Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen

"Eine schwer idealistische Geschichte"

34:58 Minuten
Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen
Für seine Einsätze für Ärzte ohne Grenzen wurde Tankred Stöbe von der Bundesärztekammer 2016 mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet. © Ärzte ohne Grenzen
Moderation: Tim Wiese · 05.11.2020
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Seit 18 Jahren ist der Notfall- und Intensivmediziner Tankred Stöbe für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Er hilft Menschen in Krisengebieten wie dem Sudan, Syrien oder aktuell dem Jemen: Erfahrungen, die ihm wichtiger sind als Geld und Karriere.
Sein erster Einsatz für die Organisation Ärzte ohne Grenzen führte Tankred Stöbe 2002 in den Grenzbereich von Myanmar und Thailand. Dort war er beeindruckt von der schönen Natur, aber auch sehr gefordert von der medizinischen Versorgung einer dort ansässigen ethnischen Minderheit.
Das Volk der Mon war in einer verminten Umgebung in seinen Dörfern praktisch gefangen. "Das war für mich ein großer Sprung, von steriler Intensivmedizin in Deutschland zum Dschungelarzt zu mutieren." Vor allem habe man es dort mit Malaria zu tun. "Aber es gibt eben alles", sagt Stöbe und berichtet von einem Mann, dem er das Gesicht rekonstruieren musste, das nach einem Sturz vollkommen zerstört war. "Das war jetzt auch nicht meine Kernkompetenz, aber es gab einfach keinen anderen Arzt, der das hätte machen können."

Kriseneinsatz statt Karriere

Für diese fordernden Einsätze, die ein bis zweimal pro Jahr für circa einen Monat erfolgen, erhalten die Mediziner gerade einmal 800 Euro Aufwandsentschädigung. "Finanziell lohnt es sich nicht. Es ist letztendlich eine schwer idealistische Geschichte." Die klassische Krankenhauskarriere wird durch die vielen Abwesenheiten natürlich ausgebremst. Dass diese ihm aber beruflich nicht alles bietet, merkte Stöbe schon früh. Bereits im Studium streckte er seine Fühler in Richtung Ausland aus, machte zwei Praktika in Afrika, das praktische Jahr in Indien und den USA.
Ein Freund gab ihm dann nach einigen Jahren als Arzt in Deutschland den Rat, sich bei Ärzte ohne Grenzen zu bewerben. Dass er dort seinen Weg gefunden hatte, zeigte sich bereits bei der ersten Einsatzerfahrung. "Deswegen bin ich auch immer wieder rückfällig geworden."

Von der Pflege zum Medizinstudium

Stöbes erster Berufswunsch war eigentlich ein ganz anderer. "Wir haben viel Schauspiel gemacht an der Schule, und ich dachte, ich bin ein genialer Schauspieler und muss mich nur irgendwo bewerben, und dann ruft auch gleich Hollywood an." An der Hamburger Schauspielschule wird er "ziemlich dramatisch abgeschmettert", wie er sagt.
Statt sich woanders zu bewerben, reist Stöbe erst einmal durch Australien und Neuseeland. "Auf dieser Reise habe ich mich immer wieder gefragt: Was will ich denn machen im Leben? Und da ist der Arztberuf so ein bisschen in mir als Idee gewachsen".
Zu Hause beginnt er mangels passender Abiturnoten zunächst mit einer Pflegeausbildung und geht dann, als er Anfang der 90er-Jahre zugelassen wird, zum Medizinstudium nach Greifswald. "Das war noch Original-DDR. Diese fundamentalen Lebensveränderungen, die die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung erleben konnten, aber auch mussten, diese Erfahrung mitzuerleben, war ganz spannend."

Der Blick über den Tellerrand

Sein jüngster Einsatz hat Stöbe in den Jemen geführt. Dort hatte er es nicht nur mit diversen Schussverletzungen und Verkehrsunfallopfern zu tun, sondern erlebte auch, was es bedeutet, in einem Bürgerkriegsland an Covid-19 zu erkranken. Es gebe kaum Krankenhauskapazitäten und Behandlungsmöglichkeiten: "Die meisten sind wirklich zu Hause jämmerlich erstickt an dieser Viruserkrankung."
Wenn man hierzulande erlebe, wie Menschen sich über die pandemiebedingten Einschränkungen beklagen, meint er, dass es nicht schaden würde, auch mal über den Tellerrand hinauszublicken: "Manchmal denke ich, es ist fast so eine Luxus-Arroganz, die hier gelebt wird, weil wir es eben noch nicht so dramatisch erlebt haben."
Auch sonst könne man sich in Deutschland einiges von den Ländern des globalen Südens abschauen: "Ich glaube, gerade in Krisen bedarf es einer größeren Flexibilität, individuell aber auch als Land schnell, pragmatisch und bedarfsgerecht zu handeln. Da müssen wir immer noch viel, viel lernen."
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