Transgenerationale Traumatisierung

Aus Wunden werden Narben

30:59 Minuten
Dirk Prömpers Konterfei als Selbstporträt wird überlagert von Gestrüpp durch eine Mehrfachbelichtung.
Wenn sich zwei Welten überlagern: Mit seiner Kunst versucht Dirk Prömper zu beschreiben, wofür er keine Worte hat. © Dirk Prömper
Von Henrike Möller · 03.05.2022
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Traumatisierte Menschen können ihre Probleme an Nachkommen weitergeben - obwohl oder gerade weil sie über Erlebtes schweigen. Symptome sind erhöhte Stressanfälligkeit, Angststörungen bin hin zu Depressionen. Die Vorgeschichte ist wichtig für die Behandlung.
Es ist ein sonniger Tag im März 2022. Johanna P. steht am Ufer und schaut auf das ruhig fließende Gewässer. Hinter ihr ragen Weinberge in den strahlendblauen Himmel. Eine kleine Gemeinde im Süden Deutschlands. Seit vier Jahren wohnt Johanna P. hier. Aufgewachsen ist sie aber in einem anderen Bundesland.
„Als wir mal im Rahmen der Therapie den Ort meiner Kindheit besucht haben, da gibt es so eine Brücke in dem Ort. Und ich konnte einfach nicht über diese Brücke gehen. Also wir waren da bestimmt zwei einhalb Stunden, bis ich so re-orientiert war und wieder laufen konnte, um über diese Brücke zu gehen.“
Nach außen hin verläuft Johanna P.s Leben ziemlich normal. Nach der Schule macht sie eine Ausbildung, heiratet, bekommt zwei Kinder. Beruflich arbeitet sie sich immer weiter hoch, wird Führungskraft.

Seltsame Flashbacks, beängstigende Bilder

Wenn da nicht hin und wieder diese seltsamen Flashbacks wären, beängstigende Bilder… Oder diese Aussetzer. Immer wieder findet sich Johanna P. an Orten wieder und weiß nicht, wie sie dorthin gekommen ist.
Jahrelang überspielt sie ihre Symptome, schiebt alles weit von sich. Bis der Tag kommt, an dem es nicht mehr geht.
Johanna P. realisiert, dass sie Hilfe braucht. Sie beginnt eine Therapie. Harald Schickedanz, ihr Therapeut und Leiter der psychotherapeutischen Klinik Hüttenbühl in Bad Dürrheim, vermutet ein Trauma; und zwar ein sehr spezielles: eine transgenerationale Traumatisierung.
„Bei transgenerationaler Traumatisierung geht es darum, dass die vor uns traumatisiert sind und ihre unverarbeiteten Belastungserfahrungen weitergeben und die dann in der nächsten Generation zu bewältigen sind. Das ist das, was wir verstehen müssen. Wir bekommen ab, was die anderen nicht verarbeitet haben!“
Das ist Michaela Huber, Psychologische Psychotherapeutin und Trauma-Expertin.
Ein transgenerationales Trauma ist folglich ein Trauma, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, von den Eltern zu den Kindern zu den Kindeskindern. Es wird quasi vererbt. Wobei auch der Begriff nicht ganz stimmt. Denn Vererbung impliziert, dass das Ursprungstrauma und das der nachfolgenden Generationen dasselbe ist, dass es sich genau gleich anfühlt.

