Unterricht zu Hause

Wo Homeschooling an Grenzen stößt

06:54 Minuten
Drei Kinder sitzen mit Laptops an einem Tisch
Hier sieht Homeschooling so entspannt aus. Bei einigen Eltern liegen jedoch die Nerven blank. © Luise Sammann
Von Luise Sammann · 20.04.2020
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Nur wenn Eltern viel Zeit mitbringen, kann der Unterricht zu Hause gelingen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben da oft das Nachsehen. Aber selbst wenn alles perfekt läuft: Bei manchem lässt sich die Schule nicht ersetzen.
Zehn Uhr morgens. Zeit für Franziska Wegerich aus Berlin sich mit ihrem Sohn Fabio an den Schreibtisch zu setzen. "Wir haben uns ja hier einen Plan gemacht. Was haben wir denn da noch übrig?" – "Vier Seiten Mathe, zwei Seiten Sachunterricht und eine Seite 'Der, Die, Das'."
Zweitklässler Fabio, der eben noch gut gelaunt durch die Wohnung tobte, stützt den Kopf in die Hand, wirkt plötzlich müde und schlecht gelaunt. Mutter Franziska bemüht sich um Geduld. Druck führt höchstens zu Türenknallen und völliger Verweigerung. Das hat die 38-Jährige nach der coronabedingten Schulschließung schnell gelernt.
"Er hat eigentlich gar keine Lust, und wir hatten auch echt schwierige Tage. Es läuft eigentlich erst ein bisschen besser, nachdem wir uns einen Plan gemacht haben, wie viel Seiten pro Tag, und er das dann irgendwie abstreichen kann", so Produktmanagerin Franziska, die dafür neben Homeoffice und Haushalt nun auch noch Whatsapp-Gruppen für jedes einzelne Schulfach im Auge behalten muss. Immerhin: Fabio schafft sein Tagespensum mit ihrer Hilfe einigermaßen.

Jüngere Schüler sind schwer zu erreichen

"Im Großen und Ganzen habe ich das Gefühl, es funktioniert", resümiert auch Meike Berg, Lehrerin an einer Berliner Gemeinschaftsschule.
"Unsere Schule benutzt ein Messenger-System, das viele Berliner Schulen nutzen. Das ist quasi datenschutzkonform und ist aber eben ein Messenger, den man sich aufs Handy runterladen kann. Und das hat ein bisschen den Vorteil, dass es den Schülern natürlicher gelingt, damit umzugehen, als mit Emails."
Regelmäßig verschickt Meike Berg auf diesem Weg Aufgaben, bleibt mit den Schülern in Kontakt. Das funktioniert, weil in ihrer neunten Klasse bereits jeder ein Handy hat. Andere Lehrer berichten allerdings, dass sie gerade jüngere Schüler kaum erreichen.

Digitalisierung des Unterrichts soll vorangetrieben werden

Die Digitalisierung im Bildungsbereich muss endlich schneller vorangetrieben werden, hieß eine der ersten Lehren, die aus der Coronakrise gezogen wurden. Kurzfristig wurden 100 Millionen Euro aus dem Digitalpakt Schule bereitgestellt, um den Auf- und Ausbau von Lernplattformen zu erleichtern. Bis 2024 sollen Schulen gar fünf Milliarden Euro abrufen können. Wenn die gut eingesetzt werden, so könnte man meinen, kann die nächste Coronakrise ruhig kommen. Lehrerin Berg schüttelt den Kopf. Die aktuelle Situation zeigt: Keine noch so gute digitale Ausstattung kann den Schulalltag ersetzen.

"Wir schaffen, würde ich sagen, die Wissensvermittlung, zumindest grundlegend. Aber was halt vollkommen fehlt, ist das, was ansonsten im Schulalltag normal ist, dass man sich mit Gleichaltrigen trifft, die Auseinandersetzung hat, Konflikte hat und die löst, dass wir einen Einblick da rein haben, was vielleicht zu Hause gerade nicht gut läuft, wo wir die Kindern auch im häuslichen Bereich unterstützen können, wenn es da Probleme gibt. Und was wegfällt oder was ganz schwerfällt, ist gerade, Erziehungsarbeit zu leisten."
Ein Heft, in dem steht: "Nach Wochenplan arbeiten"
Nur mit einem genauen Plan kann Lernen zu Hause gelingen.© picture alliance / Fotostand / Voelker

