„Uns Historiker beunruhigt die Wirtschaftskrise eigentlich nicht so sehr“
Aus Wirtschaftsgeschichte kann man lernen, sagt Karl-Peter Ellerbrock, Direktor des westfälischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund. Genau wie Krisen habe es auch schon immer Lösungen und Wege aus den Krisen gegeben.
Ulrike Timm: 70 Jahre alt ist eines der bedeutendsten Wirtschaftsarchive in Deutschland in diesem Jahr geworden: das westfälische Wirtschaftsarchiv in Dortmund. Wie man auf teilweise Jahrhunderte Betriebs- und Industriegeschichte der Region schaut, wie sich die Wirtschaft dort verändert hat und wie man mit diesem Wissen im Rücken auf die heutigen Krisen und Turbulenzen blickt und vor allem, wie man zwischen zehn Regalkilometern mit Bilanzen und Unternehmensberichten die Übersicht behält, all das kann uns jetzt Karl Peter Ellerbrock erzählen, er ist Direktor des westfälischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund. Schönen guten Tag!
Karl-Peter Ellerbrock: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Ellerbrock, was ist überhaupt so spannend daran, uralte Bilanzen zu lesen?
Ellerbrock: Sie kennen die alte Behauptung, aus Geschichte lernen. Und ich glaube, wenn man sich mit der Geschichte auch gerade der Wirtschaft auseinandersetzt, dann kann man einige Erfahrungen aus dieser Geschichte in die Betrachtung und Beurteilung der Gegenwart und der Zukunft mit einbringen. Ganz konkret: Uns Historiker beunruhigt die Wirtschaftskrise eigentlich nicht so sehr, das hat es in der Geschichte immer schon gegeben. Es gibt immer Wege, es gibt immer Lösungen, und im Grunde genommen hat die historische Wirtschaftsforschung da beruhigende Entwicklungen parat.
Timm: Aber das Spannende: Sie finden hinter den Zahlen wirklich Krimis, Tragödien, Erfolgsgeschichten – alles dabei?
Ellerbrock: Alles dabei. Wir verwahren bei uns ungefähr 800 Bestände, davon sind gut 300 Firmenbestände. Jede Firma hat eine eigene Geschichte, ein eigenes Schicksal, wenn Sie so wollen, teilweise dramatisch, teilweise weniger spektakulär. Das entscheidende ist, glaube ich, jedoch, dass wir hier bei uns im Archiv die Perspektive aus unterschiedlicher Blickrichtung auf die regionale Wirtschaftsentwicklung haben, einmal die Kammern, dann die Firmen, dann haben wir auch Nachlässe, und wir haben die Perspektive der Vereine und Verbände, und so haben wir eine sehr, sehr differenzierte Betrachtung eigentlich.
Timm: Und dann kommt man schnell auf zehn Regalkilometer Unterlagen.
Ellerbrock: Ja.
Timm: Herr Ellerbrock, sie haben zum 70-jährigen Jubiläum genau 70 Kisten erhalten – vermutlich ist das extra so gepackt worden –, und in diesem Kisten findet sich die Unternehmensgeschichte des Familienunternehmens Kaldewei. Die machen Geschäfte mit Emaille. Was kann man an der Entwicklung so eines Unternehmens über Jahrzehnte denn ablesen?
Ellerbrock: Kaldewei ist natürlich eine sehr spezielle Entwicklung: Badewannen, europäischer Marktführer im Bereich der Badewannen. Sie können im Brennglas dieser einzelnen Firmen eigentlich sehr schön sehen, wie man sich behauptet hat vor den Herausforderungen im strukturellen Wandel. Dieser strukturelle Wandel ist nicht neu, den hat es immer schon gegeben. Den ersten großen Bruch eigentlich in der Wirtschaftsstruktur hat es gegeben im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert mit der Transformation zur modernen Wirtschaftsordnung, und da gibt es viele, viele Beispiele wie Kaldewei, wie gerade die mittelständischen Familienunternehmen in dritter, vierter Generation zeigen, wie erfolgreich man sein kann.
