Unsichtbare Überwachung

Vorgestellt von Heribert Prantl · 28.10.2007
An der Kasse, am Flughafen, vor allen aber im Internet - überall wird unser Verhalten beobachtet, registriert und bewertet. Peter Schaar, der Bundesbeauftragte für Datenschutz, warnt in seinem neuen Buch "Das Ende der Privatsphäre" vor einem für uns unsichtbaren Überwachungsnetz.
Fast ein Vierteiljahrhundert nach dem großen Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, fast ein Vierteljahrhundert also nach der Begründung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, ist es mit dieser Selbstbestimmung nicht mehr weit her. Wer heute über die Gefährdung der Privatsphäre durch Computer- und Informationstechnologien reden will, der muss sich erst einmal entschuldigen.

Er muss ein Bekenntnis ablegen nach folgendem Muster: "Ich bin gegen übertriebenen Datenschutz. Ich bin kein Maschinenstürmer. Ich will dem Fortschritt von Technik und Wissenschaft nicht im Wege stehen. Ich will auch den Staat nicht künstlich taub und stumm machen und die Kriminalitätsbekämpfung nicht behindern. Ich erkläre deshalb, dass Datenschutz kein Täterschutz sein darf." Und erst, nachdem man sich also nach allen Seiten verbeugt und dann noch in den Staub geworfen hat, darf man üblicherweise, ohne scheel angesehen zu werden, mit dem Reden über Datenschutz beginnen.

Der Datenschutz wird in der politischen Diskussion fast immer mit dem Wort "übertrieben" kombiniert; und wer, so heißt es oft abschätzig, den Datenschutz als Heiligtum betrachte, der wird schon seinen Grund haben. Peter Schaar, Bundesdatenschutzbeauftragter seit 2003, dreht diesen Spieß um. Sein Buch trägt zwar den resigniert klingenden Titel "Das Ende der Privatsphäre". Aber das Buch resigniert gar nicht: Es beschreibt zwar detailliert, so sein Untertitel, den bisherigen "Weg in die Überwachungsgesellschaft" - aber es ist zugleich eine Aufklärungsschrift darüber, wie man von diesem Irrweg wieder herunterkommt: Nämlich erstens dadurch, dass man darüber Bescheid weiß, was schon alles passiert ist und was demnächst bevorsteht; und dann zweitens dadurch, sich nicht mehr alles gefallen lässt.

Peter Schaars Buch ist ein Lehrbuch für alle, die es sich nicht mehr gefallen lassen wollen, wenn so getan wird, als sei Datenschutz etwas Unanständiges für unanständige Leute. Wer mag es, dass der Staat oder die Pharma-Industrie seine Krankheiten speichert? Wer mag es, dass darauf womöglich Hinz und Kunz zugreifen kann? Wer mag es, dass seine Einkaufs- und Urlaubsgewohnheiten, seine Arbeitslosenzeiten und deren Gründe, seine Gesundheitsdaten, seine biometrischen und genetischen Daten in irgendwelchen Computern gespeichert und vernetzt werden?

"'Bitte suchen Sie unverzüglich einen Arzt auf. Ihre Blutwerte haben sich besorgniserregend verschlechtert!' oder 'Verringern Sie Ihren Alkoholkonsum. Andernfalls müssen Sie mit einer deutlichen Erhöhung Ihrer Versicherungsprämie rechnen.' - Vielleicht sind derartige automatisierte Warnmeldungen ja in Zukunft alltäglich, wenn erst eine umfassende elektronische medizinische Infrastruktur etabliert ist. Noch erscheinen uns derartige Szenarien ziemlich unrealistisch. Die technischen Vorraussetzungen für eine umfassende Kontrolle unseres Gesundheitszustands sind jedoch bereits heute weitgehend verfügbar."

Wem ist es egal, wer darauf Zugriff hat? All diejenigen brauchen Peter Schaars Buch nicht zu lesen. Für alle anderen ist es ein kleines Vademecum für den Weg aus der Überwachungsgesellschaft. Schaar hat diesen Weg in die Überwachungsgesellschaft auf den ersten Seiten seines Buchs wunderbar geschildert.

"Im November 2006 konfrontierte die Vertreterin der Bürgerrechtsorganisation die Teilnehmer der Internationalen Datenschutzkonferenz in London mit einem drastischen Bild: 'Ein Frosch, den man in einen Kessel sprudelnd heißen Wassers wirft, springt reflexartig sofort wieder heraus. Setzt man den Frosch hingegen in einen Topf mit kaltem Wasser und erwärmt ihn allmählich, so bleibt er drin. Zunächst mag das erwärmende Wasser sogar recht angenehm sein. Wenn das Wasser weiter erhitzt wird, sind seine Kräfte erlahmt. Wenn es den Siedepunkt erreicht hat, ist er tot.' Anschließend stellt sich die Frage, ob es uns auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft nicht ähnlich ergeht wie jenem Frosch. Gefahren drohen der Privatsphäre gleich von mehreren Seiten: Technologische Entwicklungen, wirtschaftliche Interessen, staatliche Kontrollen und auch die zunehmende Bereitschaft vieler Menschen, ihre eigene Privatsphäre nicht mehr ernst zu nehmen, gehen Hand in Hand."

