Umweltaktivismus

Warum die Demokratie das Radikale braucht

04:10 Minuten
Auf einer Wiese vor dem Kanzleramt in Berlin stehen Zelte und Transparente.
Zeltlager von "Extinction Rebellion" vor dem Kanzleramt in Berlin. © imago images / Jürgen Ritter
Ein Standpunkt von Charlotte von Bernstorff · 18.10.2019
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Die Klima-Bewegung "Extinction Rebellion" machte zuletzt weltweit mobil: Den Argwohn, mit dem viele ihrer Methode des zivilen Ungehorsams begegnen, teilt die Journalistin Charlotte von Bernstorff nicht – sie sei eine Chance für die Demokratie.
Die Methoden von "Extinction Rebellion" werden immer wieder als "radikal" kritisiert.
Das Wort "radikal" stammt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie "von der Wurzel her". Radikal zu sein bedeutet also übertragen auf die Politik, gesellschaftliche und politische Probleme "an der Wurzel" anzugreifen und von dort aus möglichst umfassend und nachhaltig zu lösen. "Extinction Rebellion" ist in diesem Sinne in jedem Fall radikal.
Allerdings schwingt beim Begriff "radikal" häufig die Bewertung "extremistisch" mit. Doch diese Verknüpfung ist falsch: Extremisten lehnen den demokratischen Verfassungsstaat ab und sie sind in der Regel gewaltbereit. "Radikal" bleibt für viele dennoch ein Reizwort, das sie mit unkontrollierbaren, plötzlichen Umbrüchen verbinden.

Legitimer Platz für radikale Auffassungen

Radikale politische Auffassungen haben in der Demokratie aber einen legitimen Platz, so sieht es sogar der deutsche Verfassungsschutz. Solange sie sich nicht gegen die Grundprinzipien dieses Landes richten.
Das oberste Gebot von "Extinction Rebellion" ist die Gewaltfreiheit. Entsprechend friedlich sind die Proteste bisher verlaufen. Die Aktivistinnen brechen jedoch ganz bewusst und mit Ankündigung Gesetze. Sie wollen Abläufe stören und viele legen es darauf an, ins Gefängnis zu kommen. Ist das legitim?
Die Umweltschützer können hier auf namhafte Unterstützer zählen. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas bezeichnet zivilen Ungehorsam als "Wesenszug einer reifen politischen Kultur". Wenn der Staat an einer konkreten Herausforderung scheitert, wenn die Interessen aller betroffen und legale Mittel erschöpft sind, ist ziviler Ungehorsam legitim, so Habermas.

Verstößt das Klimapaket gegen das Grundgesetz?

Die legalen Wege scheinen bei der Diskussion um wirkungsvollen Klimaschutz tatsächlich erschöpft zu sein.
Mit dem kürzlich beschlossenen Klimapaket kann Deutschland die Pariser Klimaziele in keinem Fall einhalten. Unser Grundgesetz schreibt aber die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen vor. Und auch die Wissenschaft lässt keinen Raum für Zweifel: Wenn wir nicht sofort handeln, werden der Eisschmelze Kettenreaktionen folgen, die wir nicht mehr rückgängig machen können.
Diese Aussicht hält Politiker wie etwa den FDP-Chef Christian Lindner nicht davon ab, den Aktivistinnen von "Extinction Rebellion" vorzuwerfen, sie würden die Demokratie in Frage stellen. Lindners Kritik ignoriert jedoch die dritte Forderung der Bewegung: Die Einberufung einer ausgelosten Bürgerinnenversammlung durch die Bundesregierung, die zu konkreten politischen Problemen Stellung bezieht.
Sie soll das Parlament nicht ersetzen, sondern ergänzen und damit die Demokratie stärken.

Bürgerinnenräte zur Stärkung der Demokratie

Es wäre einen Versuch wert, das verloren gegangene Vertrauen in die politischen Institutionen mit einer erweiterten Mitsprache der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Mit "direkter Demokratie" hat das allerdings noch nichts zu tun, und das ist auch gut so. Denn wie das laufen kann, hat der Brexit gezeigt: Eine komplexe Fragestellung wird auf eine einfache Ja-Nein-Frage verkürzt. Ohne dass die Bürger sich vorher mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen.
Die Idee der Bürgerräte setzt hingegen auf einen Prozess des Informierens und Beratschlagens. Und es hat sich gezeigt: Diese Methode kann bei sehr umstrittenen Themen zu einer Verständigung mit breitem Konsens führen.
Demokratie ist keine in Beton gegossene Staatsform. Sie muss lebendig sein, um von den Bürgerinnen akzeptiert zu werden. Die Aktionen von "Extinction Rebellion" zeigen, wie Demokratie im 21 Jahrhundert funktionieren kann: Als ein ständiger Prozess der Kommunikation, der maßgeblich von wachen und engagierten Bürgerinnen geprägt wird.

Charlotte von Bernstorff, 1991 im Wendland geboren, arbeitet als freie Journalistin und studiert Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. Ihre Schwerpunktthemen: Europapolitik, Umweltbewegungen, Kunst- und Kulturszene. Journalistisch ist sie u.a. für Deutschlandradio, Frankfurter Rundschau, FAZ.net sowie das VAN Magazin tätig.

Charlotte von Bernstorff posiert für ein Porträtfoto
© Isabella Nadobny
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