Timm: Angefangen haben die, glaube ich, mit Töpfen. Da war die Badewanne dann der Fortschritt, oder?
Ellerbrock: Die Badewanne kam eigentlich in den 50er-Jahren in der industriellen Massenproduktion auf den Markt. Zwischenzeitlich hatte man mit Badeöfen experimentiert. Man hat natürlich auch die Kulturgeschichte des Badens in diesem Bestand sehr greifbar, denn Baden war noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Privileg Weniger, und erst durch den Übergang in die Massenwohlstandsgesellschaft 1950er-, 60er-Jahre bekam im Prinzip jede Mietswohnung auch ein Badezimmer und damit eine Badewanne.
Timm: Nun steht Ihr Wirtschaftsraum Westfalen weniger fürs Baden als vor allem für die Montanindustrie: Bergbau, Eisen, Stahl. Da muss sich ja Glanz und Elend einer ganzen Industriegeschichte bei Ihnen im Archiv finden. Die Montanindustrie spielt heute kaum noch eine Rolle. Spiegelt ihr Wirtschaftsarchiv vor allem die Geschichte von Abwicklung und Pleiten?
Ellerbrock: Das kann man nicht sagen. Wenn Sie beispielsweise den Blick ja lenken mal auf die Eisen- und Stahlindustrie hier im Dortmunder Raum, die in den 1840er-Jahren begründet wurde, das ist ja heute alles in dem Thyssen-Krupp-Konzern.
Timm: Aber archiviert wird man eigentlich erst, wenn man Pleite gemacht hat oder aufgekauft wird, oder?
Ellerbrock: Nicht unbedingt, die gerade modernen Tendenzen von Globalisierung haben dieses Prinzip so ein bisschen aufgelöst, das heißt also, wir haben schon auch die Archive von Unternehmen, die formaljuristisch noch existieren, die aber im Zuge von Globalisierungsprozessen mehr oder weniger nur noch reine Produktionsstandorte sind, wo also keine strategischen Unternehmensentscheidungen mehr gefällt werden, und da haben wir gesagt, diese Dinge muss man auch natürlich schützen und bewahren, bevor man im globalen Wettbewerb tatsächlich diese Dinge dann verliert, was nicht selten ist. Und ich vertrete die Deutschen Wirtschaftsarchive im International Council of Archives, und wir haben da so eine Art Netzwerk aufgebaut, um gerade einen Schutzverbund gegen solche drohenden Verluste aufzubauen. Das funktioniert eigentlich recht gut.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton“, wir sprechen mit Karl-Peter Ellerbrock aus Anlass des 70-jährigen Bestehens des Wirtschaftsarchivs in Dortmund. Herr Ellerbrock, Sie kümmern sich um die Industriegeschichte der Region. Diese Region handelt aber global. Heißt das, die globalen Entwicklungen vollziehen sich bei Ihnen wie unter dem Brennglas, oder entwickelt sich eine Region mitunter auch ganz entgegengesetzt?
Ellerbrock: Ich glaube, dass sich heute kein Unternehmen mehr den globalen Strukturen entziehen kann. Es ist sehr interessant zu sehen, wie eigentlich auch die Weltwirtschaft, also das, was wir heute global nennen, sich entwickelt hat. Es gab immer Zentren. Und eigentlich, wenn man Westfalen im Auge hat, war Westfalen immer mit dieser damaligen und heutigen Weltwirtschaft sehr eng verknüpft und sehr erfolgreich unterwegs – ich erinnere an das Handelshaus Harkort im 18. Jahrhundert, ein Global Player sozusagen der vorindustriellen Zeit –, und ein Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie der Universität Berlin hat gezeigt, dass von den 800 deutschen Weltmarktführern mehr als zehn Prozent in Westfalen domizilieren, und dahinter verbergen sich nicht nur Namen wie Miele, Oettker und Bertelsmann, sondern viele, viele kleine mittelständische Familienunternehmen in der dritten, vierten Generation – ich nenne einfach mal Dannemann in Lübbecke in Ost-Westfalen, die Zigarillos herstellen. Wenn man das alles mal zusammen sieht, dann zeigt sich eigentlich, dass gerade diese kleinen Unternehmen sehr flexibel sind und so etwas wie eine globale Nischendominanz erreicht haben, und da sind sie supererfolgreich.
