Unbekannte Gelehrte

Vergessenwerden ist der historische Normalfall

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Das Cover des Buches "Das Entschwinden der Erinnerung" auf orangefarbenem Pastell-Hintergrund.
Nur die absoluten Ausnahmefälle bleiben in Erinnerung, meint der Historiker Tobias Winnerling. © Deutschlandradio / Wallstein Verlag
Tobias Winnerling im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 13.11.2021
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Zu Lebzeiten erfolgreiche Gelehrte sind heute fast vergessen: Tobias Winnerling nennt in dem Buch "Das Entschwinden der Erinnerung" Beispiele angesehener Wissenschaftler aus dem 17. Jahrhundert, die heute kaum jemand kennt. Wie kommt das?
Thomas Gale (1636–1702), Johannes Braun (1628–1708), Adriaan Reland (1676–1718) und Eusèbe Renaudot (1646–1720) waren produktive, bekannte Gelehrte im 17. Jahrhundert, Experten im Bereich der Theologie, Philologie, Orientalistik. Heute sind die Namen allenfalls Spezialistinnen und Spezialisten ein Begriff. Wie kommt es zum Entschwinden der Erinnerung?
Sie seien "besonders genug, um erinnerbar zu sein", sagt der Historiker und Autor Tobials Winnerling im Gespräch über sein 600 Seiten starkes Buch "Das Entschwinden der Erinnerung". Die Wissenschaftler seien aber andererseits "nicht so besonders, dass sie unbedingt in Erinnerung hätten bleiben müssen".
Ohnehin blieben nur die absoluten Ausnahmefälle in Erinnerung, meint Winnerling. Die, an die wir uns erinnerten, seien im Vergleich zu den vielen Tausenden im Wissenschaftsbetrieb "zahlenmäßig völlig zu vernachlässigen".

Verwahrensvergessen und Verzwergungsvergessen

Newton etwa sei der Ahnherr in der Galerie der verdienten Geister, er habe das mit aufgebaut, auf dem wir heutzutage arbeiteten. Er sei uns jedoch auch im Bewusstsein als Vorläufer Einsteins. "Womöglich wird er ins Vergessen geraten, sobald wir über Einstein hinauskommen", mutmaßt Winnerling.
Er nennt zwei Formen des Vergessenwerdens: Verwahrensvergessen und Verzwergungsvergessen. Den Begriff des Verwahrensvergessen habe er von der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann entliehen: "Wenn ich's brauche, kann ich's nachschauen", das müsse man sich nicht mehr merken, bedeute der Begriff. Doch mit der Erinnerung verhalte es sich wie mit Informationen, die man dann doch nicht mehr anrühre. Die Erinnerung verblasst, "wenn die Information nicht zirkuliert wird, das Buch also nicht aus dem Regal genommen wird".
Anders das von Winnerling so genannte Verzwergungsvergessen: Die subjektive Größe, mit der die Wissenschaftler geschätzt wurden, werde mit Fortschreiten der Zeit kleiner. Sie seien in der Infomationszirkulation nicht mehr als relevante Größe präsent. Aus Geistesriesen würden erst Menschen und dann Geisteszwerge: "Im Garten der Gelehrsamkeit sehen unter dem Schatten des Vergessens alle Zwerge gleich aus."
Und das sei sogar beruhigend, da es heutigen Generationen an Gelehrten den Druck nehme. Bislang habe oft der Eindruck geherrscht: "Die, die in Vergessenheit geraten, haben es nicht geschafft." Damit einher sei der Glaube gegangen: "Die waren nicht gut genug, die brauchen wir gar nicht zu erinnern, die sind es nicht wert". Doch wenn alle vergessen würden und das Erinnertwerden der begründungsbedürftige Ausnahmefall sei, dann müsse man sich die Sorge schon mal nicht mehr machen.
Das Vergessenwerden sei "der historische Normalfall". Um dem entgegenzuwirken, könne man nur versuchen, die Ausgangsbedingungen so zu gestalten, dass man später in Erinnerung bleibe, wenn sich die Gelegenheit biete. "Man muss versuchen, gut zu starten. Alles Weitere hat man nicht mehr selbst in der Hand. Denn wir wissen ja nicht, was die Zukunft bringen wird."
(ros)
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