Putins Krieg in der Ukraine

Wie schmerzhaft sind die Sanktionen?

28:34 Minuten
Wladimir Putin bei einer Fernsehansprache
Wladimir Putin bei einer TV-Ansprache: "Er versteht nur die Gewalt", sagt der russische Ökonom Vladislav Inozemtsev über den Präsidenten. © picture alliance / Xinhua News Agency / Bai Xueqi
Von Frederik Rother, Eva Lamby-Schmitt, Srdjan Govedarica, Andre Zantow · 03.03.2022
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Tausende Menschenleben hat der Angriff des russischen Militärs in der Ukraine schon gekostet. Solange der Westen noch Gas und Öl kauft, treffen Putin die verhängten Sanktionen aber nicht. Denn er kann weiter auf Partner wie China zählen.
In Sankt Petersburg, Moskau, Ufa, Jekaterinburg, Irkutsk und vielen anderen Städten Russlands demonstrieren Tausende regelmäßig seit dem Einmarsch des russischen Militärs im Nachbarland Ukraine. Laut Menschenrechtsorganisationen gab es dabei bisher mehr als 7000 Festnahmen.
Auch Nikita, dessen Name aus Sicherheitsgründen verändert wurde, ist gegen den Krieg.
„Jeder Russe, jede Russin hat enge Freunde in der Ukraine, Verwandte oder Bekannte, die jetzt bombardiert werden, die sich in Kellern und Schutzbunkern verstecken“, erzählt er. „Wenn man die Videos und Bilder aus den angegriffenen ukrainischen Städten sieht, das ist quälend und absolut traumatisch.“
Nikita spricht von einem „Schock“, den der Krieg bei ihm und seinen Freunden in Russland ausgelöst habe. Jetzt seien sie nur noch damit beschäftigt, Bekannte in der Ukraine zu unterstützen, Protest zu organisieren und sich zu informieren.

Protest gegen den Krieg ist kein Massenphänomen

Viele Menschen sind mit dem Krieg des Kremls nicht einverstanden. Einige von ihnen sprechen sich tatsächlich öffentlich dagegen aus. Das ist riskant und dementsprechend selten.
Eine Petition gegen den Krieg haben mehr als eine Million Menschen unterschrieben. Es gibt offene Briefe von Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und anderen Berufsvertretern. Der Rapper Oxxxymiron spricht auf seinem Instagram-Kanal von „Verbrechen“, der Sänger Sergej Lazarew schreibt dort: „Niemand unterstützt diesen Krieg“. Beide erreichen Millionen Follower.
Aber der Protest gegen den Krieg ist kein Massenphänomen. In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Wtsiom heißt es, dass 68 Prozent der Russinnen und Russen die „Spezialoperation“ in der Ukraine – wie der Krieg offiziell genannt wird – unterstützen. 22 Prozent sind laut der Umfrage dagegen.
Ob die Zahlen stimmen, lässt sich schwer sagen, eine Euphorie wie nach der Krim-Annexion ist offenbar nicht zu spüren. Jedoch hält es der Politologe Dmitrij Oreschkin für möglich, dass eine Mehrheit der Bevölkerung hinter Putins Kurs steht.
Das sagte er im Radiosender Echo Moskvy, kurz bevor an diesem Donnerstag dessen Schließung bekannt gegeben wurde.

Erstens sind wir eine sehr militarisierte Bevölkerung, das ist unsere Last, die Quelle unseres Stolzes und das ist unser Problem, weil der Großteil der Männer in der Armee gedient hat, und sie dort ihre besten Jahre hatten.

Zweitens: Bis heute wird in der Öffentlichkeit der Niedergang der großen, mächtigen Sowjetunion krankhaft durchlebt. Die Leute kommen damit nicht klar, sie haben einen Komplex. Und das Fernsehen erklärt ihnen, dass wir ein Siegervolk sind, dass wir die Georgier bestraft haben, die Tschetschenen, und jetzt müssen wir die Ukrainer dafür bestrafen, dass sie selbstständig sein wollen, und sich wie der ältere Bruder verhalten.