Fehlende Resonanz auf die Umwelt

Es ist aber ein bisschen komplizierter, sagt Harald Schickedanz, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation und Therapeut von Johanna P.
„Wenn Eltern selbst traumatisiert sind, haben sie ein anderes oder ein möglicherweise anderes – ich nenn’s mal – Brutpflegeverhalten, als dass es gut wäre für die Nachkommen", sagt er.
"Es gibt einen Menschen in Houston, der heißt Tronick, der hat über viele Jahre dieses Still-Face-Experiment gemacht. Also Still-Face heißt: Die Mutter – oder es kann auch der Vater sein – hat ein normales Bindungsverhalten, und plötzlich ist sie oder er angeleitet, ein Still-Face zu machen, also sozusagen die Gesichtsmimik einzufrieren. Und da sind gesunde Säuglinge und Kleinkinder innerhalb kürzester Zeit enorm irritiert und werden auffällig, protestieren, sorgen dafür, dass Mutter oder Vater sozusagen wieder in Kontakt treten.“
Dieser Still-Face-Zustand begegnet einem auch bei traumatisierten Menschen. Sie zeigen keine Regung, reagieren kaum auf ihre Umwelt.
„Und einer dieser Mechanismen von transgenerationaler Weitergabe von traumatischen Erfahrungen ist eben diese fehlende Resonanz, weil der traumatisierte Mensch so sehr mit sich beschäftigt ist, dass er gar nicht zu gesunden Interaktionen in der Lage ist oder immer wieder ausfällt.“
In der Folge können Kinder psychische Störungen entwickeln, die ihren Ursprung in den Traumata der Eltern haben.

Emotional abwesende Eltern

„Boah, ich kann das ganz schwer nur beschreiben… Kann man sagen ‚Nicht-Beziehung‘?“ Johanna P.s Eltern sind für sie als Kind emotional abwesend. Sie und ihre vier Geschwister sind sich oft selbst überlassen. „Es war ein Haus mit echter Kälte. Nichts Liebesvolles so.“
Immer wieder wird der Vater gewalttätig. Er schlägt seine Kinder, demütigt die Mutter, die dann wiederum von ihren Kindern Trost einfordert. Fröhlich und zufrieden, erlebt Johanna P. ihre Mutter selten. „Sie waren beide kein Hort der Sicherheit. Ich hab sie wahrgenommen als verstörte, auch nicht auf der Welt gut angekommene Menschen.“
Wenn die Familie zusammenkommt, geht es um Intellektuelles, um Bücher, Autoren. Sonntags am Frühstückstisch dreht der Vater das Klassik-Radio auf und fragt bei Johanna P. und ihren Geschwistern die Komponisten ab.
„Diese Abtrennung des Emotionalen vom Rest der Persönlichkeit, was eben durch die Türritzen schon gekommen ist. Also was hat mein Vater immer gesagt: Wenn die Gefühle kommen, dann kriegen die gleich einen auf die Mütze. Also das durfte nicht sein.“
Durch die Türritzen schimmert damals aber noch mehr. Ein Satz, den Johanna P. als Kind nicht richtig greifen kann: „Der Vater hat ein ganz schlimmes Leben gehabt“. Also die Mutter erzählte immer „Der Vater hatte ein ganz schreckliches Leben…“ Mehr sagt die Mutter nicht. Was genau der Vater Schlimmes erlebt hat, bleibt unausgesprochen.

Auch Familiengeheimnisse übertragen sich

Genau diese Auslassungen sind ein anderer Weitergabe-Mechanismus transgenerationaler Traumata, sagt die Trauma-Expertin Michaela Huber.
„An welchen Stellen geschwiegen wird und dann der Fantasie überlassen wird, was da wohl dahintersteckt… Familiengeheimnisse… Das sind Transportwege, die sozusagen eine innere Suche nach dem, was da ist und war, auslösen können und man kann da Dinge spüren, ahnen, die die Eltern vielleicht gar nicht gesagt haben, aber es transportiert sich sozial und über Erzählungen, atmosphärisch…“
Traumatische Erfahrungen zeigen sich auch in Körperhaltung, Mimik oder an bestimmten Verhaltensarten: Der traumatisierte Elternteil zuckt bei gewissen Reizwörtern zusammen oder erstarrt, sobald das Gespräch auf ein bestimmtes Thema gelenkt wird.
Traumata können also auch dann weitergegeben werden, wenn die traumatisierten Personen gar nicht über sie sprechen. Die Trauma-Forscherin Heide Glaesmer von der Universität Leipzig spricht in diesem Zusammenhang von „konspirativem Schweigen“: Die Eltern verdrängen das Erlebte. Die Kinder spüren zwar, dass Wichtiges unausgesprochen bleibt, doch auch sie schweigen, um die Eltern nicht zu belasten.

