Ungarn

Gottverlassene Zeiten

Radikale Nationalisten der "Jobbik"-Partei demonstrieren gegen Roma in Ungarn.
Radikale Nationalisten der "Jobbik"-Partei demonstrieren gegen Roma in Ungarn. In der heutigen ungarischen Gesellschaft erkannte Borbély die Erbarmungs- und Mitleidlosigkeit früherer Tage. © picture alliance / dpa
Von Jörg Plath · 29.10.2014
Selten sind die Schrecken eines entlegenen Dorfes so eindringlich geschildert worden wie in Szilárd Borbélys autobiografischem Roman. Der Autor, der 2014 den Freitod wählte, entkam dem Erlebten Zeit seines Lebens nicht.
Diese Kindheitsgeschichte wird kein Kassenschlager. Szilárd Borbélys "Die Mittellosen" verfügt nicht über den sentimentalen Schmelz von Frank McCourts Bestseller "Die Asche meiner Mutter", in dem humorvoll von überstandenen Fährnissen erzählt wird. Borbély, ein in Ungarn hoch geschätzter Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Autor, der 2014 den Freitod wählte, entkam dem Erlebten zeit seines Lebens nicht. Daher ist sein autobiografisch grundierter Roman "Die Mittellosen" im Präsens erzählt. Selten sind die Schrecken eines entlegenen Dorfes so eindringlich geschildert worden. Und so ausweglos: "Ist der Messias schon weg?" lautet der Untertitel des 2013 in Ungarn erschienenen Romans.
Der Messias war wohl nie da. Das Dorf im Dreiländereck von Ungarn, Rumänien und der Ukraine ist gottverlassen, es herrschen Hass, Erbarmungslosigkeit, Brutalität, Mordlust und Aberglaube. Man spricht nicht miteinander, man befiehlt, schreit, flucht, droht oder lässt gleich die Spucke, den Gürtel, die Peitsche, das Messer sprechen. Allerdings heißt ein Zigeuner des Dorfes Messias. Er ist geistig leicht zurückgeblieben, arglos freundlich und wird gern mit dem Leeren der Latrinen beschäftigt. Danach spucken ihn die Betrunkenen an und verhöhnen ihn: er stinke.
Töten und Begatten als Mittel der Machtausübung
"Die Mittellosen" sind die Eltern des sechsjährigen Erzählers. Die Familie haust zu fünft in einem Zimmer mit nacktem Erdboden. Als Sohn eines Kulaken, eines Großbauern, verliert der Vater seine Arbeit in der LPG, führt eine Zeit lang den Dorfladen und zieht ins Nachbardorf, als er wegen seiner Herkunft mit dem Tode bedroht wird. Frau und Kinder bleiben zurück in Hunger und Elend, und die Kinder müssen die Mutter wiederholt vom Selbstmord abhalten.
Im Dorf gewöhnt man den Kindern das Träumen ab, indem neben den Schlafenden eine Katze tot geschlagen wird. Danach erleichtern sich die erregten Männer gemeinsam im Garten und greifen den Frauen zwischen die Beine. Töten und Begatten sind Mittel der Machtausübung. Kinder müssen Tiere schlachten, angebundene Hunde werden gequält. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Der Staat ist nicht existent.
Die Familie des Ich-Erzählers ist doppelt ausgeschlossen. Sie ist zugewandert aus Rumänien, sie spricht ein anderes Ungarisch, und der Vater gilt nicht nur als Kulakensohn, sondern auch als unehelicher Balg des Dorfjuden. Als das Kulakenerbe geteilt werden soll, verstoßen ihn die Geschwister. Obwohl die Mittellosen sich als Juden, als Außenseiter, begreifen, scheuen sie den Kontakt zum ebenfalls isolierten Dorfjuden, einem Überlebenden der Vernichtungslager. Würden Judenmord, Weltkriege und ein Traktor nicht erwähnt, könnte der Roman im 19. Jahrhundert spielen.
Borbély verzichtet auf Dramatisierungen
Archaisch wirken die Lebensumstände, modern ist die Erzählweise: Borbély verzichtet auf Dramatisierungen. In kurzen Szenen, die nicht immer die kindliche Perspektive wahren, schildert er den Alltag in Haus und Kneipe, mit Großeltern und Nachbarn. Sein Erzähler besitzt nur eine, jedoch hoch symbolische Freude: die Begeisterung für Primzahlen, die nur durch sich selbst und die Eins teilbar sind.
Für Borbély war der Roman über die gebrochene Identität wohl ein Meilenstein der Bewusstwerdung. Zugleich empfand er ihn als schmerzlichen Verrat an den Eltern. Zwei Essays über Sprache und Erinnerung sind dem Roman beigegeben, außerdem erinnern sich die Übersetzer Heike Flemming und Lacy Kornitzer an persönliche Begegnungen mit Borbély. Sie charakterisieren ihn als einen Mann, der die Erbarmungslosigkeit und Mitleidlosigkeit einer aggressiv geschlossenen Gesellschaft im Ungarn unter Premier Orbán wiedererkannte und daran zugrunde ging.

Szilárd Borbély: Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
351 Seiten, 24,95 Euro