Umweltprobleme in Stuttgart

Stickige Luft im Talkessel

10:48 Minuten
Ein Schild warnt im Stuttgarter Verkehr vor Feinstaub. Baden-Württembergs Landeshauptstadt liegt in einem riesigen Talkessel.
Die Luft in Stuttgart gilt als besonders schlecht, denn durch die Kessellage können die Abgase kaum entweichen. © Getty / Thomas Niedermüller
Von Thomas Wagner · 25.08.2020
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Baden-Württembergs Landeshauptstadt liegt in einem riesigen Talkessel. Was reizvoll aussieht, wird im Hinblick auf die Luftqualität zum Problem. Im Sommer stauen sich Hitze und Abgase in der Stadt und lassen die Schadstoffwerte in die Höhe schnellen.
Autos, Autos, immer wieder Autos, auf gleich drei Verkehrsachsen, die sich hier in der Nähe kreuzen: Stuttgart, Neckartor – das Viertel hat es zu trauriger bundesweiter Berühmtheit gebracht: Denn am Neckartor wurden bundesweit über Jahre hinweg die höchsten innerstädtischen Schadstoffwerte gemessen, an einer Luftmessstation direkt an der Straße. Davon hält sich der Stuttgarter Manfred Niess aber mittlerweile fern:
"Ich war da schon mehrmals zu Interviews, musste die mehrfach abbrechen, weil mir schlecht geworden ist, und habe es seitdem abgelehnt, mich an der Luftmessstation zu treffen."
Manfred Niess ist trotz seiner 70 Jahre eine sportliche Erscheinung: Er kommt mit seinem Fahrrad auf die Rad- und Fußgängerbrücke, die über die mehrspurig ausgebaute Cannstatter Straße gleich neben dem Neckartor führt. In Stuttgart ist Manfred Niess kein Unbekannter. Seit Jahrzehnten kämpft der ehemalige Sportlehrer, der hier gleich um die Ecke im sogenannten Kernerviertel wohnt, für bessere Luft in Stuttgart. Dass die nicht nur am Neckartor manchmal so mies ist, habe gleich mehrere Gründe: Zum einen wäre da das hohe Verkehrsaufkommen, bis zu 60.000 Autos täglich stauen sich am Neckartor vorbei. Aber dann kommt noch etwas anderes hinzu:
"Wir haben hier die Kessellage. Und Stuttgart ist die windsärmste Großstadt in Deutschland. Und von daher haben wir schwierige Windverhältnisse. Im Winter sind es oft Inversionswetterlagen. Das heißt, wir haben unten Kaltluft und oben eine Warmluft oben drüber. Die kann nicht weg. Deshalb gibt es dann eine sehr hohe Konzentration. Im Sommer haben wir umgekehrt eine Art Sommersmog. Und dann steigen die Ozonwerte an, da wird es dann noch zum Ozonproblem."

Im Kessel staut sich die schlechte Luft

Vereinfacht gesagt: Weil Stuttgart in einem riesigen Talkessel liegt, herrscht "dicke Luft" in der Schwabenmetropole. Oder, ein wenig exakter formuliert:
"Das ist besonders dieser Stuttgarter Situation geschuldet: Also diese Kessellage in Verbindung mit bestimmten Witterungssituationen", sagt Rainer Kapp, der sich von Berufswegen mit der Stuttgarter Kessellage und den Auswirkungen auf die städtische Klimasituation beschäftigt.
Blick über den Kessel von Stuttgart
Aufgrund der Lage herrscht in Stuttgart in der Regel wenig Wind. Die Abgase hängen deshalb über der Stadt fest.© picture alliance / dpa / Christoph Schmidt
Kapp ist Stadtklimatologe und kennt sich aus in seinem Metier. Wer ihm zuhört, wähnt sich in einem Proseminar für Meteorologie. Da ist die Rede von vertikalen Effekten: "Das bedeutet, inwiefern warme Luft aufsteigen und Schadstoffe mitnehmen und verdünnen kann." Da ist aber auch Rede von horizontalen Effekten – also Effekte, wo es nicht um Luftverschiebungen von oben nach unten geht, sondern von West nach Ost, von Nord nach Süd. In Stuttgart verschiebt sich wegen der Kessellage oftmals gar nichts.

