Konfrontative Religionsausübung an Schulen

Neukölln will einen Anlaufpunkt für Problemfälle schaffen

06:32 Minuten
Eine Schülerin trägt im Klassenzimmer während des Unterrichtes eine Jacke und ein Kopftuch.
Konfliktraum Klassenzimmer und Pausenhof. Eine spezialisierte Anlaufstellen soll bald Lehrkräfte bei religionsbezogenen Problemen unterstützen. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Arno Burgi
Von Luise Sammann · 11.06.2021
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Mobbing, da Mitschüler Schweinefleisch essen: "Konfrontative Religionsausübung" wird dies genannt und kommt in Berlin vor. Der Bezirk Neukölln will nun wissen, wie groß das Problem ist, und seine Lehrkräfte unterstützen. Ein Förderantrag läuft.
Jungen, die andere mobben, weil sie Schweinefleisch essen, Mädchen, die Mitschülerinnen ihren Glauben absprechen, weil sie kein Kopftuch tragen. "Konfrontative Religionsausübung" heißt es in der Fachsprache, wenn Menschen anderen ihre Religion aufoktroyieren wollen.
Der Berliner Bezirk Neukölln hat jetzt beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben die Bereitstellung von 59.000 Euro zur Einrichtung einer "Anlauf- und Dokumentationsstelle gegen konfrontative Religionsbekundung" beantragt. Der Bezirk will das Problem genauer erfassen, auch ob es ein wachsendes Problem ist.
Astrid Busse, Vorsitzende des Interessenverbandes der Berliner Schulleiterinnen, muss nicht lange überlegen, wenn es um Beispiele für konfrontative Religionsausübung an ihrer Neuköllner Grundschule geht:
"Das hatten wir auch schon, dass sich ein Zehnjähriger vor einer Kollegin aufbaut, die arabischstämmig ist, und sagt: 'Du bist keine gute Muslima, wie du hier so aussiehst' und 'Du hast mir gar nichts zu sagen'."
Allerdings, so Busse, kämen solche Fälle an ihrer Grundschule nur selten vor. Schwieriger werde es dort, wo ältere Jahrgangsstufen unterrichtet werden.

Tugendhaftigkeit und Anerkennung

An der Rönten-Schule läutet der Pausengong. Detlef Pawollek leitet die integrierte Sekundarschule. Auch er kennt das Problem, indes nicht nur von muslimischen Schülern, sondern zum Beispiel auch von solchen, die den freikirchlichen Pfingstgemeinden nahestehen, einer weltweiten christlichen Bewegung, die als missionarisch orientiert gilt.
"Die Religion wird als ein Machtinstrument benutzt", sagt Pawollek. Im Alltag erlebe man das ganz besonders immer während der Fastenzeit: "Je mehr tugendhafter das Verhalten, desto mehr Anerkennung gewinnt man."
Bisweilen sei es so, dass sich Glaubensrichtungen dem plötzlich anpassten, etwa die Aleviten, die zu den gegebenen Zeiten eigentlich gar nicht fasten, weil sie ihre eigenen Fastenzeiten hätten, schildert der Direktor: "Das zeigt schon, wie stark der soziale Druck bisweilen ist."

Aufoktroyieren einer Religionspraxis

Ob es sich bei solchen Vorkommnissen nun um unerfreuliche Einzelfälle oder eben doch um Alltag an Neuköllner Schulen handelt, soll in Zukunft die beantragte "Anlauf- und Dokumentationsstelle gegen konfrontative Religionsbekundung" erfassen. Es handle sich um ein deutschlandweites Pilotprojekt, erklärt Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD):
"Es gibt noch keine Quantifizierung von solchen Konflikten. Vielleicht irren wir uns auch und das sind Einzelfälle." Er glaube das zwar nicht, sagt Hikel. "Dafür ist es zu häufig von Schulen berichtet worden."
Aber er wolle das mal quantifizieren und auch qualitativ aufarbeiten lassen: "Wann ist es denn eine Art von Aufoktroyieren eines Glaubens in einer Religionspraxis? Wann ist es pubertäres Gehabe und Identitätsfindung? Irgendwie zu provozieren, so wie Schüler und Schülerinnen oftmals irgendwann in der 8. und 9. Klasse beispielsweise über die Stränge schlagen."

