Emergency Archiving

Ukrainische Historiker dokumentieren den Krieg

07:05 Minuten
Eine Rauchwolke steigt nach einer Explosion in Lwiw auf.
In der von Russland angegriffenen Stadt Lwiw arbeiten die Historikerinnen und Historiker unter großem Zeitdruck. © picture alliance / AP / Uncredited
Von Tim Schleinitz · 20.04.2022
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Während Bomben auf die Stadt fallen und ihr Leben in Gefahr ist, archivieren Historikerinnen und Historiker in Lwiw Dokumente des Krieges. Dazu sprechen sie mit Überlebenden und Geflüchteten, sichern aber auch Chatprotokolle.
Die politische Dimension von Geschichtsbildern wird im Krieg überdeutlich, sagt Taras Nazaruk vom Center for Urban History im ukrainischen Lwiw. „Im Center sprechen wir immer davon, dass Geschichte eine Art Ressource sein kann, um über unsere aktuelle Lage zu sprechen. Geschichte gibt uns die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was jetzt grade passiert. Darüber kann man dann diskutieren."
Eine wichtige Aufgabe. Doch was, wenn die Gegenwart unmittelbar das eigene Leben bedroht, wenn russische Raketen in Lwiw einschlagen? „In den ersten Wochen nach der Invasion schien mir Geschichte vollkommen irrelevant. Es war unmöglich, an Vorkriegsprojekte zu denken“, sagt Nazaruk. „Ich habe mich gefragt: Wie kann meine Arbeit, wie kann die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen relevant sein?“ Darauf habe sie keine Antwort gefunden. „Also habe ich mich erstmal humanitär engagiert: Wir haben zum Beispiel im Institut eine Notunterkunft für Geflüchtete eingerichtet“

Betroffene nicht retraumatisieren

Aber schon nach kurzer Zeit konnten die Historikerinnen und Historiker in Lwiw eine andere Perspektive einnehmen – sie begannen mit der „Notarchivierung“. So würden die Historiker am Institut es nennen. „Also die unmittelbare Reaktion auf Ereignisse, die historische Relevanz haben könnten. Die Aufzeichnung von Kriegserlebnissen etwa war Teil dieser Reaktion von uns als Geisteswissenschaftlerinnen. Auch um etwas für die Zukunft zu tun. Denn eine ganz basale menschliche Reaktion auf so eine schwierige Situation ist es, sich auf das Alltägliche zu konzentrieren.“
Natalia Otrishchenko zeichnet Geschichten von Überlebenden und Geflüchteten auf. Sie nutzt Methoden der Oral History, um festzuhalten, was diese gesehen und getan haben. „Es geht uns nicht darum, zu sehr in ihre Gefühlswelt einzutauchen“, betont sie. „Denn wir wollen niemanden retraumatisieren. Es geht uns eher um Empowerment dadurch, dass sie ihre Geschichte erzählen können, wie sie es wollen. Trotzdem müssen wir da sehr vorsichtig sein, denn wir sind alle in einem emotional sehr schwierigen Zustand.“

„Klar sind wir voreingenommen“

Es lässt sich nicht vermeiden in dieser Situation: Die Wissenschaftlerinnen sind ihrem Forschungsgegenstand sehr nahe und damit auch voreingenommen, sagt ihr Kollege Oleksandr Makhanets. „Ich habe gelernt, dass ich als Wissenschaftler versuchen muss, neutral zu sein, und dann bist du als Historiker auf einmal mittendrin in der Geschichte. Klar sind wir voreingenommen“, sagt er. „Aber es ist wichtig, dass wir uns darüber bewusst sind und das auch thematisieren. Außerdem seien sie auch abhängig von den Umständen: „Auf welche Materialien und Informationen haben wir überhaupt Zugriff? Ich glaube, im Prinzip unterscheidet sich das nicht allzu sehr von der normalen Quellenarbeit. Auch da haben wir nur Zugang zu bestimmten Quellen.“
Oleksandr Makhanets steht im Kontakt  mit Fotografinnen und Fotografen, die den Alltag im Krieg dokumentieren. Einige befinden oder befanden sich in den russisch besetzten Gebieten oder belagerten Städten. Wann und wie das Material nach Lwiw gelangt, ist nicht immer planbar. Außerdem ist das Fotografieren durch das Kriegsrecht streng reglementiert.
Eine Perspektive aufbauen für die Zeit nach dem Krieg – das hatte ungewollt bereits vor einigen Jahren begonnen, erklärt er. Auch wenn das Projekt derzeit ruht. „Wir arbeiten seit zwei Jahren mit Sammlungen zum Beispiel aus Mariupol zusammen, um deren Bestand an sowjetischen Heimvideos und Arbeiterfotografie zu digitalisieren. Nun ist die Stadt ja schon mehr als einen Monat abgeschnitten und belagert. Wir wissen nicht mal, ob unsere Kolleginnen und Kollegen noch leben.“

Arbeiten unter Zeitdruck

So viel Unwiederbringliches geht im Krieg verloren: Menschenleben, aber auch kulturelles Erbe. Es stellt sich die Frage nach sicherer Aufbewahrung – für alte und neue Quellen. Auch für flüchtiges wie etwa Telegram-Chats.
Taras Nazaruk sammelt Gruppengespräche in der Messenger-App. Denn auf Telegram gebe es viele Informationen. „Offizielle natürlich, aber auch viel horizontale Kommunikation und Koordinierung. Etwa zwischen solchen, die humanitäre Hilfe leisten, die ihre Freunde oder Verwandten suchen oder sich ganz lokal gegenseitig informieren. Diese Plattform wurde als effizienteres Informationsmedium angesehen als etwa das Fernsehen. Denn nach Verhängung des Kriegsrechts wurde dort der Informationsfluss kontrolliert. Jetzt ist Telegram ein sehr großer Teil der Medienlandschaft hier. Aber die Kanäle und Chats sind flüchtig. Einige wurden bereits gelöscht und möglicherweise existieren sie nur noch in unserem Archiv.“
In Lwiw arbeiten die Historikerinnen und Historiker unter großem Zeitdruck. Unterstützt werden Sie dabei unter anderem von Kolleginnen und Kollegen aus Polen, Luxemburg, der Bundesrepublik und Spanien.
Die Digitalisierung stellt die Geschichtswissenschaft allgemein vor große Herausforderungen. Viele Fragen sind noch ungeklärt – was ist etwa mit Persönlichkeitsrechten in Telegram-Chats oder mit dem Urheberrecht? Wie umgehen mit und auswählen aus den riesigen Datenmengen? Und: Wie kann sichergestellt werden, dass zukünftige Wissenschaftlerinnen die hier generierten Quellen auch benutzen können?
Auch wegen dieser offenen Fragen und weil viel Propaganda im Umlauf ist, wollen die Historikerinnen vorerst nichts veröffentlichen. Es sei eben keine Informationskampagne. „Wenn man ein Archiv aufbaut, dann denkt man immer an die Zukunft“, betont Natalia Otrishchenko. „Es geht immer darum, eine Perspektive aufzubauen für zukünftige Forscherinnen und Forscher, aber auch für eine größere Öffentlichkeit.“

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