Ulrike von Pilar von "Ärzte ohne Grenzen"

"Manchmal sind die stillen Tode am schlimmsten"

37:23 Minuten
Ulrike von Pilar hat kurze weiße Haare und trägt gelbe Kugelohrringe. Sie schaut vor blauem Hintergrund ernst in die Kamera.
Einen großen Wunsch hat Ulrike von Pilar (hier in einem Foto von 2003): ein friedliches Afghanistan bereisen. "Aber ich glaube, das erlebe ich nicht mehr." © picture-alliance / dpa
Moderation: Tim Wiese · 25.06.2021
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Ulrike von Pilar war Mitbegründerin und jahrelang das Gesicht der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Deutschland. Auch als Rentnerin engagiert sie sich für die humanitäre Hilfe. Den Impuls dazu bekam sie als Mathematik-Dozentin in Hongkong.
In den ersten zehn Jahren ihrer beruflichen Laufbahn beschäftigte sich Ulrike von Pilar ausschließlich mit Biomathematik. "Dann bin ich mit einem großen Sprung in der humanitären Hilfe gelandet."
Eine Mathematikerin bei "Ärzte ohne Grenzen"? Kein Einzelfall, denn die Organisation braucht mehr als nur Mediziner, sagt Ulrike von Pilar. "Mathematiker gibt es nicht so häufig. Wir haben zum Beispiel auch Sinologen, und natürlich Anthropologen und Finanzfachleute."

"Sie haben nur nach Freiheit gesucht"

Um zu erklären, wie die Wissenschaftlerin, die über Modellierungen von Epidemien promovierte, zur Gründungspräsidentin von "Ärzte ohne Grenzen in Deutschland" wurde, muss man sie gedanklich nach Hongkong begleiten. Hier arbeitete sie 1988 als Dozentin und erlebte die Lebensumstände vietnamesischer Flüchtlinge, der so genannten Boatpeople.
Die meisten von ihnen, so erinnert sich Ulrike von Pilar, "waren anerkannte Flüchtlinge, die trotzdem in Gefangenenlagern eingesperrt wurden".
Deren Situation empfand sie als schockierend. "Ich war noch nie in einem Flüchtlingslager und dann kommt man in diese Lager. Es empfangen einen Drahtzäune mit Stacheldraht, Wachtürme, kein Grün, große Baracken. Eine Familie hatte ungefähr sechs Quadratmeter. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man Menschen so unterbringen kann, die ja nichts getan haben, außer nach Freiheit zu suchen."

"Sehr missionarisch unterwegs"

Nach diesem Erlebnis wurde aus der Dozentin die Schul- und Arbeitskoordinatorin für das UNHCR in den Hongkonger Lagern. Ihr kleiner Erfolg: Die Kinder duften zur Schule gehen.
In Hongkong bekam Ulrike von Pilar aber auch einen ersten Eindruck davon, warum Hilfsorganisationen gerade heute nicht unumstritten sind. "Zum Beispiel gab es Organisationen, die doch sehr missionarisch unterwegs waren, was ich äußerst unangenehm fand."
Anfang der Neunzigerjahre kehrte sie nach Europa zurück, begann ihre humanitäre Arbeit bei "Ärzte ohne Grenzen Belgien", 1993 wurde von Pilar Mitbegründerin und Gründungspräsidentin der Sektion in Deutschland.
Gegründet wurde die Organisation bereits 1971, vor allem unter dem Eindruck "der Unabhängigkeitskriege in den so genannten Dritte-Welt-Staaten. Die Gesundheitssysteme waren zumeist katastrophal und die Menschen wurden in diesen Konflikten nicht versorgt", so Ulrike von Pilar.

"Manchmal muss man an die Öffentlichkeit gehen"

Schon in den Anfangsjahren sollte sich zeigen, wie schwer es ist, Neutralität zu wahren und sich als Organisation nicht instrumentalisieren zu lassen. Diese Probleme, so die ehemalige Präsidentin, existieren bis heute. Den Bedürftigen zu helfen, stehe an erste Stelle. Manchmal müsse man aber auch an Öffentlichkeit gehen.
"Das geht so weit, dass man protestieren und sagen muss: `Wir machen das nicht länger mit, weil wir Teil eines Systems sind, das mehr schadet als nützt.' Ein Beispiel ist die neueste Pressemitteilung von Ärzte ohne Grenzen, in der sie ankündigen, dass sie es nicht mehr verantworten können, in zwei Gefangenenlagern in Libyen zu arbeiten."

"Müssen uns am Riemen reißen und Neues schaffen"

Heute sind etwa 50.000 Menschen für "Ärzte ohne Grenzen" beschäftigt. 90 Prozent stammen aus den Projektländern selbst, erzählt Ulrike von Pilar.
Vorwürfe, durch Hilfsorganisationen kämen Leute ins Land, die den Menschen vor Ort sagen würden, wie es gemacht werde, habe man bei "Ärzte ohne Grenzen" ebenfalls diskutiert.
"Ich glaube, in manchen Konflikten ist es ganz hilfreich, wenn internationale Kräfte, die nicht Teil des lokalen Konfliktes sind, manche Führungspositionen übernehmen. Aber das ist gerade schwer ins Rutschen geraten und sehr in der Diskussion. Die Rassismus-Diskussion und die postkoloniale Diskussion der letzten Jahre haben durchaus einen Effekt, auch auf die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen. Wir müssen uns da schwer am Riemen reißen und Neues schaffen."

Afghanistan im Frieden

Ulrike von Pilar stammt selber aus einer Flüchtlingsfamilie. Vater und Großvater kamen aus dem Baltikum, wurden 1939 ins heutige Polen umgesiedelt. 1945 flohen sie vor der Roten Armee. Diese Fluchtgeschichten "waren unterschwellig immer da", könnten ihr Engagement in der humanitären Hilfe erklären.
Die Arbeit bei "Ärzte ohne Grenzen" haben viele Bilder und Erinnerungen hinterlassen. Eine Begegnung in Darfur 2004 lässt Ulrike Pilar bis heute nicht los. Zusammen mit anderen besuchte sie eine Klinik ihrer Organisation:
"Wir waren Zeuge, wie ein junges Ehepaar sein zweijähriges Kind verlor. Dieses Kind starb, während wir alle es zu retten versuchten. Viele Kollegen haben viel Schlimmeres erlebt. Aber es sind ja manchmal die stillen Tode, die mit am schlimmsten sind."
Ulrike von Pilar hat in den mehr als drei Jahrzehnten in der humanitären Arbeit viele Regionen dieser Welt erlebt. Ein Land möchte sie unbedingt noch einmal sehen: "Ich würde für mein Leben gern zurück nach Afghanistan, in Frieden. Aber ich glaube, das erlebe ich nicht mehr."
(ful)
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