumentation "Wie 'Holocaust' ins Fernsehen kam" gesprochen.

Mehr zum Thema