Ulrich Woelk: "Der Sommer meiner Mutter"

Erste Liebe, tragischer Tod und Mondlandung

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Im Vordergrund das Cover zu "Der Sommer meiner Mutter" von Ulrich Woelk, im Hintergrund Blick auf den Halbmond in der zunehmenden Phase, gesehen im Rhein-Kreis Neuss
Ulrich Woelk erzählt in "Der Sommer meiner Mutter" vom elfjährigen Tobias, seiner ersten Liebe und dem tragischen Schicksal seiner Mutter. © C. H. Beck Verlag/ dpa picture alliance / Hans-Joachim Rech
Von Dorothea Westphal · 12.03.2019
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Ulrich Woelk erzählt anhand zweier Familien vom tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel Ende der 1960er-Jahre. Mit "Der Sommer meiner Mutter" setzt er auch der technischen Revolution und einem historischen Weltereignis ein Denkmal.
Der erste Satz schockiert und gibt das Ende bereits vor - den Tod der Mutter und damit auch das tragische Ende eines Sommers, der von "Apollo 11" geprägt war. Am 20. Juli 1969 betraten erstmals Menschen den Mond. Der Ich-Erzähler, inzwischen Astrophysiker bei der Europäischen Raumfahrtagentur, erinnert sich, wie er als Junge der Fernsehübertragung der Mondlandung entgegen fieberte.
Bei Verwandten, die bereits einen Farbfernseher haben, versammelt sich die Familie mit einem befreundeten Ehepaar und deren Tochter. Ähnlich aufregend wie die Landung der Raumfähre entwickeln sich die Ereignisse dieser Nacht. Auf fesselnde Art und Weise erzählt Woelk, wie es dazu kommt, dass im Leben des elfjährigen Tobias danach nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Woelk veranschaulicht den Zeitgeist mit vielen Details

Der Vater teilt als Ingenieur dessen Mondbegeisterung, die Mutter ist gemäß dem Rollenverständnis der 60er Jahre Hausfrau, trägt Jackenkleider statt Jeans, für die sie sich mit 38 zu alt fühlt. Die Leinhards, die ins Haus nebenan am Stadtrand von Köln gezogen sind, bezeichnen sich als Kommunisten und sind gegen den Vietnamkrieg. Von der frühreifen Tochter Rosa, benannt nach Rosa Luxemburg, ist Tobias fasziniert. Trotz politischer Differenzen befreunden sich die Familien.
Dass Rosas Vater schwarze Rollkragenpullover und seine Frau Flatterblusen trägt, kann man klischeehaft finden, aber es sollen hier ja auch zwei Welten aufeinander prallen: konservativ die eine, links und vermeintlich offener gegenüber den mit den Studentenprotesten beginnenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen die andere. Beide Familien stehen gewissermaßen für den tiefgreifenden Wandel, der sich neben dem rasanten technischen Fortschritt vollzog - in einer Zeit, die Woelk mittels vieler Details anschaulich wiederbelebt.

Der Sommer der Mondlandung ist auch der Sommer der Liebe

Und so ist "Der Sommer meiner Mutter" nicht nur der Sommer der Mondlandung, sondern auch der Sommer der Liebe und für die Mutter wie auch für Tobias der Sommer einer erotischen Initiation. Besonders das Schicksal der Mutter berührt, steht sie doch stellvertretend für eine Frauengeneration, die von der sich langsam ankündigenden Frauenbewegung noch nicht profitieren konnte. Zwar wagt sie sich, angeregt durch die Nachbarin, an eine Tätigkeit als Übersetzerin - ein zaghafter Emanzipationsversuch. Letztlich aber wird, wer von der Norm abweicht, gesellschaftlich geächtet.
Der Roman, der geschickt auf eine überraschende Volte hinführt, zeigt, wie das Verhältnis der Geschlechter dem technischen Fortschritt hinterher hinkte - ein Missverhältnis, das bis heute nicht ausgeglichen ist. Auch der Junge vergisst in dieser Nacht den Mond für eine Weile; gilt es doch, zaghaft eine andere Welt, die Sexualität, zu erkunden.
Rosa befürchtet, er könne den Mond in sich verlieren. Dass Tobias später als Astrophysiker zumindest an seine Mondbegeisterung anknüpfen kann, ändert nichts an dem erlittenen Verlust. Woelk, ebenfalls Astrophysiker, hat in seinem neuen Roman nicht nur einer Zeit gesellschaftlicher und technischer Revolutionen, sondern auch dem Mond ein literarisches Denkmal gesetzt. Passend zum 50. Jahrestag der Mondlandung ist das eine gelungene literarische Mission.

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter
C.H. Beck, München 2019
189 Seiten,19,95 Euro

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