Dmitrij Oreschkin

Medien dürfen nicht von "Krieg" schreiben

Auftrieb bekommt diese Sichtweise im Staatsfernsehen und den staatsnahen Medien, die für Millionen Russen die wichtigste Informationsquelle sind.
Kritische Töne gibt es dort nicht, stattdessen wird etwa davon berichtet, dass die Ukrainer selbst Raketen auf die Stadt Charkiw abfeuern würden und Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzten, um sich gegen die russische Armee zu verteidigen.
Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin sagte jüngst im staatlichen Kanal Rossija 24: „Wenn die Operation nicht begonnen hätte, hätte die NATO quasi am nächsten Tag eine Operation begonnen – mithilfe der ukrainischen Neonazis. Wir sind zuerst reingegangen, und das heißt, dass wir Hunderttausende Leben gerettet haben.“
Keine dieser und ähnlicher Aussagen ist belegt. Kritische Nachfragen gibt es immer weniger: Der Radiosender Echo Mosky soll jetzt geschlossen werden, der Fernsehsender TV Rain sendet nicht mehr, Mitarbeiter sind aus Russland geflüchtet. Medien, die Krieg statt „Spezialoperation“ schreiben, riskieren Webseiten-Blockaden und Löschungen.
Der Druck im Innern steigt, meint auch Nikita. Gleichzeitig werden die Verbindungen nach außen, in den Westen durch die Wirtschaftssanktionen immer weniger

Es fühlt sich so an, als hätten der Kreml und unsere Regierung einen Punkt erreicht, von dem man nicht mehr umkehren kann. Es fühlt sich so an, als würden sie einen Krieg gegen den Westen führen und dabei versuchen, das Land weiter zu isolieren und ein noch repressiveres Regime zu errichten oder es in irgendein neues Reich umzuwandeln.

Nikita

EU und USA müssten Öl- und Gaskäufe stoppen

Wie sich die Wirtschafts- und Finanzsanktionen auf die rund 140 Millionen Russen im Land auswirken, erklärt der russische Ökonom Vladislav Inozemtsev vom Center for Post-Industrial Studies in Moskau.
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob die meisten davon überhaupt gehört haben in Russland. Aber sie sind auf jeden Fall sehr deprimiert, weil viele jetzt erfolglos probiert haben, ihr Geld von ihrem Bankkonto abzuheben. Der Rubel hat stark an Wert verloren“, sagt er.
„Wer versucht, Dollar zu bekommen, muss auf dem Schwarzmarkt hohe Wechselkurse bezahlen. Dazu gibt es keine Flüge nach Europa oder in die USA. Überall in Russland sieht man die Zeichen dieser großen Störung des wirtschaftlichen Lebens.“
Für Machthaber Putin seien die Sanktionen dagegen nicht schmerzhaft.

Nein. Das sage ich seit vielen Jahren: Putin ist die wirtschaftliche Lage seines Landes einfach egal. Er glaubt, dass er ein Genie ist, was Geopolitik betrifft. Für ihn sind Militäroperationen seine Hauptbeschäftigung und die Frage, wie er die Welt spalten kann, in dem er seine Jalta-Konferenz organisiert oder was auch immer.

Er glaubt, dass die Wirtschaft automatisch läuft. Die einzige Aufgabe der Geschäftsleute sei es, Steuern zu bezahlen und für das Erblühen des Staates zu sorgen. Ihn kümmert das also alles nicht. Ich bin absolut sicher, dass er nicht weiß, wie viel die Menschen in seinem Land verdienen und was man dafür kaufen kann. Er hat absolut keine Verbindung zur ökonomischen Realität.