Timm: Ich frage natürlich auch, weil global es doch die Tendenz gibt, was schon groß ist, wird immer größer, was immer klein war, fällt eher weg. Das ist jetzt ganz grob gesagt, aber so als Zielrichtung stimmt es. Können Sie das aus der Region bestätigen oder sagen Sie auch, nein, gerade bei uns war das in der Geschichte auch schon mal ganz anders?
Ellerbrock: Natürlich wächst Wirtschaft, und wenn Wirtschaft nicht wachsen würde, dann hätten wir unser Fundament unserer modernen Industriegesellschaft verloren. Die Frage ist: Wer wächst wo? Und ich würde jetzt nicht sagen, dass man immer zu größeren Einheiten übergehen muss, dass quasi Unternehmen unter 100.000 Beschäftigten langfristig keine Chance haben, ganz im Gegenteil. Gerade die kleinen Unternehmen, die vielleicht mit 800.000, 900.000 Beschäftigten unterwegs sind, sind ja viel flexibler, viel anpassungsfähiger, können neue Marktchancen erkennen und sich dann eben sehr stark spezialisieren. ich würde sagen, die Spezialisierung, das ist eigentlich das Geheimnis, und da kann man natürlich in Westfalen viele, viele Beispiele finden, die da ganz erfolgreich sich auch in der Geschichte behauptet haben. Nehmen wir mal Crespel & Deiters in Ibbenbüren, die haben früher mal Schusterleim hergestellt, waren nach einem langjährigen Zwischenspiel in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und sind heute hochspezialisiert auf Spezialklebstoffe für die Wellpappenindustrie, profitieren also vom Logistikboom.
Timm: Wenn Sie, Herr Ellerbrock, heute die Schlagzeilen lesen zu der Wirtschaftskrise, zu all den Turbulenzen, die es da gibt, mit dem Wissen um Erfolge wie Pleiten, Pech und Pannen aus Jahrhunderten im Hintergrund, ist das irgendwie ein ganz anderer Blick?
Ellerbrock: Das ist ein anderer Blick, wobei man das natürlich differenzieren muss, denn was wir im Moment haben, das ist ja keine Wirtschaftskrise, oder keine Krise, keine Konjunkturkrise oder Strukturkrise, die von der Realwirtschaft ausgegangen ist. Da kann man relativ beruhigt sein, das hat eigentlich in der Geschichte ...
Timm: ... bei der Realwirtschaft ...
Ellerbrock: ... immer gut funktioniert, die neue Herausforderung ist tatsächlich diese globale Finanzkrise und natürlich die Herausforderung durch die unglaublichen Verschuldungsquoten der Staatshaushalte, und da meine ich nicht nur Griechenland oder Spanien oder Italien, da sind eigentlich auch andere Staaten tief von betroffen.
Timm: Kommt eigentlich manchmal ein Unternehmer bei Ihnen vorbei, um für neue Wege Rat in alten Unterlagen zu suchen?
Ellerbrock: Tatsächlich – ja, Rat zu suchen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, also man kann ja nicht in der Geschichte blättern und sagen: Aha, guck mal her, da war eine ähnliche Situation, der hat das so gemacht, das mache ich auch. Es funktioniert etwas anders, aber das Erfahrungswissen, das Ableiten von Erfahrungen, auch das, sagen wir, Überwinden von mentalen Barrieren, ich glaube, das ist ganz entscheidend. Da gibt es in der Geschichte viele, viele Beispiele, die einen natürlich stärken in manchen Ideen, wie Franz Kaldewei, der in den 70er-Jahren, als der Trend zur Kunststoffbadewanne da war, gesagt hat: Nein, diesen Trend machen wir nicht mit, da gehen wir unter, da haben wir mit Wettbewerbern zu tun global, da haben wir keine Chance. Wir bleiben bei der Emaille-Badewanne, wir bleiben bei Stahl, bei Edelstahl. Und dieses Konzept ist voll aufgegangen.
