Unübersichtlichkeit kann "in Schuldenkrisen führen"
Zum Auftakt der Aktionswoche "Schuldnerberatung 2011" fordert der Soziologe Götz Lechner mehr Schuldnerberatungsstellen. Der häufigste Grund für eine Überschuldung ist nach seinen Erhebungen Arbeitslosigkeit, gefolgt von Trennung oder Scheidung.
Jörg Degenhardt: Wir reden in diesen Tagen viel über die Schuldentragödie in Athen. Niemand macht gerne Schulden, niemand hat gerne welche, das gilt im Großen, das gilt im Kleinen. Trotzdem leben in Deutschland über drei Millionen Haushalte über ihre Verhältnisse. Hilfe tut also not, doch die Helfer brauchen selbst Unterstützung. Mit einer bundesweiten Aktionswoche unter dem Motto " … und wer rettet uns? Schuldnerberatung in der Krise!" wird die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungen von heute an auf die angespannte Situation aufmerksam machen.
Wir wollen zunächst über die sprechen, die auf den Beistand der Schuldnerberatungen angewiesen sind. Dr. Götz Lechner forscht seit 15 Jahren an der Technischen Universität Chemnitz zum Thema Verbraucherüberschuldung. Ich grüße Sie, Herr Lechner!
Götz Lechner: Guten Morgen!
Degenhardt: Sieht der typische Schuldner 2011 anders aus als der vor, sagen wir, zehn Jahren?
Lechner: Das kann man eigentlich so nicht sagen. Der typische Schuldner, den gibt es eigentlich nicht. Schuldner finden wir in allen Schichten, allen Lagen der Gesellschaft, von ganz unten bis ganz oben. Schuldner sind zwar in den unteren Bereichen des Schichtgefüges deutlich häufiger anzufinden als in den oberen, aber wir finden sie tatsächlich überall.
Degenhardt: Vielleicht kann man anders fragen: Wer ist besonders gefährdet?
Lechner: Besonders gefährdet sind Arbeitslose. Arbeitslosigkeit ist der Grund Nummer eins für den Eintritt von Überschuldungskrisen, gefolgt von Trennung, Scheidung und, - den Überblick verloren zu haben. Den Überblick verloren zu haben, ist ein typisches Phänomen der modernen Gesellschaft. Seit ungefähr 30 Jahren reden wir von Individualisierung der Gesellschaft. Individualisierung meint, dass man nicht mehr klar durch bestimmte Dinge, die man in seinem Leben früh erlernt hat, dahingezogen wird, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. So entsteht Unübersichtlichkeit, Unübersichtlichkeit, die dann auch wiederum in Schuldenkrisen führen kann.
Degenhardt: Habe ich so noch nicht gehört, aber ich lerne auch gerne dazu. Unübersichtlichkeit, heißt das, es sind vor allem ältere Menschen betroffen?
Lechner: Es sind auch ältere Menschen betroffen. In unseren Untersuchungen war der Älteste 84 Jahre alt. Also, das kommt tatsächlich auch vor. Überschuldung ist aber auch ein Prozess, ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht. Und manifest werden die Überschuldungskrisen dann meistens in der Mitte des Lebens.
Degenhardt: Sie lehren in Chemnitz, da liegt die Frage nahe: Gibt es noch signifikante Unterschiede zwischen Ost und West, was das Schuldenmachen angeht?
Lechner: Eigentlich nicht. 20 Jahre nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung sind hier keine expliziten Unterschiede mehr zu sehen.
Degenhardt: Und wie ist das bei Mann und Frau?
Lechner: Eigentlich auch nicht mehr. Wir hatten eigentlich erwartet, dass es zwischen Männern und Frauen hier signifikante Unterschiede gebe, aber die lassen sich eigentlich auch nicht nachweisen.
Degenhardt: Die Frage ist jetzt: Wie kommt man wieder raus aus der Schuldenfalle, geht das überhaupt ohne Hilfe?
