Umsatteln in Münster

Die Schattenseiten einer Fahrradstadt

Radfahrer in der Altstadt von Münster. Im Hintergrund die Lambertikirche.
Radfahrer in der Altstadt von Münster. Im Hintergrund die Lambertikirche. © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Von Christoph Sterz |
Dass deutschlandweit immer mehr Menschen auf Fahrrädern unterwegs sind, wird oft bejubelt. Allerdings stellt das die Städte auch vor neue Herausforderungen. Das lässt sich besonders gut in Münster, mehrfach gekürte Fahrradstadt Deutschlands, beobachten.
Münster, Wolbecker Straße, auf dem Weg in die Innenstadt. Trotz des Regenwetters flitzt ein Radfahrer nach dem anderen über den schmalen Radweg. Der Weg führt vorbei an Bushaltestellen, Fußgängern, dicht geparkten Autos, dem Transporter eines Paketzustellers.
Für Matthias Wüstefeld vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC ein gutes und aus Radfahrer-Sicht gleichzeitig sehr schlechtes Beispiel für Münsters Verkehrssituation – entgegen aller Fahrradstadt-Klischees.
"Ich habe selber da vorne einen Unfall mitbekommen. Da hat eine Frau ihren PKW beladen wollen, wollte also die hintere Tür aufmachen, stand auf dem Radweg. Hier kommen zwei Radfahrer, die sehr eng fahren, die kamen da nicht dran vorbei. Der Linksfahrende verringert die Geschwindigkeit, kommt mit dem Vorderrad in das Hinterrad des anderen und überschlägt sich. Das ist so ein typischer Radwege-Unfall, der passiert, wenn der Platz für Radfahrer und Fußgänger nicht ausreichend ist. Aber diese Stellen wie hier, das wird noch enger da hinten, die haben wir überall in der Stadt, gerade kurz vor der Promenade."
Enge Radwege als Sicherheitsrisiko
Zu enge Radwege – ein Sicherheitsrisiko und eine Sache, die sich Münster eigentlich nicht mehr leisten kann - wegen der enormen Zahl an Radfahrern, die jeden Tag in der Stadt unterwegs sind. Ungefähr 40 Prozent der Wege werden auf dem Rad zurückgelegt; pro Tag sind das geschätzt eine halbe Million Fahrten. Aber dazu kommt eben noch eine andere Zahl: die der Unfälle, an denen Radfahrer jedes Jahr beteiligt sind. Andre Weiss von der Polizei Münster:
"Wir haben in Münster circa 1.500 Verletzte im Straßenverkehr. Und die Hälfte davon, also 50 Prozent, 750 davon sind Radfahrer. Das ist eine viel zu große Zahl und da ist es unsere Aufgabe, diese Zahl weiter zu reduzieren."
Dabei ist die tatsächliche Zahl der verletzten Radfahrer wahrscheinlich noch deutlich höher; laut einer Studie der Uniklinik Münster dreimal so hoch wie die offiziellen Zahlen. Verkehrssicherheit, es ist ein drängendes Problem in der Stadt, die für viele ja als Deutschlands Fahrrad-Hauptstadt gilt.
Unfall-Hauptstadt will Münster aber eben nicht sein; und deswegen lässt sich im Stadtzentrum beobachten, dass sich zumindest stellenweise durchaus etwas tut in punkto Sicherheit für Radfahrer.
Wüstefeld: "Ja, wir können jetzt mal weiterfahren zur Promenade."
Auf dem Weg dorthin ist ein roter Streifen auf die Straße gepinselt worden – wie ein ausgerollter Teppich liegt der Fahrradweg da an der großen Kreuzung. Das ist aber noch nicht die einzige Neuerung hier, erklärt Matthias Wüstefeld vom ADFC.
"Jetzt habe ich als Radfahrer Grün, und der Autofahrer bekommt auch Grün, aber nur für den Geradeaus-Verkehr. Und damit wird dieses Gefährdungspotential durch Rechtsabbieger an dieser Kreuzung ganz stark gemindert. Wir haben an der Wolbecker Straße zwei tödliche Unfälle gehabt. Beides Rechtsabbieger-Unfälle mit LKWs. Erst nach den Rechtsabbieger-Unfällen ist man bereit gewesen, die Durchflussgeschwindigkeit zu verändern, das heißt: Der Rechtsabbieger separat Grün, und dann der Radfahrer, oder erst der Radfahrer und dann der Rechtsabbieger. Ich muss überlegen: Was will ich? Will ich Verkehrssicherheit erhöhen oder Durchflussgeschwindigkeit? Und ich denke, ich muss die Verkehrssicherheit für alle erhöhen."
