Kommentar

Ein Lob auf das Vielleicht

03:53 Minuten
Schwarzweiss-Illustration, in der sich zwei Personen auf Stühlen gegenübersitzen. Die Köpfe sind in einer Wolke verborgen.
Manche Themen sind wirklich komplex und verwirrend - hier könnte es helfen, auch mal keine Meinung zu haben. © Getty Images / gremlin
Ein Einwurf von Tobias Rosefeldt |
Audio herunterladen
Es gibt wenig, was so schnell zur Hand ist wie das Urteil. Doch muss man auf jede Frage gleich eine Antwort, zu jedem Thema eine Meinung haben? Das schnelle Urteil verbaut oft den Weg, ein Problem wirklich zu verstehen - und zu konstruktivem Dialog.
Das Urteil kommt wie eine Erlösung über uns. Denn was wir nicht länger aushalten, sind die Fragen. Brauchen wir eine höhere Erbschaftssteuer? Soll Deutschland weiter Waffen an die Ukraine liefern? Ist Gendern Befreiung oder Bevormundung? Und sollte man im Getränkeautomaten der Schule unserer Kinder Coca-Cola kaufen können?
Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, können sie uns quälen wie das offene Ende einer Episode unserer Lieblingsserie; von der wir aber glücklicherweise die ganze Staffel besitzen. Und zum Glück können wir ja auch urteilen. Etwa: Eine höhere Erbschaftssteuer muss her, weil die soziale Ungleichheit in Deutschland eine Schweinerei ist. Waffenlieferungen haben bisher keinen Frieden gebracht, also sollten wir sie einstellen. Gendern ist albern. Und die Cola muss weg.

Muss man auf jede Frage eine Antwort haben?

Natürlich gibt es auch Leute, die zu diesen Fragen keine Meinungen haben, denken wir. Das sind die Unpolitischen, die Uninteressierten, denen das alles egal ist und die auf Elternabenden ohnehin lieber Sportnachrichten auf ihrem Handy lesen. Doch wer politisch und sozial engagiert ist, der bildet sich ein Urteil und ist auch mutig genug, es zu äußern. Engagierte Menschen mögen zwar nicht immer im Recht sein, aber sie haben immer eine Meinung.
Aber muss das so sein? Man kann eine Frage ja nicht nur bejahen oder verneinen. Man kann sie auch offenlassen und sich des Urteils enthalten. Denn manche Frage sind vielleicht zu interessant, schwierig und facettenreich, um sie schnell zu beantworten.
Ist es nicht problematisch, wenn Familienbetriebe bei jedem Generationenwechsel hohe Steuern zahlen müssen? Welche mittel- und langfristigen Folgen hätte eine militärische Überlegenheit Russlands in Osteuropa? Hat Gendern wirklich ausgrenzende Effekte? Wie genau bringt man das Autonomiestreben von Kindern mit der Sorge um ihre Gesundheit ins richtige Verhältnis, und ist Cola nicht immerhin gut gegen Durchfall?

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Solche weiterführenden Überlegungen wird nur anstellen, wer die Ausgangsfrage noch nicht beantwortet hat. Und deswegen ist Urteilsenthaltung in diesem Fall kein Mangel an Interesse an einer Frage, sondern eine Voraussetzung für die Suche nach der besten Antwort auf diese. So jedenfalls sehen das die Philosophen. 

Die Gesetze der Politik

Okay, wird man jetzt sagen: Praktiziert ihr keuschen Philosophen eure Urteilsenthaltsamkeit gerne weiter in eurem Elfenbeinturm. Aber in der Sphäre der Politik geht es anders zu. Da muss man Position beziehen, hart aber fair. Politiker müssen schließlich irgendwann entscheiden, und Wählerinnen irgendwann eine Wahl treffen.
Aber könnte es nicht auch anders sein? Könnte hart aber fair zu diskutieren nicht bedeuten, dass Talkshow-Gast 1 sagt: „Also diese Sache ist wirklich so kompliziert und es gibt so viel dabei zu bedenken, dass ich mir auch nicht ganz sicher bin.“ Und Talkshow-Gast 2 würde dann antworten: „Das kann ich verstehen, und von dem, was meine Partei dazu vorschlägt, bin ich auch nicht zu 100, sondern nur zu 57 Prozent überzeugt. Lassen Sie uns doch morgen bei Maischberger weiter darüber reden.“

Ein Fragezeichen statt eines Rucks

Müsste vielleicht gar kein Ruck durch Deutschland gehen, sondern ein riesiges doppelt unterstrichenes Fragezeichen? Und könnte die Weihnachtsansprache des Bundeskanzlers nicht einmal mit den Worten beginnen: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht?" Würden unsere politischen Herzen dann nicht beginnen, sich einander wieder zu öffnen?
Diese Fragen möchte ich hier einmal in den Raum stellen. Und Sie bitten, Ihre Antwort darauf noch eine Weile zurückzuhalten.

Tobias Rosefeldt ist Professor für klassische deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der kantischen und nach-kantischen Philosophie, sowie in der zeitgenössischen Metaphysik und Sprachphilosophie. Hochschulpolitisch engagiert er sich seit vielen Jahren für eine nachhaltigere Stellenstruktur an deutschen Universitäten.

Porträt des Tobias Rosefeldt, Professor für klassische deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin
© Tobias Rosefeldt
Mehr zum Thema Philosophie