Lechner: Ohne Hilfe geht es nicht. Der Weg aus den Schulden heraus führt in Deutschland seit 1999 vorrangig über das Verbraucherinsolvenzverfahren. Das Verbraucherinsolvenzverfahren ist ein Verfahren, das auf sechs Jahre angelegt ist, und am Ende dieser sechs Jahre steht eine Restschuldbefreiung. Am Anfang des Verbraucherinsolvenzverfahrens hat der Gesetzgeber einen außergerichtlichen Einigungsversuch zwischen Schuldner und Gläubiger vorgesehen. Dieser außergerichtliche Einigungsversuch muss von einer geeigneten Stelle bescheinigt werden. Und in ungefähr 60 Prozent aller Fälle sind das Schuldnerberatungsstellen. Im Übrigen haben seit Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens in Deutschland rund 750.000 Verbraucher diesen Weg gewählt.
Degenhardt: Noch mal zurück zum Stichwort Privatinsolvenz: Hat da aus Ihrer Sicht der Gesetzgeber ausreichend getan für die, die Hilfe brauchen?
Lechner: Das Verbraucherinsolvenzverfahren sieht nur zur Eröffnung des Verfahrens Hilfe durch eine Schuldnerberatungsstelle oder einen Rechtsanwalt vor. Danach sind die Schuldner auf sich selbst gestellt. In unseren Untersuchungen wurde klar, dass aber die Hälfte aller Schuldner im Verfahren selbst noch Hilfe bräuchte. Hierfür sind aber keine Mittel vorgesehen.
Degenhardt: Ist das nur eine Frage des Geldes?
Lechner: Es ist eine Frage dessen, dass man das auch mal einfach rechtlich beziehungsweise gesetzlich vorsehen müsste. Es ist bisher nicht vorgesehen, dass die Schuldner noch mal beraten werden, dass ihnen noch mal geholfen wird.
Degenhardt: Herr Lechner, wenn die Schuldnerberatungsstellen so eine wichtige Funktion innehaben – nicht zuletzt deswegen gibt es ja auch jetzt diese Aktionswoche –, müsste man sie dann nicht stärker unterstützen, beziehungsweise müsste dann das Netz dieser Stellen noch ausgebaut werden? Denn ich könnte mir vorstellen, das dauert ja durchaus einige Zeit, bis man – das ist vielleicht von Bundesland zu Bundesland verschieden – dort auch einen Beratungstermin erhält?
Lechner: Dem ist durchaus so. Von Bundesland zu Bundesland verschieden kann man sehr deutlich sehen, dass die Dichte der Schuldnerberatungsstellen sehr stark damit korreliert ist, wie schnell man letztendlich ein Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnen kann. Wenn Verbraucher in Not geraten sind, wenn sie die Notwendigkeit vor Augen haben, ein Verbraucherinsolvenzverfahren zu eröffnen, muss Schuldnerberatung vorgehalten werden. Und das ist je nach Bundesland sehr unterschiedlich. Es gibt hier ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, im Norden ist die Schuldnerberatung deutlich besser ausgebaut als im Süden.
Degenhardt: Woran liegt das? Vielleicht geht es den Menschen in Bayern nicht so schlecht, da braucht man nicht so viele Beratungsstellen?
Lechner: Man kann auch in Bayern regional sehen, dass dort, wo die Wirtschaft floriert, es deutlich weniger Probleme gibt, und dort, wo sie nicht floriert, gibt es deutlich mehr Probleme.
Degenhardt: Sie forschen, Herr Lechner, seit 15 Jahren zu diesem Thema. Was kann man denn nach einer so langen Zeit noch Neues entdecken?
Lechner: Man kann zum Beispiel Neues entdecken im Rahmen dessen, was Biografien letztendlich bei diesen Gefährdungslagen meinen. Ein ganz erstaunliches Ergebnis meiner Studien ist, dass Scheitern von Bildungsbiografien vielen ganz frühzeitig den Weg in Schuldenkrisen ebnet. Das heißt, wenn man es nicht schafft, den Bildungsabschluss des Vaters zu erreichen, sondern darunter bleibt, hat man ein doppelt so hohes Risiko, in Überschuldungskrisen zu geraten.