Egal wen man fragt, ob Stadt, Polizei oder Radfahrer: Diese Meinung hat sich in Münster weitgehend durchgesetzt. Nur nicht mit aller Konsequenz. Denn auch flächendeckend Tempo 30 in der kompletten Innenstadt könnte für weniger schwere Unfälle sorgen – nur ist dieses Thema erstmal vertagt worden, weil es für den Oberbürgermeister-Wahlkampf zu unbequem war, selbst für Münster noch zu umstritten ist.
Streife mit Mountainbike und EC-Kartenlesegerät
Sowieso können noch so viele Regeln gelten; sie werden nur wirksam, wenn sich die Auto- und die Radfahrer auch daran halten. Dafür zu sorgen, das ist der Job von Carsten Pollert. Der Polizist fährt jeden Tag Streife mit seinem Dienst-Mountainbike; mit Helm, gelber Warnweste und EC-Kartenlesegerät.
"Es gibt ne Studie, die man uns nahegelegt hat, wo es ganz einfach heißt: Der Weg in den Kopf der Verkehrsteilnehmer führt nur übers Portemonnaie. Einfach ausgedrückt. Aber es scheint sich dann zu manifestieren."
Fahrradstreife: Polizist Carsten Pollert mit seinem Dienst-Mountainbike
Fahrradstreife: Polizist Carsten Pollert mit seinem Dienst-Mountainbike© Deutschlandradio - Christoph Sterz
Kaum, dass Carsten Pollert sein Mountainbike abgestellt hat, und sich an einer Einbahnstraße postiert hat, stoppt er schon die erste Verkehrssünderin auf ihrem Hollandrad.
Pollert: "Grund des Anhaltens: Sie fahren in einer Einbahnstraße. Da steht das letzte Schild, dass Sie hier nicht reindürfen. Sehen Sie die Rückseite: Rot mit weißem Balken."
Frau: "Ähm, dann, ja, mit Karte zahlen."
Pollert: "Dann hole ich mal eben das Gerät. Dann einmal Ihre Karte, bitte."
20 Euro sind fällig; die junge Frau gibt sich nachsichtig; und schiebt nach dem Bezahlen ihr Fahrrad. Seit Pollert und seine acht Kollegen Fahrradstreife fahren, haben die Verstöße abgenommen, sagt der Polizist. Auf seiner täglichen Tour durch die Innenstadt hat er trotzdem immer noch genug zu tun, und zwar vor allem mit:
Pollert: "Fahren entgegen der Fahrtrichtung, sprich in einer Einbahnstraße, Handy, Rotlicht."
Reporter: "Kostet direkt?"
Pollert: "Ja, wir kassieren direkt, wir haben da auch wenig Spielraum, weil die Unfallzahlen einfach für sich sprechen, und da möchten wir runter."
Konsequent durchgreifen, Präsenz zeigen, informieren, auch mal Blutproben nehmen, um das Thema Alkohol in den Vordergrund zu rücken - das ist die Strategie der Polizei. Wobei Münster nicht nur auf dem Gebiet der Fahrradunfälle recht weit vorne liegt.
Fahrradparkhaus als Schutz vor Langfingern
Auch Fahrraddiebstähle sind ein großes Problem, schon alleine deswegen, weil in Münster so viele Fahrräder verfügbar sind, geschätzt 500.000. Jede sechste Kriminaltat in Münster ist ein Fahrraddiebstahl. Ein kaum zu lösender Fall für die Polizei, sagt Ralf Bleeck, Leiter des Kommissariats Kriminalprävention und Opferschutz.
"Die Aufklärungsquote liegt so circa bei zehn Prozent. Das ist natürlich nicht so hoch, wie wir uns das vorstellen würden. Aber das liegt darin begründet, dass der Deliktsbereich uns relativ wenige Ermittlungsansätze gibt. Stellen Sie sich vor, ein Bürger kommt zur Wache und erstattet eine Anzeige wegen eines Fahrraddiebstahls, dann ist das Fahrrad weg. Der Tatort in der Regel gibt uns auch nichts wieder, in der Regel wird auch kein Schloss zurückgelassen vom Täter, dass wir da vielleicht einen Ansatz haben. Wir wissen also ungefähr, in einem Zeitfenster von bis, dass dort ein Fahrrad gestanden hat, das jetzt verschwunden ist."
Die Polizei versucht es auch hier mit Aufklärung, empfiehlt stabile Bügelschlösser, kontrolliert an Diebstahl-Schwerpunkten, ruft zur Wachsamkeit auf und dazu, sein Rad zu registrieren.
