Kommentar zur Ukraine
Viele ukrainische Soldaten sind seit Jahren im Dienst, kriegsmüde, verletzt oder gefallen. Nun versucht die Ukraine, mit einem Mobilisierungsgesetz 500.000 neue Soldaten zu rekrutieren. © IMAGO / ABACAPRESS / Smoliyenko Dmytro / Ukrinform / ABACA
Kriegsdienst ist eine ganz persönliche Entscheidung
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Die Ukraine braucht dringend neue Soldaten. In Deutschland hat dies eine Debatte über den Umgang mit ukrainischen Kriegsdienstverweigerern ausgelöst. Die Journalistin Tamina Kutscher warnt davor, deren Schicksal zu instrumentalisieren.
Etwa 600.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sind derzeit in der EU, davon rund 200.000 in Deutschland. Auch Politikerinnen und Politiker kennen diese Zahlen. Sahra Wagenknecht etwa verweist darauf und schlussfolgert: „Auch die ukrainische Bevölkerung möchte, dass dieser Krieg endet.“ Die Leute würden mit den Füßen abstimmen, meint sie und appelliert für baldige Friedensgespräche mit Russland.
Können wir bitte damit aufhören, ein komplexes Thema so zu vereinfachen? Wer die Ukraine verlässt, um der Mobilisierung zu entgehen, stimmt damit nicht automatisch für diese oder jene politische Lösung ab, sondern trifft in einer hochkomplexen existenziellen Situation eine ganz persönliche Entscheidung.
Müde vom Krieg
Da ist etwa Juri: Als Russland am 24. Februar 2022 die gesamte Ukraine angegriffen hat, kannte er den Krieg schon seit acht Jahren. Er war 21 Jahre alt und lebte in Donezk im Osten der Ukraine, als der Krieg dort 2014 begann. Juri heißt eigentlich anders, aber er möchte anonym bleiben.
Der Krieg hat sein ganzes Leben verändert. Er konnte es sich nicht vorstellen, hat es sich nicht ausgesucht, der Krieg ist ihm einfach widerfahren. Viele Freunde, Verwandte sind geflohen, Juri hat sein Studium abgebrochen, erlebte die Okkupation durch Russland, die Errichtung der sogenannten Volksrepublik Donezk und: dass Bekannte von der Straße weg rekrutiert wurden, um in der russischen Armee zu kämpfen. Schließlich hat Juri vor rund zwei Jahren viel Geld gezahlt, um über Russland in die EU zu fliehen, zunächst nach Lettland. Heute lebt Juri in Deutschland. Und er möchte nicht kämpfen für sein Land, die Ukraine. Nicht an der Front. Er habe keine Kraft mehr. Nach zehn Jahren sei er müde vom Krieg. Müde davon, Angst zu haben, um Freunde, Familie, Nachbarn, das eigene Land, das eigene Leben.
Ist Juris Weigerung zu kämpfen aber ein politisches Plädoyer für das Einfrieren des Krieges? „Nein“, sagt Juri. „Der Krieg würde nicht aufhören. Er endet nur, wenn die Ukraine gewinnt.“ Davon ist er überzeugt. Dazu brauche die Ukraine materielle Unterstützung, findet Juri, vor allem mehr Munition.
Recht auf freie Entscheidung
Und doch fehlen der Ukraine nicht nur Waffen – sondern auch Soldaten. Es ist eine existenzielle Situation, eine Frage auf Leben und Tod. Für das Land, für jeden einzelnen Ukrainer. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist in der Ukraine seit März 2022 ausgesetzt. Ein jüngst verabschiedetes Mobilisierungsgesetz sieht vor, dass wehrfähige ukrainische Männer ohne Wehrpass an ukrainischen Konsulaten im Ausland keine Dokumente mehr erhalten.
Sofort begann die Debatte hierzulande: Soll Deutschland im Zweifel Ersatzdokumente ausstellen? „Ein Dilemma“ heißt es quer durch die Parteien. Man möchte die Ukraine unterstützen, die eben Soldaten braucht, gleichzeitig gilt in Deutschland ein Kriegsdienstverweigerungsrecht – von Rechts wegen nur für Deutsche.
Das Recht, das eigene Land mit der Waffe zu verteidigen, bereit zu sein, dafür zu sterben: der freie Wille, die individuelle Entscheidung, dies zu tun oder nicht zu tun – sind das nicht eigentlich die Rechte und die Werte, für die die Ukraine gerade kämpft? Deutschland kann also diejenigen Ukrainer, die hier Zuflucht suchen und den Dienst an der Waffe ablehnen, nicht bestrafen.
Komplexe Fragen nicht vereinfachen
Ja, die Frage ist sehr komplex. Ja, es ist ein Dilemma. Für die meisten bleibt es schwierig, auch wenn die Entscheidung ins Ausland zu gehen schon gefallen ist. Es hört nicht auf. Auch nicht für Juri: Wie lange er in Deutschland bleiben kann, ist unklar. Ob ihn sein Weg doch eines Tages an die Front führt, vermag er nicht zu sagen.
Russlands Angriffskrieg hat Juris Leben und das von Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern längst umgeschrieben. Wird ihr Schicksal instrumentalisiert und werden die komplexen Fragen dahinter vereinfacht, so ist am Ende keinem geholfen.