Unsolidarisches Deutschland

Berlin findet seine Rolle in Europa nicht

Südansicht des Reichstagsgebäudes in Berlin. Foto vom 11. August 2014.
Südansicht des Reichstagsgebäudes in Berlin. © picture-alliance / dpa / Daniel Kalker
Von Jürgen Rüttgers · 27.01.2015
Nach der Wahl in Griechenland verlangen die einen von Athen weitere Reformen, die anderen eine Etatsanierung mit Rücksichtnahme. Dies ist eine Gelegenheit für Deutschland, seine Rolle in Europa zu überdenken, meint der ehemalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers.
Vor 25 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. Und schon damals gab es Befürchtungen, dass das wiedervereinigte Deutschland wieder "zu groß für Europa und zu klein für die Welt" sein könnte.
Bei einem Besuch im amerikanischen Kongress vor einiger Zeit begann ein amerikanischer Kollege unser Gespräch mit dem Satz: "Deutschland muss die militärische Führung in Europa übernehmen!"
Als ich erstaunt widersprach und auf die schwierige Rolle Deutschlands bei der Überwindung der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise sowie auf die deutsche Geschichte hinwies, bekräftigte der Kongressabgeordnete seine Haltung: Niemand anders käme dafür in Frage.
Deutschlands Rolle in Europa
Deutschland sucht immer noch seine Rolle in Europa. Es will die Europäische Union nicht dominieren. Es will aber auch nicht zum Zahlmeister Europas werden. Deutschland hat verlernt, mit Macht umzugehen, damit umzugehen, dass sich die Lage grundlegend verändert hat, allemal nach Putins Rückfall in die Machtpolitik des 19. Jahrhunderts.
Erstens: Heute verstehen sich die USA nicht mehr als Welt-Konflikt-Löser. Zweitens: Nation und Staat sind nicht mehr eins. Drittens: Die staatliche Souveränität ist auch nicht mehr unteilbar. Europa hat im Rahmen einer Mehrebenen-Demokratie staatliche Aufgaben übernommen und eine eigene Souveränität entwickelt.
Das will zwar nicht jeder in Europa wahrhaben. Nach der Europa-Wahl hat das Europäische Parlament sich in einem Machtkampf das Recht erkämpft, den Kommissionspräsidenten als Chef einer demokratischen Regierung zu wählen.
Die Kommission ist mithin demokratisch durch das Parlament legitimiert, vergleichbar mit der deutschen Bundesregierung. Der Europäische Rat ist jetzt die Vertretung der Mitgliedsländer in den europäischen Institutionen. Daraus folgt aber, dass die Mitgliedsländer im Europäischen Rat nicht mehr nur nationale, sondern in erster Linie europäische Politik machen dürfen.
Deutschland ist machtvergessen
Das ist die Lösung des deutschen Problems in Europa. Wer Macht hat in Europa, darf nicht versuchen, seine eigenen Interessen anderen Mitgliedsländern aufzuzwingen. Im tiefen Herzen ist Deutschland nicht machtversessen, sondern machtvergessen. Es neigt dazu, die europäischen Folgen nationaler Politik chronisch zu unterschätzen.
Der Versuch, den Maidan-Aufstand in Kiew zusammen mit den Außenministern des Weimarer Dreiecks im Alleingang zu beenden, hat nur einen Tag gehalten. Die Tendenz, sich der militärischen Verantwortung zu entziehen und dies als "Kultur der Zurückhaltung" zu bezeichnen, erweckt eher Misstrauen als ein partnerschaftliches Mitwirken.
Die deutsche Energiewende, die massive Auswirkungen auf die Energie- und Wirtschaftspolitik der Partnerländer hat, wurde im Alleingang beschlossen.
Dem französischen Wirtschaftsminister, der in Berlin über stärkere Infrastrukturinvestitionen reden wollte, erteilte man eine Abfuhr, um wenige Tage später ein eigenes Infrastrukturprogramm von zehn Milliarden Euro anzukündigen. Der halbherzige Beitrag zum Kampf gegen die viel zu hohe Jugendarbeitslosigkeit wirkt als Solidaritätsverweigerung.
Europäische als Teil nationaler Politik
Und bei alledem müssen die kleineren Mitgliedsländer besser in die europäische Entscheidungsfindung einbezogen werden. So wie Deutschland darauf angewiesen ist, dass Frankreich in Krisenfällen nicht nur seine nationale, sondern europäische Politik vertritt, muss auch Deutschland lernen, europäische Politik als Teil der nationalen Politik zu verstehen.
Jürgen Rüttgers, Jahrgang 1951, studierte Geschichte und Rechtswissenschaft in Köln. Er war Bundestagsabgeordneter, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Landesvorsitzender der CDU und Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Derzeit arbeitet er als Rechtswalt in Düsseldorf.
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