Degenhardt: Vielen Dank! Anlässlich der zehnten Aktionswoche der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung sprach ich mit Dr. Götz Lechner. Er leitet die Arbeitsgruppe Soziale Ungleichheit und Überschuldung an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Chemnitz. Ich bedanke mich für das Gespräch!
Lechner: Danke Ihnen!
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Wir wollen zunächst über die sprechen, die auf den Beistand der Schuldnerberatungen angewiesen sind. Dr. Götz Lechner forscht seit 15 Jahren an der Technischen Universität Chemnitz zum Thema Verbraucherüberschuldung. Ich grüße Sie, Herr Lechner!
Götz Lechner: Guten Morgen!
Degenhardt: Sieht der typische Schuldner 2011 anders aus als der vor, sagen wir, zehn Jahren?
Lechner: Das kann man eigentlich so nicht sagen. Der typische Schuldner, den gibt es eigentlich nicht. Schuldner finden wir in allen Schichten, allen Lagen der Gesellschaft, von ganz unten bis ganz oben. Schuldner sind zwar in den unteren Bereichen des Schichtgefüges deutlich häufiger anzufinden als in den oberen, aber wir finden sie tatsächlich überall.
Degenhardt: Vielleicht kann man anders fragen: Wer ist besonders gefährdet?
Lechner: Besonders gefährdet sind Arbeitslose. Arbeitslosigkeit ist der Grund Nummer eins für den Eintritt von Überschuldungskrisen, gefolgt von Trennung, Scheidung und, - den Überblick verloren zu haben. Den Überblick verloren zu haben, ist ein typisches Phänomen der modernen Gesellschaft. Seit ungefähr 30 Jahren reden wir von Individualisierung der Gesellschaft. Individualisierung meint, dass man nicht mehr klar durch bestimmte Dinge, die man in seinem Leben früh erlernt hat, dahingezogen wird, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. So entsteht Unübersichtlichkeit, Unübersichtlichkeit, die dann auch wiederum in Schuldenkrisen führen kann.
Degenhardt: Habe ich so noch nicht gehört, aber ich lerne auch gerne dazu. Unübersichtlichkeit, heißt das, es sind vor allem ältere Menschen betroffen?
Lechner: Es sind auch ältere Menschen betroffen. In unseren Untersuchungen war der Älteste 84 Jahre alt. Also, das kommt tatsächlich auch vor. Überschuldung ist aber auch ein Prozess, ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht. Und manifest werden die Überschuldungskrisen dann meistens in der Mitte des Lebens.
Degenhardt: Sie lehren in Chemnitz, da liegt die Frage nahe: Gibt es noch signifikante Unterschiede zwischen Ost und West, was das Schuldenmachen angeht?
Lechner: Eigentlich nicht. 20 Jahre nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung sind hier keine expliziten Unterschiede mehr zu sehen.
Degenhardt: Und wie ist das bei Mann und Frau?
Lechner: Eigentlich auch nicht mehr. Wir hatten eigentlich erwartet, dass es zwischen Männern und Frauen hier signifikante Unterschiede gebe, aber die lassen sich eigentlich auch nicht nachweisen.
Degenhardt: Die Frage ist jetzt: Wie kommt man wieder raus aus der Schuldenfalle, geht das überhaupt ohne Hilfe?
Lechner: Ohne Hilfe geht es nicht. Der Weg aus den Schulden heraus führt in Deutschland seit 1999 vorrangig über das Verbraucherinsolvenzverfahren. Das Verbraucherinsolvenzverfahren ist ein Verfahren, das auf sechs Jahre angelegt ist, und am Ende dieser sechs Jahre steht eine Restschuldbefreiung. Am Anfang des Verbraucherinsolvenzverfahrens hat der Gesetzgeber einen außergerichtlichen Einigungsversuch zwischen Schuldner und Gläubiger vorgesehen. Dieser außergerichtliche Einigungsversuch muss von einer geeigneten Stelle bescheinigt werden. Und in ungefähr 60 Prozent aller Fälle sind das Schuldnerberatungsstellen. Im Übrigen haben seit Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens in Deutschland rund 750.000 Verbraucher diesen Weg gewählt.