Es weht zu wenig Wind

"Das ist eine ausgeprägte Windarmut, die sich sozusagen in diesem Stadtkessel dann nochmals verstärkt. Das heißt, wir haben eine mittlere Jahreswindgeschwindigkeit im Innenstadtbereich von etwa 1,5 Meter pro Sekunde. Und wenn man das mit Hamburg vergleicht zum Beispiel, die haben fünf bis sechs Meter pro Sekunde in der Innenstadt."
Will heißen: In Stuttgart weht ein anderer Wind als anderswo. Man möchte eher von einem zaghaft säuselnden Lüftchen sprechen, und das bedeutet: Die mit Schadstoffen angereicherte Luft verdünnt sich weitaus weniger rasch als in nahezu allen anderen deutschen Städten vergleichbarer Größe.
26.06.2019: Ein Display an einem Gebäude am Stuttgarter Schloßplatz zeigt 37 Grad Celsius an.
Ein Display an einem Gebäude am Stuttgarter Schloßplatz zeigt im Juni 2019 37 Grad Celsius an. Die Hitze staut sich in der Stadt.© picture alliance / dpa /Marijan Murat
Stadtklimatologe Rainer Kapp schätzt, dass bei gleicher Schadstoffemission der Verdünnungs- und Selbstreinigungseffekt der Stuttgarter Luft gerade mal bei einem Viertel der Werte in anderen urbanen Regionen Deutschlands liegt – ein Effekt, der sich in den Wintermonaten noch verstärkt:
"Wolkenlos, kalte Nacht, und dann jeweils ausgeprägte Inversion und tagsüber geringe Mischungsschichthöhen führt tagsüber zu sehr hohen Konzentrationen. Und das ist eben dieser besonderen Stuttgarter Situation geschuldet, also dieser Kessellage mit bestimmten Witterungssituationen."

Noch weniger Grün durch Stuttgart 21

"Das ist meine Fahrradhupe: Ich habe eine Klingel für Fußgänger. Von Autofahrern wird man damit aber meistens nicht gehört. Deshalb habe ich da noch so ein Posthorn. Da werde ich auch von den Autos aus manchmal gehört, ja."
Zurück zu Manfred Niess: Selbst auf der Brücke über dem Neckartor ist es ihm zu stickig geworden. "Wir gehen gleich in einen Park. So, wir können dann ja Richtung Wasser. Da wird es dann angenehmer. Das ist die Veränderung vom Schlossgarten."
Kaum zu glauben: Nur ein paar Hundert Meter weg von der Straße rund ums Neckartor erstreckt sich ein Park mit viel Grün und Schatten spendenden Bäumen. Manfred Niess geht gerne hierher, wo es naturnah duftet, wenn er über die "dicke Luft" in Stuttgart spricht.
Klar, an der Kessellage selbst lasse sich nichts ändern. Nur: Bewusst habe man auch noch ein Teil des innerstädtischen Grüns zubetoniert, was der Luftqualität nicht eben zugutekomme. Manfred Niess zeigt auch die riesigen Baukräne im Hintergrund – die umstrittene Großbaustelle Stuttgart 21. Ein riesiger unterirdischer Tiefbahnhof soll dabei entstehen, wofür Teile des Schlossparkes gerodet wurden.
"Ich lebe im Kernerviertel. Und das war einfach die Lunge des Schlossgartens. Und diese Lunge ist einfach abgeholzt worden. Das waren jahrhundertealte Bäume, die eine unglaubliche Kapazität hatten an CO2-Umwandlung durch Fotosynthese. Und das ist jetzt weg. Und dann wurde gesagt: Wir pflanzen Ersatzbäume. Und die Ersatzbäume wurden dann teilweise in Stammheim und woanders gepflanzt, aber hier in der Innenstadt wenig. Das heißt, für das Klima in der Innenstadt nützt das überhaupt nichts."

Langsam wird die Luft besser

Doch gerade in der Innenstadt müsse sich die Luftqualität deutlich verbessern, meint Niess. Und das gehe nur über eine Einflussgröße, die man reduzieren könne: nämlich über den Autoverkehr. Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich Niess dafür ein, dass die von den Autos verursachten Schadstoffemissionen sinken. Gerichtlich hat er durchgesetzt, dass der Autoverkehr am Neckartor um 20 Prozent reduziert werden muss. Und auch bei den Fahrverboten für ältere Dieselfahrzeuge war er ein Mitstreiter. Seit diesem Jahr gilt das sogar für PKW mit der Schadstoffnorm Euro 5. Immerhin: So ganz allmählich werde die Luftqualität besser, beobachtet Manfred Niess:
"Das merkt man jetzt langsam, wobei nicht ganz klar ist, was welche Auswirkungen hat. Durch die Coronakrise haben wir jetzt zum ersten Mal weniger Verkehr gehabt. Also grade beim Lockdown war am Neckartor die Situation so, wie wir sie schon immer gewünscht haben, das waren 20, 30 Prozent weniger Verkehr. Da sind die Stickoxide runtergegangen. Im Moment würden wir in Stuttgart die Grenzwerte einhalten."