Der Umgang mit konfrontativer Religionsausübung

Nicht nur bei der Erfassung und Einordnung, sondern auch beim anschließenden pädagogischen Umgang mit religiös konnotierten Konflikten soll die geplante Stelle Unterstützung bieten. "Passgenaue pädagogische Strategien für betroffene Schulen zu erarbeiten", sei das Ziel, so Bezirksbürgermeister Hikel.
"Das ist eine sehr schwierige Diskussion, weil man nicht dazu tendieren darf, in theologische Diskussionen einzusteigen, ob das richtig oder falsch ist, sondern man hat da eine ganz andere Ebene", erklärt Hikel.
Man müsse den Lehrkräften und Pädagogen etwa an die Hand geben und sie unterstützen, damit professionell umzugehen und Konflikte gut zu moderieren. "Es geht darum, Religion und Freiheit miteinander kompatibel zu machen und nicht quasi zuzuschauen, wie diese beiden Aspekte inkompatibel miteinander werden", sagt Hikel.

Keine theologische Diskussion

Auch Detlef Pawollek, Leiter der Röntgen-Sekundarschule in Neukölln, betont: Theologische Diskussionen seien in den meisten Fällen weder möglich noch nötig. "Es geht nicht um eine Religion im Sinne von einer Religionswissenschaft oder auch im Sinne von einer aufrichtig ausgeübten Religion", macht er klar.
Man habe natürlich hin und wieder auch Schüler, die einen religiösen Anspruch hätten, wo man merke, dass auch im Elternhaus ein religiöser Anspruch transportiert werde. "Mit diesen Schülern haben Sie aber nie Probleme, weil sie natürlich ihre Religion nicht instrumentalisieren, sondern ihren Glauben einfach ausleben und nicht im Geringsten Interesse daran haben, ihren Glauben zu überhöhen."
Anders seien diejenigen, die zum Beispiel meinen, Schweinefleisch essende Mitschüler zurechtweisen zu müssen. "Das Problem, worüber wir reden, ist, dass das die Schichten sind; das sind meistens sehr bildungsferne Elternhäuser, die sich aufgrund dieser Attitüden oder Befindlichkeiten eher versuchen, persönlich zu überhöhen."

Politischer Islam

Selbstverständlich könnten und müssten Pädagoginnen und Pädagogen in solchen Fällen schlichtend eingreifen, so der Schulleiter. Gegen die Tatsache jedoch, dass Strömungen wie der sogenannte politische Islam zunehmend die Stimmung in Neuköllner Klassenzimmern beeinflussten, seien sie letztendlich jedoch machtlos.
"Pädagogisch ist das nicht aufzuarbeiten. Es ist auch kein pädagogisches Problem", sagt Pawollek. "Es ist ein Problem des Kiezes, der Gesellschaft." Er gebe das ganz klar zurück: "Das ist ein Auftrag der Politik, Wege und Mittel zu finden, dagegen zu arbeiten; Positionen und Haltungen einzunehmen, um uns letztlich damit in unserer Schule zu entlasten."
Dennoch begrüßt der Schulleiter die nun geplante Stelle, die bei erfolgreicher Antragstellung schon nach den anstehenden Sommerferien ihre Arbeit aufnehmen soll. Jede mögliche Unterstützung für Pädagoginnen und Pädagogen sei zu begrüßen, meint auch Astrid Busse, die Vorsitzende des Interessenverbandes Berliner Schulleiterinnen. Das gelte auch, wenn Insider aus der Extremismusbekämpfung angesichts eines Bezirks mit 330.000 Einwohnern und über 80 Religionszugehörigkeiten das beantragte Budget von 59.000 Euro für 2021 als Peanuts bezeichneten.
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