Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

"Triage ist immer schrecklich"

08:17 Minuten
Ein Intensivpfleger versorgt einen Covid-19-Patienten auf einer Intensivstation. Um das Bett herum stehen mehrere medizinie Apparate. Der Pfleger schaut konzentriert auf einen Bildschirm.
Wer wird behandelt, wenn die Intensivbetten knapp werden? Das Verfassungsgericht fordert Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung im Falle einer Triage. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Jan Woitas
Nancy Poser im Gespräch mit Julius Stucke |
Audio herunterladen
Das Bundesverfassungsgericht fordert gesetzliche Regelungen, die Menschen mit Behinderung im Falle einer Triage schützen. Das sei eine Richtungsentscheidung, findet die Juristin und Behindertenrechtsaktivistin Nancy Poser.
Wenn Mediziner auswählen müssen, welchem Patienten sie helfen und welchem nicht, kann dies eine Entscheidung über Leben oder Tod sein. Diese Priorisierung wird Triage genannt, wie diese angewendet wird, wurde bislang nur durch klinisch-ethische Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften geregelt. Gesetzliche Vorgaben fehlten. Das muss sich nun ändern, urteilte am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. Geschützt werden müssten dabei vor allem auch Menschen mit Behinderung.

Kriterien diskriminieren

Dem Urteil in Karlsruhe ging eine Verfassungsbeschwerde voraus, die unter anderem von Nancy Poser eingereicht worden war. Die Juristin ist Richterin und Gründungsmitglied des Vereins AbilityWatch. Für Poser ist es wichtig, dass es nun – wie vom Verfassungsgericht beschlossen – zu einer unverzüglichen Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzes kommt.
In diesem Prozess sei es notwendig, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit einbezogen werden, unter anderem auch Menschen mit Behinderung. Wie letztlich die gesetzliche Regelung aussehen werde, sei noch nicht absehbar. Doch solle diese nach dem Verfassungsgericht Menschen aufgrund ihrer Behinderung nicht schlechter stellen, unterstreicht die Juristin.
Verfassungsbeschwerde habe sie eingelegt, erläutert Poser, weil die bisherige Leitlinie der Intensiv- und Notfallmedizinervereinigung DIVI nicht an den Schutz der Grundrechte von behinderten Personen gebunden gewesen sei. Zwar steht in dieser Leitlinie, dass nicht nach Alter oder Behinderung diskriminiert werden darf. Doch dies sei Makulatur, sagt die Juristin, denn es würden Kriterien angelegt, „die nur alte und behinderte Menschen erfüllten.“

Menschen nicht aussortieren

Durch die Gebrechlichkeitsskala würden fitte Menschen höher bewertet als diejenigen, die etwa auf Hilfsmittel oder Unterstützung angewiesen seien. „Wenn ich das als Kriterien anlege, brauche ich hinterher nicht sagen, ich diskriminiere nicht nach Alter und Behinderung“, so die Juristin.
Gerade behinderte Menschen seien es gewohnt, dass sie falsch eingeschätzt würden, gibt Poser zudem zu bedenken. Das gelte auch bei den Überlebenschancen eines Menschen. Diese könnten von niemanden im Vorhinein beurteilt werden.
„Ich kann doch nicht die vermeintlich Schwachen aussortieren, um statistisch gesehen mehr Menschen zu retten“, unterstreicht Poser. „Da sind wir bei Argumentationen, die wir in Deutschland nicht mehr haben sollten.“ Denn: „Triage ist immer schrecklich, egal wer dran glauben muss.“
(rzr)
Mehr zum Thema