Umgang mit islamistischen Anschlägen

Eine Herausforderung für den Schulunterricht

07:06 Minuten
Der französische Premierminister Jean Castex, zweiter von links, und Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, zweiter von rechts, halten eine Schweigeminute für den getöteten Geschichtslehrer Samuel Paty ab, am Montag, 2. November 2020, in einer Schule in Conflans-Sainte-Honorine, nordwestlich von Paris.
Gedenken an Samuel Paty: Frankreichs Premierminister Castex (2. v. l.) und Bildungsminister Blanquer (2. v. r.) bei einer Schweigeminute in der Schule des getöteten Geschichtslehrers. © picture alliance / AFP / Thomas Coex
Von Lea De Gregorio · 11.07.2021
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Islamistische Anschläge versetzen Menschen in Angst und Schrecken. Der Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty war gerade für Lehrerinnen und Lehrer ein Schock. Solche Themen im Unterricht aufzugreifen, ist schwierig - aber wichtig.
Vielen Lehrerinnen und Lehrern fällt es schwer, im Unterricht über islamistische Anschläge zu sprechen. Sie müssen mit verschiedenen Meinungen umgehen und Kontroversen aushalten. So etwa nach der Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty im Oktober 2020.
Paty hatte Mohammed-Karikaturen aus der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" gezeigt, um mit Schülerinnen und Schülern über Meinungsfreiheit zu sprechen. Ein islamistischer 18-Jähriger enthauptete ihn, nachdem in sozialen Medien gegen Paty mobilisiert worden war.

Lehrkräfte fühlen sich überfordert

Die Auswirkungen waren auch in deutschen Schulen zu spüren. "Es gab ein Gefühl von Bedrohung in einzelnen Fällen sicherlich, aber natürlich auch von Überforderung", erzählt der Islamwissenschaftler Jochen Müller. "Ich glaube, das ist sogar das Überwiegende, dass sich sehr viele Lehrer und Lehrerinnen – und das ist auch nachzuvollziehen – überfordert fühlen mit den Haltungen, mit Positionen von Jugendlichen."
Müller arbeitet für den Verein ufuq.de. Die Initiative klärt über Islam und Islamismus auf und bearbeitet auch das Thema antimuslimischer Rassismus. Gemeinsam mit anderen Organisationen hat ufuq.de eine Webtalkreihe zum Umgang mit islamistischen und rassistischen Anschlägen veranstaltet.
Müller plädierte dabei dafür, unbedingt zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden. Dies gelte auch im Umgang mit Schülerinnen und Schülern – etwa dann, wenn diese Positionen vertreten, die Lehrkräfte zunächst nicht einordnen können.

Umstrittene Gedenkminuten

Zu Kontroversen kommt es etwa bei Gedenkminuten. Nach der Ermordung Patys waren auch viele Lehrer und Lehrerinnen hierzulande dem Aufruf der französischen Regierung gefolgt, im Unterricht eine Schweigeminute abzuhalten.
Hans-Peter Fritz, der an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Spandau in einer 8. Klasse Politik unterrichtet, war an dem Tag nicht in der Schule. Der Vertretungslehrer habe ihm später erzählt, dass es zu Problemen kam:
"Da gab es einen Schüler mit einem türkisch-kurdischen Hintergrund, der nicht mitmachen wollte bei der Gedenkminute. Und dann ist der Kollege auch sehr schnell wohl sehr aufbrausend geworden, hat wohl auch gesagt, 'das ist doch Islamismus', was er da betreibe. Die Situation ist auf jeden Fall ziemlich eskaliert in der Klasse."

Gefahr des Generalverdachts

Die Reaktion des Vertretungslehrers habe zum Konflikt geführt und der Schüler habe jedes Einlenken abgelehnt, erzählt Fritz:
"Die Position des Lehrers war halt: Wer jetzt nicht an der Schweigeminute dran teilnimmt, unterstützt die Islamisten oder ist sozusagen Geistesbruder der Islamisten. Und der Schüler hat‘s dann halt auch nicht eingesehen und dann gab's dann halt so eine Blockadehaltung von beiden."
Porträt von Jochen Müller.
Jochen Müller vom Verein ufuq.de berät Schulen und Jugendeinrichtungen zum Umgang mit Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus.© Privat
Jochen Müller von ufuq.de sagt, dass Lehrkräfte muslimische Schüler und Schülerinnen oft vorschnell unter Verdacht stellen, mit islamistischen Ideologien zu sympathisieren:
"Der Jugendliche verhält sich auf eine bestimmte Art und Weise, und vor dem Hintergrund eines Anschlages oder vor dem Hintergrund des Diskurses, des gesellschaftlichen, bringe ich das in Bezug auf Islamismus. Und das ist doppelt fatal, weil ich die Jugendlichen damit vor dem Hintergrund ihrer Religion unter einen Generalverdacht stelle."