Streit um das Dieselfahrverbot

Was prompt zu einem Politikum im Sommerloch geführt hat. Denn das Fahrverbot ist trotz "dicker Luft" nicht populär bei den Stuttgartern. Die grün-schwarze Landesregierung will daher wegen der geringeren Grenzwerte gegen das gerichtlich angeordnete Dieselverbot vorgehen. Aber, so Manfred Niess:
"Man hat die Jahresmittelwerte ja nur für 2019. Für 2020 ist noch gar nichts da. Das heißt, das ist jetzt voreilig. Zu dem Zeitpunkt des Gerichtsurteils waren die Werte noch überschritten. Und da gilt das, was in dem Gerichtsurteil gesagt worden ist. Und von daher muss das Fahrverbot durchgeführt werden."
Autos fahren auf der Hauptstätter Straße in Stuttgart.
In Stuttgart gilt formal ein flächendeckendes Fahrverbot für Euro-5-Diesel. Dadurch ist die Luft ein wenig besser geworden.© picture alliance/ dpa / Sebastian Gollnow
Dabei hat die Stadt Stuttgart einiges unternommen, damit die Luft im Stadtzentrum sauberer wird. Da wurden Mooswände installiert, um die Stickoxide zu binden. Auch ein neuartiger Straßenbelag streckt sich ums Neckartor herum, der ebenfalls die Luft von Stickoxiden reinigen soll. Nicht alle dieser Maßnahmen waren von Erfolg gekrönt. Allerdings: Mit einem neuen Tarifsystem versucht die Stadt Stuttgart, die Menschen vom Auto in Busse und Straßenbahnen zu bewegen. Die Rechnung schien aufzugehen – fast.
"Bevor Corona war, waren die Nutzerzahlen im ÖPNV ständig ansteigend. Noch im Februar hat der Verkehrsverbund Zahlen geliefert und gesagt: 20 Prozent mehr Fahrgäste. Das ist jetzt wieder runtergegangen. Aber ich glaube, in fünf Jahren werden wir das auch wieder geschafft haben."

Corona bremst den Fahrradboom

So Sylvia Pilarsky-Grosch, Landesgeschäftsführerin des BUND Baden-Württemberg. In einem anderen Bereich sieht sie aber größere Chancen, dass sich die Luftqualität in Stuttgart verbessert.
"Aufs Fahrrad gehen die Leute. Wir haben ja in unmittelbarer Nähe vom Neckartor, in der Nähe von Bad Cannstatt, eine Brücke mit einer Fahrradzählstelle. Und da kann man erkennen, wie die Anzahl der Fahrradfahrer ständig wächst."
Immerhin: Die Zahl der sogenannten Überschreitungstage, an denen in Stuttgart die EU-Feinstaub-Grenzwerte von 50 Mikrogramm gerissen werden, sind von etwa 100 vor zehn Jahren auf 27 im vergangenen Jahr zurückgegangen. Es tut sich was in Sachen Luftverbesserung in Stuttgart – allerdings, so BUND-Landesgeschäftsführerin Sylvia Pilarsky-Grosch: "Das ist noch lange nicht genug, die Werte werden ja weiter überschritten."
Wenn die Luft schlecht ist, gehe es den Menschen schlecht, betont die BUND-Landesgeschäftsführerin. Beispiel: Stickoxide. "Bei Stickoxiden ist ja das Problem, dass es in die Lunge geht, die Lunge reizt, und man dann empfindlicher wird auf sämtliche Krankheiten, die mit der Lunge zu tun hat."
Mag sich die Luftqualität auch verbessert haben, hier sieht die BUND-Funktionärin trotzdem noch deutlich "Luft nach oben". Das bestätigt auch eine Stuttgarterin in der Innenstadt. Sie rümpft mal kurz die Nase, lacht und sagt: "Des stinkt halt schon. Ja, auf jeden Fall!"
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