Schweigen über die Kriegserfahrungen des Vaters

Was genau ihrem Vater Traumatisches zugestoßen ist, erfährt Johanna P. nur tröpfchenweise. Bis heute ist ihr Bild nicht vollständig.
„Das, was er erzählt, beginnt eigentlich mit dem Krieg. Wo der Vater sehr schnell eingezogen worden ist und wo er dann auch Sanitätsdienst machen musste und ziemlich existenziell bedrohliche Situationen als Jugendlicher erlebt hat.“
P.s Vater muss verwundete Menschen versorgen, sie manchmal auch aus den Trümmern bergen. Die Stadt, in der er damals mit seiner Mutter wohnt, wird mit jedem Jahr mehr zum Kriegsschauplatz. Trotzdem will seine Mutter die Stadt nicht verlassen. Nicht ohne ihren Mann.
„Er wurde immer losgeschickt durch die ganze Stadt, zu schauen, ob der Vater irgendwie kommt… an den Bahnhof geschickt und so. Und das sind so die Traumatisierungen, dass er dann so um die stark umkämpfte Stadt, die dann ja auch belagert war schon von den Russen, da sich irgendwie durchschlagen musste. Und dann gibt es so eine Szene, dass er den Vater tatsächlich gefunden hat, aber der Vater ihn nicht wiedererkannt hat.“
1945 verlässt die Familie mit einem der letzten Güterzüge die brennende Stadt und muss weit entfernt ganz neu anfangen.
„Und dort sind sie dann als Flüchtlinge aufgenommen worden in so einem kleinen Ort und hatten nur noch einen Leiterwagen mit den nötigsten Sachen. Und er hat tatsächlich sehr an seinem Vater gehangen, aber der war auch nicht mehr der, der er vorher war und hat dann gesagt zu ihm: ‚Jetzt haben wir keine Heimat mehr‘. Und waren dort in der Gemeinde auch erst mal sehr abgelehnt und missachtet.“
In der Schule lernt der Vater schließlich ihre Mutter kennen. Was sie verbindet? Auch sie hat Traumatisches erlebt.
Als P.s Mutter noch ein Kleinkind ist, nimmt sich deren Vater das Leben. Ab da ist nichts mehr wie vorher.
„Und die Frau, was meine Oma ist, war dann sehr geächtet im Ort und auch sehr verbittert und auch null emotionale Bindung zu ihrer Tochter, eine harte, kalte Mutter. Sodass meine Mutter – das ist aber eher eine Vermutung – auch eigentlich immer so in einer Schuldfalle saß, was ihr Anteil war, dass der Vater nicht mehr da ist. Und das hat sie leider auch nie bearbeitet…“