Sachkundig und überwiegend anschaulich geschrieben zeigt der Autor, wie informationstechnische Systeme schleichend Besitz von unserem beruflichen und privaten Alltag ergriffen haben und wie wir dabei sind, uns an immer umfassendere Überwachung zu gewöhnen.

Es ist ja nicht nur der Staat, der, aus Sicherheitsgründen, den Datenschutz immer kleiner schreibt; es ist auch die Privatwirtschaft, die möglichst viel über den Kunden wissen will: Verwendet der Käufer beim Bezahlen eine Kunden- oder Kreditkarte, kann der Kassencomputer die persönlichen Angaben, also Namen, Konto- und Kundennummer, mittels der am Produkt oder an der Verpackung angebrauchten Chips mit den Informationen verknüpfen, die im Warenwirtschaftssystem gespeichert sind. Schaar ermuntert seine Leser zum kleinen Widerstand an der Kasse - nämlich so: Man könnte ja künftig an der Kasse die lästige Frage, ob man eine Kundenkarte habe, mit der Gegenfrage nach dem Vorhandensein von RFID-Chips und den Möglichkeiten ihrer Deaktivierung kontern. "Auf die Antworten", so Schaar, "dürfen wir gespannt sein".

Schaar will mit seinem Buch, so schreibt er im Vorwort, einen Beitrag zur aktuellen Debatte leisten: Man findet deshalb alle Streitfragen der sicherheitspolitischen Debatte in angenehmer Kürze dargestellt und bewertet: Biometrische Ausweispapiere, Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Speicherung von Mautdaten zu Fahndungszwecken, Lauschangriffe, Telefonüberwachung, lebenslange Steueridentifikationsnummer. Für all diese Mittel und Methoden gilt der zentrale Satz in Schaars Argumentation: "Wer Überwachung will oder durchführt, ist beweispflichtig, denn er greift damit in unsere Rechte ein". Und: "Wer neue Befugnisse für Strafermittlungen und Gefahrenabwehr fordert, muss begründen, warum er mit den bestehenden Befugnissen nicht ausgekommen ist".

"Anders als ihre schuhkartongroßen Vorläufer sind Videokameras heute klein und unauffällig. Für die Überwachung großer Räume werden sogenannte 'Dome-Kameras' eingesetzt, voll schwenkbare Systeme mit starker Zoomfunktion, die noch auf hundert Metern winzige Details erkennen können. Geschäfte setzten in früheren Zeiten vor allem auf den Abschreckungseffekt der Videoüberwachung, bisweilen sogar durch Einsatz von Kamera-Attrappen. In Großbritannien werden zudem im Frühjahr 2007 Versuche gestartet, Minihubschrauber ('Mikrodrohnen') mit Videokameras auszustatten, die den öffentlichen Raum lautlos überwachen und einzelne Personen gezielt observieren können. Derartige Komplettsysteme sind bereits auf dem Markt erhältlich. Moderne Videosysteme arbeiten digital und nicht mehr analog. Damit fällt ein wesentliches Motiv für eine frühzeitige Löschung der Videoaufnahmen weg. Waren analoge Überwachungssysteme allein wegen ihrer beschränkten Speicherkapazität so ausgelegt, dass die Daten nach einigen Stunden oder wenigen Tagen überschrieben wurden, besteht diese Restriktion bei digitalen Speichermedien praktisch nicht mehr. Heute können die Aufnahmen über Monate und Jahre gespeichert leiben, und dies zu äußerst geringen Kosten."

Zwei Jahrzehnte lang hat nun eine Allianz von Kriminalisten und Politikern den Datenschutz als angebliches Haupthindernis der Strafverfolgung angeschwärzt; der Datenschutz diente nicht selten auch als Ausrede für Ermittlungspannen ganz anderer Genese. In den Behörden ist der Hinweis auf den Datenschutz ein beliebter und bequemer Vorwand geworden, um ganz normale und unverfängliche, aber möglicherweise arbeitsintensive Auskunftsbegehren abzuschmettern. Mit solchen Ausreden und Vorurteilen räumt Peter Schaars Buch auf. Es lehrt neue Sensibilität für den Datenschutz. Es bringt den Datenschutz aus der Defensive. Es ist ein Beitrag zur Renaissance des Datenschutzes. Den nächsten großen Beitrag dazu wird das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung gegen die Online-Durchsuchung liefern. Die mündliche Verhandlung darüber, die ein Scherbengericht war für eine hektische und maßlose Sicherheitspolitik, konnte in das Buch Schaars nicht mehr Eingang finden. Sie hätte in seinen Argumentationsgang gut gepasst.

Peter Schaar: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft
C. Bertelsmann Verlag, München 2007
Peter Schaar: "Das Ende der Privatsphäre"
Peter Schaar: "Das Ende der Privatsphäre"© C. Bertelsmann Verlag