Degenhardt: Noch mal zurück zum Stichwort Privatinsolvenz: Hat da aus Ihrer Sicht der Gesetzgeber ausreichend getan für die, die Hilfe brauchen?
Lechner: Das Verbraucherinsolvenzverfahren sieht nur zur Eröffnung des Verfahrens Hilfe durch eine Schuldnerberatungsstelle oder einen Rechtsanwalt vor. Danach sind die Schuldner auf sich selbst gestellt. In unseren Untersuchungen wurde klar, dass aber die Hälfte aller Schuldner im Verfahren selbst noch Hilfe bräuchte. Hierfür sind aber keine Mittel vorgesehen.
Degenhardt: Ist das nur eine Frage des Geldes?
Lechner: Es ist eine Frage dessen, dass man das auch mal einfach rechtlich beziehungsweise gesetzlich vorsehen müsste. Es ist bisher nicht vorgesehen, dass die Schuldner noch mal beraten werden, dass ihnen noch mal geholfen wird.
Degenhardt: Herr Lechner, wenn die Schuldnerberatungsstellen so eine wichtige Funktion innehaben – nicht zuletzt deswegen gibt es ja auch jetzt diese Aktionswoche –, müsste man sie dann nicht stärker unterstützen, beziehungsweise müsste dann das Netz dieser Stellen noch ausgebaut werden? Denn ich könnte mir vorstellen, das dauert ja durchaus einige Zeit, bis man – das ist vielleicht von Bundesland zu Bundesland verschieden – dort auch einen Beratungstermin erhält?
Lechner: Dem ist durchaus so. Von Bundesland zu Bundesland verschieden kann man sehr deutlich sehen, dass die Dichte der Schuldnerberatungsstellen sehr stark damit korreliert ist, wie schnell man letztendlich ein Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnen kann. Wenn Verbraucher in Not geraten sind, wenn sie die Notwendigkeit vor Augen haben, ein Verbraucherinsolvenzverfahren zu eröffnen, muss Schuldnerberatung vorgehalten werden. Und das ist je nach Bundesland sehr unterschiedlich. Es gibt hier ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, im Norden ist die Schuldnerberatung deutlich besser ausgebaut als im Süden.
Degenhardt: Woran liegt das? Vielleicht geht es den Menschen in Bayern nicht so schlecht, da braucht man nicht so viele Beratungsstellen?
Lechner: Man kann auch in Bayern regional sehen, dass dort, wo die Wirtschaft floriert, es deutlich weniger Probleme gibt, und dort, wo sie nicht floriert, gibt es deutlich mehr Probleme.
Degenhardt: Sie forschen, Herr Lechner, seit 15 Jahren zu diesem Thema. Was kann man denn nach einer so langen Zeit noch Neues entdecken?
Lechner: Man kann zum Beispiel Neues entdecken im Rahmen dessen, was Biografien letztendlich bei diesen Gefährdungslagen meinen. Ein ganz erstaunliches Ergebnis meiner Studien ist, dass Scheitern von Bildungsbiografien vielen ganz frühzeitig den Weg in Schuldenkrisen ebnet. Das heißt, wenn man es nicht schafft, den Bildungsabschluss des Vaters zu erreichen, sondern darunter bleibt, hat man ein doppelt so hohes Risiko, in Überschuldungskrisen zu geraten.
Degenhardt: Vielen Dank! Anlässlich der zehnten Aktionswoche der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung sprach ich mit Dr. Götz Lechner. Er leitet die Arbeitsgruppe Soziale Ungleichheit und Überschuldung an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Technischen Universität Chemnitz. Ich bedanke mich für das Gespräch!
Lechner: Danke Ihnen!
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