Folgestörungen durch unbehandelte Traumata

Unbehandelte Traumata können zu Traumafolgestörungen führen. Darunter fallen die verschiedensten Krankheitsbilder – von Angststörungen über Depressionen bis hin zu etwas, das sich „strukturelle Dissoziation“ nennt. „Strukturelle Dissoziation“ ist die maximale Traumafolgestörung, sagt der Trauma-Spezialist Harald Schickedanz.
„Wir nennen das strukturelle Dissoziation, weil traumatisches Material eben abgespalten wird und führt dann zu struktureller Dissoziation, also zu der Teilung der Persönlichkeit in verschiedene Anteile.“
Strukturelle Dissoziation ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Phänomen. Wir können uns der Sache nur annähern. Vereinfacht gesagt, lässt sich Folgendes festhalten: Wenn der Mensch Traumatisches erlebt, kann das Gehirn das Erlebte nicht adäquat verarbeiten. In der Folge werden die traumatischen Erlebnisse vom Rest des Ichs abgetrennt – vor allem, wenn das Trauma als Kind passiert. Gelingt es später nicht, diese abgespaltenen Anteile wieder zurückzuholen, kann in der Folge kein ganzheitliches Ich entstehen. Der traumatisierte Mensch existiert dann in verschiedenen Seins-Zuständen, manche davon trauma-nah.
„Also, dass sie mal praktisch in der traumatischen Situation sind – zeitlich, örtlich zur Person vielleicht so gar nicht orientiert in irgendeinem traumatisierten Teil von sich feststecken, nicht wissen, wo sie sind, vielleicht einfach weglaufen und sich irgendwo wiederfinden und plötzlich merken, wie bin ich denn hierhergekommen. Das wäre so eine typische Traumafolgestörung.“

Recherchearbeit in der Behandlung

Johanna P. kennt dieses Phänomen nur zu gut – von sich selbst und von ihrem Vater. Sie sitzt am Küchentisch ihres Hauses, vor sich eine kleine Holzkiste, „die ich jetzt am Ende des Therapieprozesses bestückt habe sozusagen, weil da wohnt meine Familie drinnen. Und ganz intuitiv hab ich die einzelnen Figuren aus Ton geformt.“
Sie greift nach einer quader-förmigen Figur. Grau mit einem roten aussehenden Riss in der Mitte, dazu dämonische Augen und fletschende Zähne.
„So hab ich ihn als Kind auch wahrgenommen. Irgendwie war es der Vati, die Lichtgestalt und auf der anderen Seite war es der Mephisto, der Teufel, der dann auch ganz anders aussah, einen ganz anderen Blick hatte.“
Transgenerationale Traumata aufzuarbeiten, ist nicht nur therapeutische Arbeit, es ist auch Recherchearbeit, detektivische Arbeit, sagt die Psychotherapeutin Michaela Huber. Es geht da um den Vorfahren oder die Vorfahrin mit dem Ursprungstrauma.
„Ich rege die Menschen immer an, dass sie ihre Verwandten befragen, Familienmitglieder befragen. Manche gehen richtig ins Kirchenarchiv, machen einen ganzen Stammbaum und sehen dann, wo ihre Familie überall hergekommen ist und was die wohl erlebt haben oder was passiert sein könnte, was da an Familiengeheimnis existiert“, sagt Michaela Huber.

Irrationale Ängste

Maria Winter – der Name ist geändert – hat genau das gemacht. Monatelang sucht sie immer wieder das Gespräch mit ihrer Mutter, lässt sich Fotos zeigen und alte Tonaufnahmen ihrer Kindheit. Denn eigene Erinnerungen an damals hat Maria Winter kaum. „Danach sind die Groschen gefallen, und es hat gepasst in irgendeiner Form“, sagt sie.
Als junge Erwachsene bildet Maria Winter immer stärkere Ängste aus. Sie hat Angst vor Aufzügen, vor geschlossenen Räumen, im Kino kann sie nur auf dem Platz direkt neben dem Ausgang sitzen, um im Notfall rechtzeitig rausrennen zu können.
„Ich hab dann später auch beim Autofahren totale Ängste entwickelt, völlig irrational. Als ich dann selber den Führerschein hatte, hab ich dann zum Beispiel Angst gehabt, dass das Auto explodiert oder dass ich an den Baum fahre.“
Maria Winter kann sich diese Angst nicht erklären. Sie hatte nie einen Autounfall. Oder kann sie sich bloß nicht erinnern?
Maria Winter sucht eine Therapeutin auf. Doch statt auf verdrängte eigene Erlebnisse, stößt die auf einen anderen Erklärungsansatz für Maria Winters Ängste: ein transgenerationales Trauma.
„In der Regel ist es ja dann schon auch so, dass man irgendeine Art von Gefühl hat, das in die Richtung weist, wenn es auch nur eine Körpererinnerung ist.“