Timm: Herr Ellerbrock, ich bin gespannt, wie Sie die Turbulenzen, die uns gerade im Moment durcheinander schütteln, einmal archivieren werden und danke Ihnen sehr fürs Gespräch!
Ellerbrock: Ja.
Timm: Karl-Peter Ellerbrock war das, Direktor des Wirtschaftsarchivs in Dortmund.
Ellerbrock: Vielen Dank, Frau Timm!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karl-Peter Ellerbrock: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Ellerbrock, was ist überhaupt so spannend daran, uralte Bilanzen zu lesen?
Ellerbrock: Sie kennen die alte Behauptung, aus Geschichte lernen. Und ich glaube, wenn man sich mit der Geschichte auch gerade der Wirtschaft auseinandersetzt, dann kann man einige Erfahrungen aus dieser Geschichte in die Betrachtung und Beurteilung der Gegenwart und der Zukunft mit einbringen. Ganz konkret: Uns Historiker beunruhigt die Wirtschaftskrise eigentlich nicht so sehr, das hat es in der Geschichte immer schon gegeben. Es gibt immer Wege, es gibt immer Lösungen, und im Grunde genommen hat die historische Wirtschaftsforschung da beruhigende Entwicklungen parat.
Timm: Aber das Spannende: Sie finden hinter den Zahlen wirklich Krimis, Tragödien, Erfolgsgeschichten – alles dabei?
Ellerbrock: Alles dabei. Wir verwahren bei uns ungefähr 800 Bestände, davon sind gut 300 Firmenbestände. Jede Firma hat eine eigene Geschichte, ein eigenes Schicksal, wenn Sie so wollen, teilweise dramatisch, teilweise weniger spektakulär. Das entscheidende ist, glaube ich, jedoch, dass wir hier bei uns im Archiv die Perspektive aus unterschiedlicher Blickrichtung auf die regionale Wirtschaftsentwicklung haben, einmal die Kammern, dann die Firmen, dann haben wir auch Nachlässe, und wir haben die Perspektive der Vereine und Verbände, und so haben wir eine sehr, sehr differenzierte Betrachtung eigentlich.
Timm: Und dann kommt man schnell auf zehn Regalkilometer Unterlagen.
Ellerbrock: Ja.
Timm: Herr Ellerbrock, sie haben zum 70-jährigen Jubiläum genau 70 Kisten erhalten – vermutlich ist das extra so gepackt worden –, und in diesem Kisten findet sich die Unternehmensgeschichte des Familienunternehmens Kaldewei. Die machen Geschäfte mit Emaille. Was kann man an der Entwicklung so eines Unternehmens über Jahrzehnte denn ablesen?
Ellerbrock: Kaldewei ist natürlich eine sehr spezielle Entwicklung: Badewannen, europäischer Marktführer im Bereich der Badewannen. Sie können im Brennglas dieser einzelnen Firmen eigentlich sehr schön sehen, wie man sich behauptet hat vor den Herausforderungen im strukturellen Wandel. Dieser strukturelle Wandel ist nicht neu, den hat es immer schon gegeben. Den ersten großen Bruch eigentlich in der Wirtschaftsstruktur hat es gegeben im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert mit der Transformation zur modernen Wirtschaftsordnung, und da gibt es viele, viele Beispiele wie Kaldewei, wie gerade die mittelständischen Familienunternehmen in dritter, vierter Generation zeigen, wie erfolgreich man sein kann.
Timm: Angefangen haben die, glaube ich, mit Töpfen. Da war die Badewanne dann der Fortschritt, oder?
Ellerbrock: Die Badewanne kam eigentlich in den 50er-Jahren in der industriellen Massenproduktion auf den Markt. Zwischenzeitlich hatte man mit Badeöfen experimentiert. Man hat natürlich auch die Kulturgeschichte des Badens in diesem Bestand sehr greifbar, denn Baden war noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Privileg Weniger, und erst durch den Übergang in die Massenwohlstandsgesellschaft 1950er-, 60er-Jahre bekam im Prinzip jede Mietswohnung auch ein Badezimmer und damit eine Badewanne.