Eine weitere Möglichkeit, sein Fahrrad vor Langfingern zu schützen, steht seit 1999 am Hautbahnhof: Die Radstation, damals eröffnet als Deutschlands erstes Fahrrad-Parkhaus, und nach wie vor beliebt bei seinen Kunden.
Frau: "Weil’s mir zu teuer ist, um es mir klauen zu lassen. Also mir geht es primär darum, dass es nicht geklaut wird und dass ich leicht rankomme, dass es nicht verrostet und diese ganzen Sachen."
Mann: "Was mich genervt hat im Winter halt, dass das Fahrrad, Licht ging nicht und es war vereist und so ist es besser und ich weiß immer, wo es steht. Und wenn ich mal drei Wochen nicht komme, dann weiß ich, dass es hier ist und da oben weiß ich nicht, wo ich es mir wiedersuchen muss."
Aber dafür muss man bereit sein, etwas zu bezahlen fürs Abstellen der Leeze, wie das Fahrrad in Münster auch genannt wird. Pro Tag 70 Cent oder pro Monat 7 Euro. Außerdem ist die Radstation gerade zum Semesterstart gerne mal ausgebucht.
Fahrradleichen rund um den Münsteraner Hauptbahnhof.
Fahrradleichen rund um den Münsteraner Hauptbahnhof.© Deutschlandradio - Christoph Sterz
Münster quillt stellenweise über, vor allem an rostigen Klapper-Rädern – dieses Gefühl bekommt man, wenn man vor dem Parkhaus, rund um den Bahnhof unterwegs ist, so wie Radstation-Betreiber Georg Hundt. Der hat gerade freien Blick auf eine Art Fahrrad-Friedhof; auf dutzende Klapperräder; die eben nicht im kostenpflichtigen Parkhaus stehen, sondern davor.
"Das Problem bei den hier abgestellten Fahrrädern ist, dass sie zu größeren Teilen mehr oder weniger entsorgt werden. Das sieht man schon an der Situation, wie die Fahrräder hier abgestellt sind, dass die im Innenraum praktisch nicht zugänglich sind, weil außenrum alles sehr dicht zugeparkt ist. Also das ist das Eine. Das ist auch erhärtet, weil das Ordnungsamt in Münster geschätzt zweimal im Jahr die Flächen, auf denen hier Fahrräder geparkt sind, reinigt und von Schmutz und Unrat befreit. Und die dann umgesetzt werden. Und da stellt sich eben raus, dass der größte Teil auch nicht abgeholt wird."
Georg Hundt wünscht sich wie in seiner Radstation auch im öffentlichen Raum doppelstöckige Fahrrad-Ständer; wie es das in den Niederlanden schon gibt. Aber auch die würden wohl schnell wieder zugeparkt sein mit Schrotträdern. Die darf nämlich selbst das Ordnungsamt nicht einfach so entfernen, weil es sonst möglicherweise gegen Eigentumsrechte verstößt.
Räder stehen im Weg
Zu Besuch bei Michael Milde, Verkehrsplaner der Stadt Münster. Er hofft mal abgesehen von einer möglichen Schrottrad-Gesetzesänderung vor allem auf den gesunden Menschenverstand. Denn auch normale Räder stehen in Münsters Innenstadt gerne mal im Weg.
"Der Münsteraner selber möchte das Fahrrad eigentlich immer überall mithin und damit auch verfügbar haben. Das heißt, ich sage immer: Eigentlich hängt das Fahrrad am Gürtel der Hose dran, egal ob kleine oder größere Entfernungen, die in der Innenstadt dann auch überbrückt werden müssen. Ich glaube, da geht es auch um das Thema Rücksichtnahme, ein bisschen auch mitdenken und nachdenken und sich vielleicht auch in die Situation versetzen, wie ich selber auf dem Bürgersteig mit dem Rollator oder dem Kinderwagen unterwegs bin. Und mir dann doch vorher in der einen oder anderen Situation vielleicht überlege, dann doch das Fahrrad mal zentral dort für mich zu parken, wo es a) natürlich keinen behindert und wo ich vielleicht ein bisschen weitere Fußwege zurücklege, um dann wieder zum Fahrrad zurückzukehren."
Das klingt erstmal nach einem Luxus-Problem, ist aber ein gutes Beispiel für den Widerspruch zwischen dem legitimen Wunsch der Radfahrer als vollwertige Verkehrsteilnehmer wahrgenommen zu werden und dem manchmal rücksichtslosen Verhalten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern wie zum Beispiel Fußgängern.