Angst des Vaters vor der russischen Armee

Maria Winter spürt, dass es etwas mit ihrem Vater zu tun haben muss. Er ist ein schwieriger Mensch – das war ihr immer bewusst. Als sie sieben war, haben sich ihre Eltern getrennt. Womöglich steckt mehr dahinter.
„Als ich dann eben mitgekriegt hab, dass mein Vater da regelmäßig damit gedroht hat, auf dem Weg zur Arbeit mit dem Auto an den Baum zu fahren und sich dadurch quasi umzubringen, hat das irgendwie gepasst. Und ich nehme an, wir haben das als Kinder auch in irgendeiner Form mitgekriegt.“
Von ihrer Mutter erfährt sie nicht nur von den suizidalen Krisen ihres Vaters, sie erfährt auch von seiner größten Angst. Eine Angst, die ihn irgendwann komplett beherrschte. Die Angst vor einem Einmarsch der russischen Armee.
„Er hat in seinem Zimmer eine Waffe gehabt. Und meine Mutter hat erzählt, dass er eben auch ab und zu die rausgeholt hat und wohl auch mal übungsweise aus dem Fenster geschossen hat. Falls er es nicht rechtzeitig schafft wegzukommen, würde er sich verteidigen“, sagt Maria Winter. „Eskaliert ist das dann alles damals – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war, aber es war Bundestagswahl und dann ist die SPD an die Regierung gekommen und er hat dann SPD verbunden mit Russen. Also die Russen kommen.“

Was man nicht bewältigt, wiederholt sich

„Die Wiederholung ist die häufigste Form. Und die Reinszenierung“, erklärt die Trauma-Expertin Michaela Huber. „Das heißt, was man selbst nicht bewältigt hat, das wiederholt man mit den eigenen Kindern. Das kennt man ja auch an Gewalterfahrungen. Wenn man selber geprügelt wurde, fällt es einem leichter die Kinder zu prügeln, als wenn man nicht geschlagen wurde.“
Reinszenierungen müssen aber keine exakten Nachbildungen des Ursprungstraumas sein. Oft geht es eher darum, ein bestimmtes Macht-Ohnmacht-Verhältnis zu reinszenieren, das die traumatisierte Person erlebt hat – in dem Fall Maria Winters Vater.
„Er hatte auch langfristig geplant, wenn es enger wird und wenn es in Deutschland nicht mehr sicher ist, dass er nach Kanada auswandert. Er hatte auch alle möglichen Dinge schon geplant, wie er in der Wildnis überleben kann. Er hatte dann tatsächlich auf dem Dachboden bei uns so eine Rudermaschine stehen gehabt und damit hat er trainiert, also er hat irgendwie so die Vorstellung gehabt, wenn wir dann in Kanada sind, dann müssten wir noch über so einen großen See rudern, um dort hinzukommen, wo wir wirklich sicher sind. Und da wollte er sich körperlich drauf vorbereiten.“

Haben Sie suizidale Gedanken, befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation oder trifft das auf einen Angehörigen oder Bekannten von Ihnen zu? Dann können sie auf die Hilfe der Telefonseelsorge zurückgreifen: Anonyme Beratung erhalten Sie rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich.

Auf einmal macht für Maria Winter alles Sinn. All ihre Ängste scheinen ihren Ursprung in der Traumatisierung ihres Vaters zu haben. Er muss während des Zweiten Weltkrieges Furchtbares erlebt oder getan haben, das er nie bewältigt hat.
„Das war dann wie so eine Erleichterung. Auch vielleicht: Das ist gar nicht meins, und ich kann‘s loslassen.“
Was aber, wenn es diese Auflösung nicht gibt?

