Unterbringung von Flüchtlingen

Eine deutsche Geschichte mit Gedächtnislücken

Wäsche auf einer Trennwand in einer Flüchtlingsunterkunft
Wäsche auf einer Trennwand in einer Flüchtlingsunterkunft © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Von Ofer Waldman · 14.09.2015
Militärbaracken, Schulen und Sporthallen, die Orte, an denen die Geflohenen untergebracht werden, sind dieselben wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sollten uns erinnern, wem sie damals Unterschlupf boten, meint Ofer Waldman. Vielleicht sogar unseren Großeltern?
In diesem Jahr sind 800.000 Flüchtlinge in Deutschland zu erwarten, melden die Ämter. Dies entspricht in etwa einem Prozent der hiesigen Bevölkerung: Es ist eine kleine Völkerwanderung, die in jeder deutschen Stadt, Gemeinde und Kommune spürbar sein wird – oder bereits spürbar ist.
Viele Menschen befürchten nun, Gemeinden würden mit der Unterbringung der Flüchtlinge, deren Versorgung und der Einschulung ihrer Kinder überfordert sein. Sorgen um den Wohlstand, um die boomende deutsche Wirtschaft machen die Runde. Doch bei Sorgen allein bleibt es nicht. Sorgen werden zu Worten, die Worte zu Taten, und schon beflecken brennende Häuser und Unterkünfte die deutsche Willkommenskultur.
Noch nie habe Deutschland so viele Flüchtlinge aufnehmen müssen, raunt der verärgerte Bürger: nicht in den 1990ern während der Balkankriege, nicht als Revolutionen und Militärputsche erschrockene Exilanten in die BRD trieben, aus dem Iran, aus der Tschechoslowakei, aus Südamerika, auch nicht in all den Jahren der deutschen Teilung, vor allem vor der Versiegelung der innerdeutschen Grenze als DDR-Bürger in den Westen strömten.
Orte mit langem Gedächtnis
Interessant ist, dass die Orte der Unterbringung von Flüchtlingen immer die gleichen geblieben sind: Es sind Militärbaracken, Schulen und Sporthallen.
Diese Orte haben ein langes Gedächtnis, das der Behauptung, Deutschland sei noch nie mit einer derart großen Flüchtlingswelle konfrontiert gewesen und habe noch nie so viele Menschen aufnehmen müssen, widerspricht.
Würde man diese Orte befragen, würden sie sich an Abermillionen Menschen erinnern, die nach Deutschland, hauptsächlich nach West-Deutschland, geströmt sind – zum Beispiel aus Schlesien, aus dem Sudetenland, aus Ostpreußen und Pommern, Nachfolgeflüchtlinge des Krieges, den Deutschland über Europa und die Welt brachte.
Ob die niedersächsischen, brandenburgischen oder sächsischen Militärbarracken den Unterschied zwischen dem sudetendeutschen oder preußischen Dialekt und dem syrisch-arabischen Dialekt bemerken, ist fraglich. Gewiss ist jedoch: die in unterschiedlichen Sprachen geäußerten Existenzängste und Ungewissheiten sind die gleichen!
Junge Menschen, die das Land bitter nötig hat
Damals wie heute waren jene Orte, jene Unterbringungen, wie in Beton gegossene Herzkammern für die Geflüchteten, die sowohl dem Land als auch den Menschen Leben schenkten: Denn damals wie heute galt neben dem menschlichen Hilfsimperativ auch der unermessliche Beitrag, den die Vertriebenen für das deutsche Wirtschaftswunder leisteten. Heute wie damals sind unter den Geflohenen gut ausgebildete, arbeitswillige junge Menschen, die das Land bitter nötig hat.
Doch sogar die minder moralischen, rein sachlich-ökonomischen Erwägungen hinter der hiesigen Willkommenskultur versiegen allzu oft angesichts des Hasses: Damals wie heute gab es jenes dunkle Deutschland, das alles Fremde – fremde Bräuche, fremde Kulturen, fremde Konfessionen – abgelehnt hat. Und auch schon damals musste die Staatsmacht immer wieder eingreifen, um Vertriebene einzuquartieren.
Wenn also Orte sprechen könnten, würden sie uns vielleicht erzählen, dass sie schon 1945 zum Teil den Großeltern derjenigen Zuflucht boten, die jetzt lauthals "Nein zum Heim" brüllen.
Die Flammen von Heidenau, Hoyerswerda und Freital sollen anscheinend nicht nur das Gedächtnis dieser Orte verschlingen; die Menschen, die sie entzünden, drohen die Erinnerung an jenen Krieg und seine Lehren, und mit ihnen das Fundament dieser Republik gleich mit niederzubrennen.
Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern.
Anschließend war er an der Israelischen Oper engagiert und absolvierte ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Derzeit ist er Gastdoktorand an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.
Ofer Waldman
Ofer Waldman© Kai von Kotze
Mehr zum Thema