Timm: Nun steht Ihr Wirtschaftsraum Westfalen weniger fürs Baden als vor allem für die Montanindustrie: Bergbau, Eisen, Stahl. Da muss sich ja Glanz und Elend einer ganzen Industriegeschichte bei Ihnen im Archiv finden. Die Montanindustrie spielt heute kaum noch eine Rolle. Spiegelt ihr Wirtschaftsarchiv vor allem die Geschichte von Abwicklung und Pleiten?
Ellerbrock: Das kann man nicht sagen. Wenn Sie beispielsweise den Blick ja lenken mal auf die Eisen- und Stahlindustrie hier im Dortmunder Raum, die in den 1840er-Jahren begründet wurde, das ist ja heute alles in dem Thyssen-Krupp-Konzern.
Timm: Aber archiviert wird man eigentlich erst, wenn man Pleite gemacht hat oder aufgekauft wird, oder?
Ellerbrock: Nicht unbedingt, die gerade modernen Tendenzen von Globalisierung haben dieses Prinzip so ein bisschen aufgelöst, das heißt also, wir haben schon auch die Archive von Unternehmen, die formaljuristisch noch existieren, die aber im Zuge von Globalisierungsprozessen mehr oder weniger nur noch reine Produktionsstandorte sind, wo also keine strategischen Unternehmensentscheidungen mehr gefällt werden, und da haben wir gesagt, diese Dinge muss man auch natürlich schützen und bewahren, bevor man im globalen Wettbewerb tatsächlich diese Dinge dann verliert, was nicht selten ist. Und ich vertrete die Deutschen Wirtschaftsarchive im International Council of Archives, und wir haben da so eine Art Netzwerk aufgebaut, um gerade einen Schutzverbund gegen solche drohenden Verluste aufzubauen. Das funktioniert eigentlich recht gut.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton“, wir sprechen mit Karl-Peter Ellerbrock aus Anlass des 70-jährigen Bestehens des Wirtschaftsarchivs in Dortmund. Herr Ellerbrock, Sie kümmern sich um die Industriegeschichte der Region. Diese Region handelt aber global. Heißt das, die globalen Entwicklungen vollziehen sich bei Ihnen wie unter dem Brennglas, oder entwickelt sich eine Region mitunter auch ganz entgegengesetzt?
Ellerbrock: Ich glaube, dass sich heute kein Unternehmen mehr den globalen Strukturen entziehen kann. Es ist sehr interessant zu sehen, wie eigentlich auch die Weltwirtschaft, also das, was wir heute global nennen, sich entwickelt hat. Es gab immer Zentren. Und eigentlich, wenn man Westfalen im Auge hat, war Westfalen immer mit dieser damaligen und heutigen Weltwirtschaft sehr eng verknüpft und sehr erfolgreich unterwegs – ich erinnere an das Handelshaus Harkort im 18. Jahrhundert, ein Global Player sozusagen der vorindustriellen Zeit –, und ein Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie der Universität Berlin hat gezeigt, dass von den 800 deutschen Weltmarktführern mehr als zehn Prozent in Westfalen domizilieren, und dahinter verbergen sich nicht nur Namen wie Miele, Oettker und Bertelsmann, sondern viele, viele kleine mittelständische Familienunternehmen in der dritten, vierten Generation – ich nenne einfach mal Dannemann in Lübbecke in Ost-Westfalen, die Zigarillos herstellen. Wenn man das alles mal zusammen sieht, dann zeigt sich eigentlich, dass gerade diese kleinen Unternehmen sehr flexibel sind und so etwas wie eine globale Nischendominanz erreicht haben, und da sind sie supererfolgreich.
Timm: Ich frage natürlich auch, weil global es doch die Tendenz gibt, was schon groß ist, wird immer größer, was immer klein war, fällt eher weg. Das ist jetzt ganz grob gesagt, aber so als Zielrichtung stimmt es. Können Sie das aus der Region bestätigen oder sagen Sie auch, nein, gerade bei uns war das in der Geschichte auch schon mal ganz anders?