Wenn sich Realitäten überlagern

Dirk Prömper steht in seiner Wohnung in Thüringen und blickt auf eine Reihe von Fotos, die er gegen ein großes Bücherregal gelehnt hat. In dem bunten, mit allerlei Krimskrams zugestellten Raum wirken sie wie Fremdkörper: mysteriös, kühl, irgendwie beunruhigend.
„Ich mache zuerst immer mein eigenes Konterfei und fotografiere dann relativ schnell und zeitnah ein anderes Objekt drüber. Und hier war‘s eben eine Mauer, wo das Gestrüpp drauf war. Die Technik nennt sich Mehrfachbelichtung und da werden mehrere Realitäten miteinander zu einem neuen Bild sozusagen verschmolzen.“
Mit den Fotos versucht er das zu beschreiben, für was er keine Worte hat. Denn genauso fühlt er sich: als überlagerten sich in ihm zwei Welten. Oder genauer: zwei Zeiten.
Seit seiner Kindheit quält ihn die immer gleiche Fantasie. Eine Art Tagtraum, der ihn befällt und den er nicht abwehren kann.
„Ich fühle mich grundsätzlich als Verfolgter, das heißt also als Jude. Man ist in diesem Moment, wo man das durchlebt, die Person, und man erlebt das alles, auch die ganzen Ängste etc. bis zur letzten Konsequenz, also bis hin zur Vernichtung in einem Vernichtungslager. Es ist wie jedes Mal sterben.“
Eine Reihe von Fotos lehnen an einem  Bücherregal gelehnt. In dem bunten, mit allerlei Krimskrams zugestellten Raum wirken sie wie Fremdkörper: mysteriös, kühl, irgendwie beunruhigend.
Spuren der Vergangenheit? Dirk Prömper leidet unter verzerrtem Zeit- und Realitätsbewusstsein, Verfolgungsbildern und Selbstfremdheit.© Dirk Prömper
Doch Dirk Prömpers „Holocaust-Abhängigkeit“, wie er sie nennt, geht noch weiter. Wann immer es ihm zeitlich möglich ist, beschäftigt er sich mit dem Thema, liest Bücher, Artikel.
„Was wirklich schlimm ist, ist eben, dass man sich auch mit einzelnen menschlichen Schicksalen identifizieren kann und so emphatisch auch reagieren kann. Immer wieder an diese Gedanken an den Holocaust gefesselt zu sein, das ist ja für mich wirklich die größte Zwanghaftigkeit, die ich mir vorstellen kann.“

Traumafolgen von Holocaust-Opfern

Über 40 Jahre trägt er die düsteren Bilder mit sich rum. Der Suizid eines guten Freundes im Jahr 2017 wird schließlich zum Weckruf für ihn, sich einer Therapeutin anzuvertrauen. Die hat eine Vermutung: Verzerrtes Zeit- und Realitätsbewusstsein, Verfolgungsbilder, Selbstfremdheit, stetige Beschäftigung mit der NS-Zeit – all das könnten Symptome einer ganz besonderen Form der transgenerationalen Traumatisierung sein, und zwar der von Holocaust-Opfern.
Doch wie kann das sein? Dirk Prömper ist kein Jude. Oder doch?
„Meine Mutter hat über das Thema nie gesprochen. Sie hat auch nie über die Herkunft gesprochen oder was das für ein Mensch war.“
Wer sein Vater ist, weiß er nicht. Seine Mutter hat es ihm nie verraten und fragen kann er sie nicht mehr, sie ist inzwischen verstorben.
„Zum späteren Zeitpunkt wurde das immer mehr, dass man schon sich vorstellen konnte, aus einer jüdischen Familie zu stammen. Ich hab mich immer relativ wohl gefühlt mit dem Gedanken, da kommst du her, so dass ich das nie als was Abwegiges empfunden habe.“
Auch seine Gefühlswelt als Kind macht für Dirk Prömper vor diesem Hintergrund auf einmal Sinn. Schon damals hatte er das Gefühl, dass ihn etwas von den anderen Kindern trennt.
„Als Kind hat man sich fremd gefühlt und hat sich, wie soll ich das sagen, wie in einer anderen Haut gefühlt und ausgestoßen gefühlt. Ich habe dann relativ schnell die Problematik bei mir gehabt, dass ich mich zurückgezogen habe, keinen Kontakt zu anderen Kindern hatte. Und als ich dann auf die Problematik Holocaust gestoßen bin, dann war das wie, als ob das genau gepasst hat.“

