Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende"

Alltag in der NS-Diktatur in beklemmenden Details

Buchcover "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz, im Hintergrund ein Blick vom Alexanderplatz zum Roten Rathaus in Berlin Mitte um 1935
Buchcover "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz, im Hintergrund ein Blick vom Alexanderplatz zum Roten Rathaus in Berlin Mitte um 1935 © Verlag Klett-Cotta / imago / Arkivi
Von Helmut Böttiger · 07.03.2018
Die Schläger stehen schon vor der Tür, ein jüdischer Geschäftsmann muss fliehen. Mit "Der Reisende" versetzt Ulrich Alexander Boschwitz die Leser mitten in den Alltag der Nazidiktatur. Der Roman erschien bereits im Jahr 1939 auf Englisch – und nun endlich auf Deutsch.
Der 1915 geborene Ulrich Alexander Boschwitz war ein deutscher Jude, der 1935 nach England floh und anschließend in Australien interniert wurde. Bei der Rückkehr starb er im Alter von 27 Jahren, als ein deutsches U-Boot das Schiff zerstörte.
Sein Roman "Der Reisende" kam zwar in englischer Übersetzung 1939 heraus, blieb in Deutschland bis jetzt aber unbekannt. Das Buch zeigt, wie das System der Nazis von unten funktionierte, wie sich der "kleine Mann" im Normalfall verhielt, wie der Opportunismus der Mitläufer genau aussah.

Spannende, fast filmische Sprache

Man ist sofort mittendrin, die Sprache ist packend und fast filmisch, mit vielen Dialogen. Otto Silbermann, ein reicher jüdischer Geschäftsmann aus Berlin, kann am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht, über den Dienstboteneingang seiner Wohnung fliehen; die Nazischläger stehen schon vor der Tür.
In den nächsten Stunden überlagern sich zwei Welten: Die alte, in der sich Silbermann in seinem gewohnten Ambiente bewegt, mit Büro und Kaffeehaus, und die schon längst erkennbar gewordene neue, in der sein Alltag vollkommen außer Kraft gesetzt ist und er ständig verhaftet zu werden droht. Jeder weiß im Berlin des Jahres 1938, wofür das Wort "Konzentrationslager" steht.
Es kommt zu einprägsamen, dichten Szenen. Sein ehemaliger Prokurist, der "arisch" ist und den er aus taktischen Gründen zum Kompagnon gemacht hat, kann ihn jetzt schamlos betrügen. Und der Geschäftsführer des vornehmen Hotels, in dem er immer verkehrt hatte, komplimentiert ihn galant mit bedauernden Worten hinaus.

Wenn vermeintliche Gewissheiten kippen

Der Roman zeigt, wie schnell vermeintliche Gewissheiten kippen können, wie selbstverständlich die gewohnte Umgebung zu einer feindlichen werden kann. Die Kleinbürger, die sich immer zu kurz gekommen fühlen und die für ihre Unzufriedenheit Sündenböcke brauchen, bekommen jetzt plötzlich Gelegenheit aufzubegehren – gegen Intellektuelle, gegen Feingeister, gegen alle, die sie für "etwas Besseres" oder für eine "Elite" halten.
Wie verheerend es ist, wenn niedere Instinkte freigesetzt und nicht mehr differenziert werden muss, wenn jeder nur noch seinen eigenen kleinen Vorteil im Auge hat, das zeigt der Autor Boschwitz in lauter beklemmenden Details.

Vieldeutige Szenen rasant erzählt

Der Roman ist sehr gekonnt gebaut. Einzelne Situationen sind montiert wie in einem Drehbuch, in immer rasanterem Tempo, mit unterschiedlichsten Charakteren. Es gibt etliche sich verselbständigende, vieldeutige Szenen.
Einmal etwa lernt Silbermann auf einer seiner rastlosen Zugreisen eine elegante Dame kennen, die etwas leicht bohemienhaft Verworfenes hat. Wie sie auf ihn wirkt, wird zu einer ausgezeichneten Milieu- und Charakterstudie. Und Silbermann selbst hat durchaus etwas Widersprüchliches, er ist nicht einfach ein Sympathieträger. Es ist erstaunlich, wie scharf die Wahrnehmungen dieses jungen Autors damals waren, wie plastisch der Nazi-Alltag von 1938 hier aufscheint.

Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende"
Roman
Hrerausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018
302 Seiten, 20 Euro

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