Nur wenn die Eltern helfen, kann es klappen

Erziehungsarbeit – Kindern jenseits von Mathe und Deutsch zu helfen, miteinander auszukommen, Konflikte zu lösen, sich in der Welt zurechtzufinden: alles Dinge, die sich allein vor einem Computer oder einem Handy kaum erlernen lassen. Auch anderen Lebensrealitäten zu begegnen, gegebenenfalls die eigenen Privilegien zu erkennen, gehört für Lehrerin Berg zu einem wichtigen Teil des Schulalltags. Besonders in diesen Tagen gilt: Wer Eltern hat, die bei den Hausaufgaben helfen, ist im Vergleich zu vielen anderen bereits privilegiert.
Die Kinder, die an einem Freitagnachmittag in einem Park in Berlin-Kreuzberg spielen, sind es nicht. Weil ihre Eltern überfordert sind, den neuen Alltag zu meistern, weil sie die deutsche Sprache nicht sprechen oder schlicht tagsüber arbeiten müssen – an der Supermarktkasse zum Beispiel oder im Krankenhaus.
"In der Schule musste man um sieben Uhr aufstehen, sich bereit machen. Aber jetzt darf ich so viel schlafen, wie ich will."
"Ich steh manchmal um zwölf Uhr auf manchmal um ein Uhr."
"Es ist, als hätte ich einfach so Spaß daran. Man kann ausschlafen, man kann entscheiden, wann man die Hausaufgaben macht oder wie man die macht."

Es ist Stress pur

Die 59-jährige Vera Helligrath leitet ein Team von 14 Sozialarbeiterinnen an Grundschulen in Berlin-Neukölln. Sie weiß, dass längst nicht alle Kinder jeden Tag zwei bis fünf Stunden an ihren Hausaufgaben sitzen, wie es der Berliner Senat je nach Altersstufe empfiehlt.
"Die meisten Familien berichten uns, dass sie sich sehr um Struktur bemühen. Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, glaube ich es vielen. Ich glaube es allen, dass sie sich bemühen. Im Selbstversuch, darf ich Ihnen sagen: Es ist Stress pur und verlangt eine sehr strikte Tagesstruktur."
Während der Schulschließungen versuchen Helligrath und ihre Kollegen vor allem per Telefon, Kontakt zu den Familien zu halten. Hunderte von Schülern und Eltern wurden noch vor Beginn der Osterferien einzeln abtelefoniert. Wie geht es Ihnen, wie geht es den Kindern, wo können wir helfen, fragen die Sozialarbeiter.

Benachteiligte Kinder leiden besonders unter der Situation

Wo die Gefahr von Kindeswohlgefährdung besteht, finden auch Haustürbesuche statt. Gegebenenfalls wird das Jugendamt eingeschaltet. Vergleichbar mit der so wichtigen Schulsozialarbeit unter normalen Umständen ist das trotz allem nicht.
"Wenn man sich überlegt, dass normale Schulsozialarbeit damit beginnt, dass die Schulsozialarbeiter Montag bis Freitag von acht bis 16 oder 17 Uhr schlicht präsent sind, es eine offene Schulstation gibt, wo Kinder mit ihren Sorgen, Ärgernissen, Nöten kommen können und sofort eine Ansprache erhalten… Das ist zurzeit alles nicht möglich."
Vera Helligrath und ihr Team wissen: Es sind die ohnehin benachteiligten Kinder, die unter der aktuellen Situation besonders leiden. Für Gemeinschaftsschullehrerin Meike Berg geht es deswegen schon jetzt um die Konsequenzen, die man aus den vergangenen Wochen für den Bildungsbereich zieht. Und zwar unabhängig von der ohnehin überall geforderten Digitalisierung.
"Das hat mir halt noch mal gezeigt, wie wahnsinnig wichtig eigentlich die Schule und der Ganztagsbetrieb für viele Kinder ist, dass Kinder irgendwie morgens aufstehen müssen und dann einen geregelten Tagesablauf mit Pausen haben, dass sie eine feste Mittagessenszeit haben. Das ist mir schon noch mal deutlich geworden, wie wichtig diese Strukturen eigentlich sind."
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