Verschiedene Erklärungsansätze

Sein transgenerationales Trauma könnte aber auch ganz anders gelagert sein. Seiner Therapeutin zufolge, gäbe es noch mindestens einen weiteren Erklärungsansatz: Was ist, wenn sein Vater gar kein Jude war, sondern Nazi? Auch das würde seine Traumfolgestörungen erklären, glaubt die Therapeutin.
„Es wäre schön, man könnte zu diesem Auslöser irgendwie zurückspringen, aber ob man den dann auflösen kann!? Vor allen Dingen, wenn es über so einen langen Zeitraum sich verfestigt hat. Je länger wir uns in der Therapie aufhalten, desto mehr glaube ich, dass wir vielleicht niemals zu dem Punkt kommen. Es ist auf jeden Fall nicht angenehm, wenn man denkt, man wird’s nicht los, aber man hofft immer weiter“, sagt Dirk Prömper. „Das ist mit Sicherheit auch so eine Art Scham. Schambehaftet. Dass man sich nicht jedem öffnet und auch nicht verletzbarer wird, als man schon ist.“
Dirk Prömpers Familie weiß nichts von seinem transgenerationalen Trauma. Zu groß ist die Angst, sie könnten ihn für verrückt halten. Gleichzeitig ist ihm nur allzu bewusst, was er mit seinem Schweigen riskiert: eine Übertragung seiner Traumatisierung auf seinen Sohn.
Genau das will Johanna P. unbedingt vermeiden.
„Das ist auch die größte Motivation in der Therapie gewesen, für die Kinder das zu verarbeiten, sich selbst so regulieren zu können, dass ich das eben nicht unbewusst weitergebe.“

Weitergabe vermeiden durch Therapie

Für manches ist es jedoch zu spät. Die Bindungsstörung, die Johanna P. selbst mit ihren Eltern erlebt hat – sie wiederholt sich nun zwischen ihr und ihrem 15-jährigen Sohn.
„Der war mir von Anfang an einfach fremd, seit er geboren ist. Und er erinnert mich auch in vielen Dingen tatsächlich an meinen Vater vom Typ. Das triggert mich glaube ich immer mal wieder. Inzwischen nicht mehr so, weil ich es jetzt weiß. Es ist einfach keine gute, gesunde Bindung entstanden.“
Johanna P.s 15-jähriger Sohn war bereits für längere Zeit in stationärer Behandlung. Diagnose: Depression.
„Er ist eigentlich der, da hab ich immer das Gefühl, er transportiert die ganze angestaute Wut von mir auch mit nach außen, in dem er alles zerkloppt. Früher hat er mich auch die Treppe runtergeschubst, da geht schon die Post ab, brüllt, Türen schlägt. Und er ist auf der anderen Seite ganz empfindlich, ganz leicht kränkbar. Auch so ein Zeichen dafür, dass er da viel mitgenommen hat an der Verletzung, die in mir ist.“
Johanna P.s Tochter zeigt diese Symptome nicht. Transgenerationale Traumata übertragen sich nicht zwangsläufig, sagt der Trauma-Spezialist Harald Schickedanz. Es braucht dafür gewisse Voraussetzungen. Eine enge zwischenmenschliche Beziehung in den frühen Kinderjahren reicht beispielsweise schon aus, um die Gefahr für Traumafolgestörungen zu verringern.
„Aber je weniger Kompensation da ist, je mehr sozusagen dieses giftige Familienklima zum Beispiel in Folge von traumatischen Erfahrungen der Elterngeneration einwirkt oder Platz hat, umso schädlicher kann es sein.“