Ellerbrock: Natürlich wächst Wirtschaft, und wenn Wirtschaft nicht wachsen würde, dann hätten wir unser Fundament unserer modernen Industriegesellschaft verloren. Die Frage ist: Wer wächst wo? Und ich würde jetzt nicht sagen, dass man immer zu größeren Einheiten übergehen muss, dass quasi Unternehmen unter 100.000 Beschäftigten langfristig keine Chance haben, ganz im Gegenteil. Gerade die kleinen Unternehmen, die vielleicht mit 800.000, 900.000 Beschäftigten unterwegs sind, sind ja viel flexibler, viel anpassungsfähiger, können neue Marktchancen erkennen und sich dann eben sehr stark spezialisieren. ich würde sagen, die Spezialisierung, das ist eigentlich das Geheimnis, und da kann man natürlich in Westfalen viele, viele Beispiele finden, die da ganz erfolgreich sich auch in der Geschichte behauptet haben. Nehmen wir mal Crespel & Deiters in Ibbenbüren, die haben früher mal Schusterleim hergestellt, waren nach einem langjährigen Zwischenspiel in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und sind heute hochspezialisiert auf Spezialklebstoffe für die Wellpappenindustrie, profitieren also vom Logistikboom.
Timm: Wenn Sie, Herr Ellerbrock, heute die Schlagzeilen lesen zu der Wirtschaftskrise, zu all den Turbulenzen, die es da gibt, mit dem Wissen um Erfolge wie Pleiten, Pech und Pannen aus Jahrhunderten im Hintergrund, ist das irgendwie ein ganz anderer Blick?
Ellerbrock: Das ist ein anderer Blick, wobei man das natürlich differenzieren muss, denn was wir im Moment haben, das ist ja keine Wirtschaftskrise, oder keine Krise, keine Konjunkturkrise oder Strukturkrise, die von der Realwirtschaft ausgegangen ist. Da kann man relativ beruhigt sein, das hat eigentlich in der Geschichte ...
Timm: ... bei der Realwirtschaft ...
Ellerbrock: ... immer gut funktioniert, die neue Herausforderung ist tatsächlich diese globale Finanzkrise und natürlich die Herausforderung durch die unglaublichen Verschuldungsquoten der Staatshaushalte, und da meine ich nicht nur Griechenland oder Spanien oder Italien, da sind eigentlich auch andere Staaten tief von betroffen.
Timm: Kommt eigentlich manchmal ein Unternehmer bei Ihnen vorbei, um für neue Wege Rat in alten Unterlagen zu suchen?
Ellerbrock: Tatsächlich – ja, Rat zu suchen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, also man kann ja nicht in der Geschichte blättern und sagen: Aha, guck mal her, da war eine ähnliche Situation, der hat das so gemacht, das mache ich auch. Es funktioniert etwas anders, aber das Erfahrungswissen, das Ableiten von Erfahrungen, auch das, sagen wir, Überwinden von mentalen Barrieren, ich glaube, das ist ganz entscheidend. Da gibt es in der Geschichte viele, viele Beispiele, die einen natürlich stärken in manchen Ideen, wie Franz Kaldewei, der in den 70er-Jahren, als der Trend zur Kunststoffbadewanne da war, gesagt hat: Nein, diesen Trend machen wir nicht mit, da gehen wir unter, da haben wir mit Wettbewerbern zu tun global, da haben wir keine Chance. Wir bleiben bei der Emaille-Badewanne, wir bleiben bei Stahl, bei Edelstahl. Und dieses Konzept ist voll aufgegangen.
Timm: Herr Ellerbrock, ich bin gespannt, wie Sie die Turbulenzen, die uns gerade im Moment durcheinander schütteln, einmal archivieren werden und danke Ihnen sehr fürs Gespräch!
Ellerbrock: Ja.
Timm: Karl-Peter Ellerbrock war das, Direktor des Wirtschaftsarchivs in Dortmund.
Ellerbrock: Vielen Dank, Frau Timm!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.