Zu mehr Rechten gehören eben auch mehr Pflichten. Deswegen gibt es seit einem Jahr einen Runden Tisch Radverkehr, unter anderem mit ADAC, ADFC, Einzelhändlern, Stadt und Polizei; und es gibt Zählstellen, um überhaupt erstmal festzustellen, wann und wo besonders viele Radler unterwegs sind.
Aber auch ohne diese Messungen ist schon jetzt klar, dass die Radfahrer mehr Platz brauchen, dass Radwege breiter werden müssen, alleine schon um sicherer zu sein. Die schmalen Streifen auf dem Bürgersteig genügen an vielen Stellen nicht mehr. Das Ganze ist allerdings eine schwer zu lösende Aufgabe, meint Verkehrsplaner Michael Milde.
"Wir müssen neuen Raum generieren. Den bekommen wir aber nicht, indem wir zusätzliche Fläche in Anspruch nehmen, weil neue Fläche gibt es nicht. Links und rechts gibt es dann ja aufstehende Häuserwände natürlich. Und das bedeutet letztlich, dass wir in Konkurrenz treten, und zunehmend eben auch in Konkurrenz treten zum Autoverkehr und zum Autoparken. Und das bedeutet eben die große Herausforderung, hier einen Konsens zu finden in der Stadtgesellschaft, wie wir künftig öffentlichen Verkehrsraum, dort wo wir es benötigen, neu verteilen. Und das wir sicherlich auch zu Lasten des Autoverkehrs gehen müssen."
Unterschiedliche Geschwindigkeiten sorgen für Ärger
Und was auch ganz offensichtlich ist: Je mehr die Stadt beim Thema Fahrrad tut, desto mehr neue Radfahrer zieht sie an. Auch solche, die bisher kaum Fahrrad gefahren sind. Das freut Michael Milde und seine Kollegen; das sorgt aber auch wieder für ganz neue Herausforderungen.
Am besten lässt sich das auf der Promenade beobachten; auf dem autofreien Ring rund ums Stadtzentrum. Wenn ADFC-Mann Matthias Wüstefeld da unterwegs ist, dann begegnen ihm die unterschiedlichsten Leezen, vom elektrobetriebenen Rad bis zur Klapperkiste – und auch die unterschiedlichsten Verkehrsteilnehmer.
"Wir haben halt diese große Differenz. Wir haben die Eltern, die mit ihren Kindern unterwegs sind, selbst fahrende Kinder, die auf dem Bürgersteig fahren idealerweise, die Eltern aber auf dem Radweg und nicht auf dem Bürgersteig, die aber die Fahrgeschwindigkeit mit den Kindern halten müssen. Wir haben die älteren Verkehrsteilnehmer, die mit einem normalen Fahrrad vielleicht mit elf, zwölf Kilometern fahren. Wir haben Lastenräder. Und diese ganzen Geschwindigkeitsunterschiede habe ich auf dem Radweg. Das habe ich beim Autoverkehr nicht. Ein Auto, wenn da 50 steht, dann gebe ich Gas dann fährt das Auto 50. Das habe ich aber nicht beim Fahrrad."
Sicheres Überholen, auf breiten, gut einsehbaren Wegen; klare, überall geltende Verkehrsregeln; außerdem die grundsätzliche Erlaubnis, als Radfahrer jederzeit auf der Straße fahren zu dürfen, selbst wenn es einen Radweg gibt – so ließe sich nach Ansicht von Matthias Wüstefeld dafür sorgen, dass Münster sicherer wird; dass es die größten Probleme in den Griff bekommt.
Und für eine Fahrradstadt sind das wirklich drängende Probleme; auch wenn andere Städte, also Nicht-Fahrrad-Städte wie Köln oder Wiesbaden, von solchen Problemen nur träumen können.
Früher oder später wird auch diesen Städten keine andere Möglichkeit bleiben, als zu lernen, dass Radfahrer besondere Bedürfnisse haben, die in neue Verkehrskonzepte integriert werden müssen. Davon ist Matthias Wüstefeld fest überzeugt .
"Wenn wir Radfahrer alle Auto fahren würden, dann müssten die Autofahrer Fahrrad fahren, weil sie gar nicht mehr in die Stadt kämen. Man muss das mal umkehren, um bewusst zu machen, was hier eigentlich passiert. An und für sich müssten dem Radfahrer, ich sag mal, rote Teppiche ausgerollt werden, weil der Radfahrer derjenige ist, der hier überhaupt noch Verkehr ermöglicht. Und nicht Verkehr behindert."
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