Genetische Komponente

Hinzu kommt noch eine genetische Komponente. Denn nicht für jeden Menschen ist das Risiko gleich hoch. Manche sind aufgrund einer genetischen Disposition anfälliger für psychische Erkrankungen als andere – was wiederum an die Nachkommen vererbt werden kann.
Was momentan in der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, ist zudem die Frage, ob traumatische Erlebnisse in der Lage sind, unsere Gene zu verändern oder genauer: die Regulation unserer Gene. In Experimenten mit Ratten wurde das bereits nachgewiesen. Kurz nach der Geburt wurden die Rattenjungen von ihren Müttern getrennt. In der Folge bildeten sie eine massive Stressregulationsstörung aus.
„Die äußert sich darin, dass sie aggressiver sind, dass sie ängstlicher sind, Essstörungen entwickeln, dass sie Depressionen entwickeln, dass sie sich eben sehr auffällig verhalten, wie wir das von Menschen kennen, die Traumafolgestörungen haben“, sagt Harald Schickedanz. „Dann hat man gesehen: Diese Ratten, wenn die selbst Junge bekommen, haben die ein schlechtes Pflegeverhalten, die vernachlässigen ihre eigenen Nachkommen und auch diese Nachkommen hatten diese Stressregulationsstörung.“
Das wirklich Bahnbrechende an den Experimenten liegt in ihrem Ausgang. Denn die Stressregulationsstörung der Ratten konnte mithilfe von Medikamenten manipuliert und auch beseitigt werden.
Noch liegt eine medikamentöse Behandlung von Traumafolgestörungen beim Menschen allerdings in weiter Ferne.

"Interne Plausibilität" erreichen

Johanna P. hat den Kontakt zu ihren Eltern im letzten Sommer abgebrochen. Mehrfach hat sie versucht mit ihnen über die Vergangenheit zu reden – vergebens.
„Den Frieden kann ich nur in mir mit ihnen finden.“
Um ein transgenerationales Trauma zu überwinden, braucht es auch nicht unbedingt eine Aussprache mit vorherigen Generationen. Entscheidend für den Heilungsprozess ist etwas anderes, sagt Harald Schickedanz, er nennt es: interne Plausibilität.
„Es ist für uns Menschen schon sehr wichtig, dass wir Dingen eine Bedeutung zumessen. Das macht uns wahrscheinlich als Menschen im Wesentlichen aus. Und wenn wir jetzt plötzlich bestimmte Phänomene, mit denen wir zu tun hatten, ein bisschen besser verstehen können, macht das Plausibilität. Ob das jetzt faktisch real ist oder imaginär, ist letztlich egal. Plötzlich wird einem Menschen etwas, was er an sich selbst nie so wirklich verstehen konnte, unter der Erkenntnis dieser neuen Information plötzlich plausibel.“
Zu erkennen, wo die eigenen Symptome herkommen, ist erleichternd. Und es ermöglicht auch, sich von ihnen abzugrenzen.
In etwa so: „Ich hab mich eine ganz lange Zeit bemüht, den Vorfahren bei der Verarbeitung ihrer Lasten behilflich zu sein. Ich hab ein Stück Arbeit für die mitgemacht, bis zu dem Moment, wo es meine eigene Lebensqualität eingeschränkt hat, wo ich mich entscheiden musste, nee ihr lieben Leute, das ist euer Thema und ich will eure Last nicht ewig weitertragen. Ich gebe sie euch dankend auch wieder zurück. Weil das ist letztlich keine Lösung. Wir können letztlich nur für uns selber sorgen und man kann keine einzige traumatische Erfahrung rückgängig machen“, sagt Harald Schickedanz.

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