Mangelnde Informationen

Dies führe zu Diskriminierung, die die Jugendlichen spüren. Bei dem Boykott von Schweigeminuten gehe es meist gar nicht um die Unterstützung des Anschlags. Vielmehr reagierten Schülerinnen und Schüler auf die teils diskriminierenden Reaktionen anderer. Müller plädiert daher dafür, Gedenkminuten vorab zu besprechen und gut einzubetten.
Als Hans-Peter Fritz wieder in der Schule war, versuchte er herauszufinden, weshalb der Schüler nicht an der Gedenkminute teilgenommen hatte:
"Und dann ist eigentlich relativ schnell klar geworden, dass die Hälfte der Klasse gar keine Ahnung hatte, was da überhaupt passiert war oder beziehungsweise andere Informationen hatte."
Bei einem Workshop wird ein Plakat erstellt.
Suche nach Zusammenhängen: In einem Workshop des Vereins ufuq.de gestalten Schülerinnen und Schüler ein Plakat.© ufuq.de
Einige Eltern würden bevorzugt türkisches Fernsehen schauen. In den Familien sei vor allem der Eindruck entstanden, dass der französische Präsident Emmanuel Macron die Rechte von Musliminnen und Muslimen beschränken wolle. Das sei auch der Grund, weshalb der Schüler die Teilnahme an der Gedenkminute verweigert hatte:
"Er dachte, er müsse jetzt sozusagen für die Entrechtung von Muslimen in Frankreich aufstehen."

Die Karikaturen sind für manche problematisch

Der 17-jährige Recep aus Nordrhein-Westfalen erzählt, dass auch in seiner Schule eine Schweigeminute abgehalten wurde. Receps Lehrer habe seiner 10. Klasse aber nicht erklärt, worum es genau ging. Recep ist Muslim und hätte den Anschlag gern besprochen:
"Die Karikaturen fand ich nicht korrekt, weil es halt auch in unserer Religion verboten ist, Bilder zu zeichnen vom Propheten oder irgendwie zu sagen, ja, er sah so aus, so aus, weil es halt nicht bestätigt wird vom Koran."
Er will aber unbedingt klarstellen, dass die Ermordung von Samuel Paty mit seiner Sicht auf den Islam nicht vereinbar ist.
"Im Islam ist es verboten, Menschen unnötig zu töten. Also solange es keine Notwehr ist, solange du nicht kurz vorm Sterben bist, darfst du keinen verletzen oder irgendwie töten, außer du bist jetzt im Krieg."
Die Lehrerin Bahar Aslan vor ihrer Schule in Gelsenkirchen
Bahar Aslan unterrichtet an einer Hauptschule in Gelsenkirchen, sie hat mit ihren Schülerinnen und Schülern über den Mord an Samuel Paty gesprochen.© Privat
Bahar Aslan, die an einer Hauptschule in Gelsenkirchen Geschichte und Politik unterrichtet, hat im Unterricht über den Anschlag gesprochen. Sie habe zunächst erklärt, was passiert ist und was Islamismus bedeutet. Viele Schülerinnen und Schüler ihrer 8. Klasse fragten auch: Was ist überhaupt eine Karikatur?

Erklären und Fragen zulassen

Ein Schüler habe nicht verstanden, weshalb Mohammed-Karikaturen erlaubt sind. Dabei sei es ihm um die Tatsache gegangen, dass diese viele verletzen.
"In seiner Logik war das eben so: Wenn so viele Muslime hier leben, dann muss die Regierung ja auch etwas tun, um sozusagen die Muslime zu schützen."
In ihren Augen sei es eine pädagogische Aufgabe, Wege zu finden, um mit sensiblen Themen umzugehen und sich für Fragen von Schülerinnen und Schülern zu öffnen, sagt Aslan:
"Dann habe ich natürlich auch versucht, zu erklären, dass es manchmal auch so ist, dass man Widersprüche aushalten muss. Auf der einen Seite ist es so, dass diese Karikaturen verletzend sein können für Schülerinnen und auch für Musliminnen, aber auf der anderen Seite ist eben diese Satirefreiheit und die Kunstfreiheit da."

Raum für verschiedene Positionen schaffen

Viele Lehrkräfte hätten Schwierigkeiten, sich für unterschiedliche Positionen zu öffnen, sagt Jochen Müller von ufuq.de. Natürlich könne es passieren, dass in der Klasse islamistische Einstellungen vertreten sind. In den allermeisten Fällen sei das aber nicht der Fall. Wichtig sei es, einen Raum für die Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler zu schaffen, sagt er:
"Dann ist es oft so, dass die Jugendlichen mit Antworten kommen, die sich hinter Grundgesetz, Menschenrechtscharta und freiheitlich-demokratischer Grundordnung nicht zu verstecken brauchen."
Lehrerinnen und Lehrer müssten nicht davor zurückschrecken, islamistische Anschläge im Unterricht zu thematisieren, findet Müller. Denn im Idealfall kann daraus eine Diskussion entstehen, aus der alle etwas lernen – vorausgesetzt, sie hören einander zu.
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