"Narrative zwischen Fakt und Fiktion – Der Holocaust im Comic", Veranstaltung an der FU Berlin, Friedrich Schlegel Graduiertenschule
In scharfem Kontrast zur Realität in den Lagern
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Art Spiegelmans "Maus" ist das prominenteste Beispiel: In etlichen Comics ist der Holocaust Thema - mal ernsthaft-pädagogisch, mal trashig und grell. Die Comicexperten Jörn Wendland, Ole Frahm und Marcus Streb luden im Rahmen eines Workshops an der FU Berlin dazu ein, über die unterschiedlichen Darstellungsformen zu diskutieren.
Eine Frau in typisch holländischer Tracht auf einem Steg. Hinter ihr liegt das Hafenbecken, ein Segelboot ist zu sehen und die im Dunst verschwimmenden Umrisse einer typisch altholländischen Stadt. Auf den ersten Blick ein Bild, wie es von einem der alten Meister hätte stammen können. Doch gemalt hat es der niederländische Häftling Henri Pieck 1945 im KZ Buchenwald, als Auftragsarbeit für einen deutschen Stabsarzt der Waffen-SS.
Mit diesem Wissen verändert sich der Blick auf die scheinbare Idylle. Greift der blau-weiß-gestreifte Trachtenrock nicht das Muster der Häftlingskleidung im Lager auf? Und liegen im Blick der Frau und in ihren verschränkten Armen nicht Resignation und Trauer? Neben solchen Auftragsarbeiten, die den Künstlern mitunter das Leben retteten, sind es auf Schmierzettel gemalte Alltagsszenen, bissige Karikaturen über das eigene Elend oder gekritzelte Wunschbilder aus einer Welt jenseits des Lagers. Die Organisatorin des Workshops, die Berliner Literaturwissenschaftlerin Anna Beckmann, sieht in ihnen ein wichtiges Stück Erinnerungskultur:
"Dass die Häftlingszeichnungen aufgrund ihrer Perspektive von den Opfern gezeichnet vielleicht mehr authentisch sind als Täter-Fotografien, die aber in der allgemeinen Rezeption immer als das Authentischere wahrgenommen werden. Und da eben genauer hinzuschauen und zu gucken, ob man nicht vorgegebene oder erlernte Blickpositionen aufbrechen [muss] und zu gucken, was kann da noch mit reingenommen werden und noch beachtet werden."
Das Bildgedächtnis neu strukturieren
Genau diesen Blick findet der Hamburger Comicexperte Ole Frahm in Art Spiegelmans Arbeit wieder:
"Die Leistung von 'Maus' scheint mir darin zu liegen, die Häftlingszeichnungen in eine neue Erzählung zu bringen und damit unser Bildgedächtnis ganz anders zu strukturieren: Dem nationalsozialistischen Fotogedächtnis das Häftlings-Zeichnungs-Gedächtnis gegenüberzustellen."
Apropos "Maus": Der in Breslau geborene Horst Rosenthal zeichnete im Lager Gurs im besetzten Frankreich zwei Mickey-Maus-Adaptionen. Die lustigen Bilder mit den naiv-amüsanten Texten stehen in scharfem Kontrast zur harten Realität des Lagers. Für Ole Frahm ein gutes Beispiel für die Kraft der Fiktion im Comic:
"Meine Lieblingsstelle in dem Comic ist, dass er gefragt wird: 'Name des Vaters?'- 'Walt Disney' – 'Name der Mutter: Ich habe keine Mutter.'- 'Herkunftsland?'- 'Ich bin international.' Und da: 'Aaah, Sie sind jüdisch.' Und das wird da natürlich eine Aneignung. Dass die Comicfigur natürlich einen anderen Charakter hat und damit eine Identifikationsfigur wird. Sie ist international, jeder kann sie werden, und sie kann dann eben auch aus den Lagern raus, was Horst Rosenthal eben nicht beschieden war."
Ernsthafte neben trashigen Comics
Rosenthal wurde vermutlich 1942 von den Nazis ermordet. Die "Mickey-Maus-im-Lager-Comics" wurden zu seinem Vermächtnis. Heute gibt es neben den ernsthaften auch jede Menge ziemlich trashiger Comic-Auseinandersetzungen mit der Schoah.
Der Gießener Comicforscher Markus Streb hat weltweit über 170 solcher Bände und Hefte ausfindig gemacht. Ihn interessieren vor allem die Genderstereotype in den Darstellungen. Und davon gibt es - besonders in den Action- und Super-Hero-Comics der 60er- und 70er-Jahre - reichlich. Das typische Erzählschema:
"Frauen sind in irgendwelchen Konzentrationslagern, müssen von dem meist halbnackten oder mit Schwimmanzug bekleideten männlichen Helden gerettet werden und haben meist nur eine passive Rolle. Ich habe aber sehr viele Abweichungen davon gefunden. Spannende Gegenbeispiele, von bewaffneten jüdischen Jugendlichen, zum Beispiel Mädchen mit deutschen Maschinenpistolen, die im Widerstand gegen die Nazis kämpfen. Besonders bemerkenswert, weil die Forschungen zu jüdischem weiblichen Widerstand bis heute eigentlich marginal sind und in den Siebzigern solche Comics zu finden, das war für mich beeindruckend."
Die Suche geht weiter. Und die nächste Tagung zum Thema plant Streb auch schon. Auch Ole Frahm wird wieder mit von der Partie sein, denn für ihn gibt es noch eine Menge zu tun:
"Gerade in Bezug auf Comics wird der Holocaust meiner Meinung nach nicht genug interpretiert. Man tut so, als könnte man sich mit dem Holocaust beschäftigen wie mit Malerei des 16. Jahrhunderts und das - würd ich sagen - geht zumindest in Deutschland nicht."
Literaturtipp:
Wesentliche Impulse für den Workshop lieferten die von Jörn Wendland beforschten Häftlingszeichnungen von KZ Insassen:
Jörn Wendland: Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern
Böhlau Verlag, Wien&Köln&Weimar 2017, 409 Seiten, 70 Euro