Unmoralische Handlungen

Rezensiert von Rudolf Walther · 17.01.2010
Der Göttinger Soziologe und Privatgelehrte Wolfgang Sofsky porträtiert in seinem neuen Buch 18 Arten des Lasters. Er beginnt mit der Beschreibung von Andrea Mantegnas Bild von 1500, das die Vertreibung der Laster aus dem Garten der Tugend durch die Göttin Minerva zeigt.
Minerva hieß in der griechischen Mythologie Athene und war die Schutzgöttin von Athen, aber auch der Künste, der Handwerke, des Krieges und der Vernunft. Laster bzw. Sünden haben – wie die Tugenden – griechisch-römische und jüdisch-christliche Wurzeln. Im jüdisch-christlichen Verständnis bildeten Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Trägheit die sieben Haupt- oder Todsünden. Nach antikem Verständnis galten Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit als die vier Kardinaltugenden.

Wolfgang Sofsky kümmert sich wenig um Tradition in seiner Aufzählung von 18 Lastern von der Gleichgültigkeit bis zur Grausamkeit. Diese robuste Geschichtslosigkeit drückt sich auch terminologisch aus. Sofsky spricht ohne Differenzierung von Lastern, Sünden, Unsitten, Untugenden, Unmoral und Untaten.

Sofskys These lautet einigermaßen apodiktisch:

"In ihrer moralischen Ausstattung kennt die menschliche Spezies keinen Fortschritt. Daher ist auch kein allgemeiner Sittenzerfall zu diagnostizieren. In moralischen Angelegenheiten gibt es keine besseren Zeiten, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft."

Das Buch enthält zwar eine vierseitige Liste mit einschlägigen Werken von Aristoteles über Thomas von Aquin und Kant bis zu Peter Sloterdijk, aber im ganzen Buch erscheint kein einziger dieser Namen und kein einziges Zitat, das Sofskys Laster-Typologie philosophiegeschichtlich untermauerte. Er versteht sein Buch als "anthropologische Analyse", die "Selbst- und Sachverhältnisse" betrachtet.

Das Fundament dieser Betrachtung bilden ganz alte Unbekannte: "der" Mensch, "die" Menschheit und "man" - alles nur Pseudonyme, hinter denen die Willkür des Autors und sonst nichts steckt. Auf Schritt und Tritt finden sich Sätze wie der folgende:

"Im Alltag handeln die Menschen meist nicht nach Grundsätzen."

Woher weiß der Autor das? Bei der Darstellung der einzelnen Laster behilft er sich ganz schlichter spekulativer Anleihen bei beliebigen Befindlichkeiten zum Beispiel beim Laster der Ungerechtigkeit bzw. des Ungerechten:

"Allen bleibt er etwas schuldig. Er belohnt keine Verdienste, spendet kein Lob und erteilt keinen Tadel, Versprechen vergisst er, Verträge missachtet er, Entschuldigungen übersieht er. Die Laune des Augenblicks bestimmt sein Denken und Tun."

Dieser aus freihändig herzitierten Versatzstücken zusammengeklebte Pappkamerad des "Ungerechten" - die Laster kommen bei Sofsky fast immer männlich daher – muss dann herhalten zur Darstellung "der" Ungerechtigkeit, in deren Bestimmung keine historischen, sozialen oder systematischen Argumente eingehen. Mit einer Ausnahme: Immer wenn sich Sofskys im Prinzip zeit- und ortlose Laster in die Moderne verirren, schwingt ein gar nicht dezentes und wohl bekanntes Ressentiment gegen die Demokratie mit. Das hört sich im Falle des Lasters der Trägheit so an:

"Wähler und Mitglieder sollen ausharren und ihren Repräsentanten freie Hand lassen. Ihr Schweigen zählt als Zustimmung, ihre Trägheit als Loyalität. Solange niemand aufbegehrt, ist das demokratische Regime stabil."

Auf diese einfache Art macht Sofsky nicht nur das Laster der Trägheit, sondern auch die Laster des Selbstmitleids, der Feigheit, der Torheit, des Starrsinns, der Habgier und der Ungerechtigkeit zu Fundamenten der Demokratie und der Moderne.

Nietzsche glaubte, "alles Dogmatisieren in der Philosophie" sei nur "edle Kinderei und Anfängerei" gewesen und habe sich längst überlebt. Sofskys Buch ist der Gegenbeweis. Er rüstet Behauptungen, Dogmen und Beliebigkeitsfloskeln zu scheinbar plausiblen anthropologischen Gewissheiten auf. Zum Ressentiment gegenüber der Demokratie gesellt sich notorisch elitärer Dünkel.

Im Schlusskapitel über Grausamkeit steigert Sofsky sein Lamento zur Apotheose. Im Paradies des Schreckens versammelt er alle 18 Laster in der "Hölle der Grausamkeit als Institution", die sich "die" Menschen - im Unterschied zur christlichen Auffassung - zu ihrem Aufenthalt selbst gewählt haben.

Die Höllenwelt, die er mit grellen Strichen skizziert, gleicht jener Mantegnas - mit einem wichtigen Unterschied: "Fern ist die Göttin der Vernunft, die vor Zeiten das Paradies befreit hat." Im Widerspruch zu seiner eingangs zitierten These, es gebe keinen "Zerfall", kommt Sofsky kulturpessimistisch-postmoderner Botschaft "nur" die Vernunft abhanden.


Wolfgang Sofsky: Das Buch der Laster
Verlag C. H. Beck, München