Traumatisierungsdebatte

Wir müssen weg von der "Opfer-Olympiade"

Ein junger Mann vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Im sichtbaren Auge sind die Farben der ukrainischen Flagge erkennbar.
Historiker Jan Plamper fordert eine Kultur, die zwischen Opfern und Tätern unterscheidet © Getty Images / EyeEm / Tetiana Strilchuk
Ein Standpunkt von Jan Plamper |
Viele Deutsche fühlen sich durch den Krieg in der Ukraine traumatisiert, selbst solche, die persönlich nie einen Krieg erlebt haben. Geht's noch?, fragt Historiker Jan Plamper. Das sei Schuldumkehr und eine Verwischung der Täter-Opfer-Grenzen. 
Zuerst der Soziologe Harald Welzer, der dem ukrainischen Botschafter im vergangenen Jahr am 8. Mai in Anne Wills Talkshow erklärte, er möge bitte etwas mehr Verständnis aufbringen für die Deutschen und ihre „Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen durchgezogen hat“.
Oder kürzlich ein 96-jähriger ehemaliger Wehrmachtssoldat, der sich im Radio gegen Waffenlieferungen aussprach, weil er das, was er im Zweiten Weltkrieg erlebt hat, als so „entsetzlich“ empfand.

Wer ist traumatisiert?

Bei vielen Menschen hierzulande berührt Russlands Krieg gegen die Ukraine etwas Tiefes. Er „triggert“, heißt es. Er löst ihr „intergenerationelles“ oder „vererbtes Trauma“ aus, heißt es. Wohlgemerkt: nicht Menschen ukrainischer oder syrischer Herkunft, die dem Bombenhagel von Charkiw oder Aleppo entflohen sind, sondern Menschen, die schon länger hier sind.
Geht’s noch? Wer leidet hier, eine Geflüchtete aus Cherson, der noch die Sirenen des letzten Bombenalarms in den Ohren hallen, oder ein Deutscher, der vor acht Jahrzehnten als Nazi in der Ukraine gegen die Sowjetunion kämpfte, beziehungsweise sein Sohn oder Enkel, die nie Krieg gesehen haben?
Wer hat den Zweiten Weltkrieg begonnen? Schuldumkehr, die Verwischung von Täter-Opfer Grenzen – das charakterisiert die gegenwärtige Diskussion.

Emotional blockierte Kriegsenkel

So etwas entsteht nicht von einem Tag auf den anderen, hier muss eine größere kulturelle Verschiebung stattgefunden haben. In der Tat. Und zwar hat sie etwas zu tun mit Bestsellern wie „Die vergessene Generation“ und „Kriegsenkel“ von Sabine Bode. Bode und andere behaupten: Auch nichtverfolgte Deutsche wurden durch den Zweiten Weltkrieg traumatisiert, etwa bei der Bombardierung Dresdens oder der Vertreibung aus Ostpreußen.
Diese Gewalterfahrungen hätten sie nach dem Krieg nicht betrauern dürfen, weil die Deutschen vorrangig als Täter gesehen wurden. Ihren Kindern und Kindeskindern hätten sie die Traumata vererbt, unbewusst und über Generationen hinweg.
Deshalb seien diese heute „emotional blockiert, sie stehen privat oder beruflich auf der Bremse“, so die Autorin Sabine Bode in "Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation". Was tun? Therapie, vor allem Familienaufstellungen. Und sich organisieren, zum Beispiel in sogenannten Kriegsenkelstammtischen, die fast jeden Abend irgendwo in Deutschland stattfinden.

Keine Therapie auf Kosten der Naziopfer

Zugrunde liegt ein ganz spezielles Verständnis von Trauma – Trauma als etwas rein Körperliches. Geprägt hat es der Psychiater Bessel van der Kolk mit seinem Weltbestseller „Das Trauma in Dir“.
In letzter Zeit wird zur Untermauerung dieser Position auch immer öfter die Epigenetik herangezogen, eine noch junge, umstrittene Wissenschaft, laut der Verhalten vererbt werden kann.
Verstehen sie mich bitte nicht falsch, es ist kompliziert: von trans- oder intergenerationellem Trauma wird auch bei Holocaustüberlebenden der zweiten und dritten Generation gesprochen – und ja, es stimmt, dass auch nichtjüdische, nicht von den Nazis verfolgte Deutsche gelitten haben. Und grundsätzlich sind Traumaaufarbeitung und Therapie natürlich zu begrüßen. Nur: bitte nicht auf Kosten der Naziopfer, zum Beispiel der ukrainischen Shoah-Überlebenden.

Entscheidend ist, wie man in der Welt handelt

Lassen Sie uns hinkommen zu einer Kultur, die zwischen Opfern und Tätern unterscheidet. Die keine Opferolympiade veranstaltet. Und die mutiges Handeln wertschätzt, wie das der Ukraine beim Zurückschlagen des Aggressors Russland auf dem Schlachtfeld.
Um es mit der Philosophin Susan Neiman zu sagen, entscheidend sollte sein, „wie man in der Welt handelt, nicht wie man von der Welt behandelt wird. Das würde die Opfer nicht wieder dem Müllhaufen der Geschichte überantworten, aber es würde den Helden wieder in den Mittelpunkt stellen“.

Jan Plamper ist Professor für Geschichte an der University of Limerick. Seine letzte Buchveröffentlichung ist "Das Neue Wir. Warum Migration dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen" (S. Fischer, 2019).

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