Vladislav Inozemtsev

Putin sei Sicherheit und Unabhängigkeit wichtig, so Inozemtsev. Deshalb habe er die Staatsschulden auf 18 Prozent reduziert und einen großen Berg im Wert von 630 Milliarden US-Dollar an Devisenreserven angehäuft. Ein Problem für die russische Wirtschaft gebe es erst, „wenn die EU und die USA aufhören russisches Öl und Gas zu kaufen. Das würde in Russland zu einem ökonomischen Desaster führen – in zwei bis drei Monaten.“
China würde in dem Fall zwar mehr Öl kaufen, aber da es nur eine Pipeline nach China gibt, könne man die Menge nicht so stark erhöhen, um den Verlust durch die Europäer und Amerikaner zu kompensieren. Trotzdem glaube er nicht an ein Ende des Krieges durch Sanktionen.
„Das einzige, was Putin wirklich hart trifft, ist eine totale Niederlage seiner Armee in der Ukraine. Wenn sie besiegt ist und aus der Ukraine geworfen wird, ist das ein großes Signal an ihn. Dieser Typ versteht nichts von wirtschaftlicher Logik. Er versteht nur die Gewalt. Und die militärischen Argumente. Das ist ein großes Problem. Aber so ist es“, sagt der Ökonom.

Chinas KP als "grenzenloser Partner" für Putin

Trotz des Krieges kann Russland weiterhin auf einige Partner zählen. Dazu gehört auch die chinesische Führung. Die Kommunistische Partei enthielt sich jeweils ihrer Stimme im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung und wollte den Krieg nicht verurteilen.
Sie verlangt auch von der Weltgemeinschaft, sich nicht in „eigene Angelegenheiten“ einzumischen. Dazu gehört für die KP der Umgang mit Tibet, Taiwan und mit den Uiguren in Xinjiang.
Chinas Parteichef Xi und Russland Machthaber Putin verkündeten jüngst zu den Olympischen Winterspielen in Peking eine „Grenzenlose Partnerschaft“. Sie haben gemeinsame Gegner: die USA und die NATO. Wirtschaftlich ist China abhängig von russischen Gas und Öl.
Für Russland ist jetzt durch den weitgehenden Wegfall der Europäischen Union als Absatzmarkt China der wichtigste Markt. China liefert unter anderem Elektronik und Maschinen nach Russland. Außerdem ist auch China bestrebt, unabhängiger vom internationalen Finanzsystem zu werden, auch um möglichen künftigen Sanktionen entgehen zu können.

Serbien ist von Russland abhängig

Auch in Europa gibt es Staaten wie Serbien, die sich nicht klar gegen den russischen Krieg stellen. Fragt man in Belgrad Leute auf der Straße, wird nicht Putin als Verantwortlicher ausgemacht, sondern zum Beispiel: „Die NATO und Russland sind gleichermaßen verantwortlich.“
Dabei sind die serbisch-ukrainischen Beziehungen traditionell gut. Doch Serbien ist noch stärker mit Russland verbunden: historisch, politisch, wirtschaftlich. So ist Serbien zum Beispiel fast vollständig von russischer Energie abhängig.
Zwar unterstützen sowohl die Ukraine als auch Russland Serbiens Position und erkennen die ehemalige serbische Provinz Kosovo nicht als eigenständigen Staat an. Doch Russland hat im Gegensatz zur Ukraine ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
So rational denken die meisten in Serbien aber nicht, sagt der serbische Ex-Diplomat Ivo Viskovic. Er erinnert daran, dass vor allem die NATO für viele im Land ein rotes Tuch sei. Nicht zuletzt, weil Serbien 1999 von der NATO bombardiert wurde. Unabhängig davon, welche Politik es verfolge, werde Russland als Gegner der NATO von vielen in Serbien unterstützt.

Ein bisschen als Scherz, aber auch durchaus ernst, nenne ich das eine Art ‚Patho-Russophilie‘. Oder anderes ausgedrückt eine Art krankhafte Liebe Russland gegenüber, die nicht auf fundierten Standpunkten basiert, sondern einzig als eine Art Widerstand gegen den Westen.

Ivo Viskovic

Serbiens Präsident Vucic braucht lange bis er am vergangenen Samstag offiziell etwas zum russischen Angriff auf die Ukraine sagt. Russlands Präsidenten Putin erwähnt er dabei überhaupt nicht, auch für eine unmissverständliche Verurteilung Russlands reicht es nicht.
Vucic formuliert „volle Unterstützung für die territoriale Integrität der Ukraine“, an Sanktionen gegen Russland werde sich Serbien aber nicht beteiligen. Weil im Text der UNO-Resolution gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine Sanktionen nicht erwähnt werden, stimmt Serbien am Mittwoch schließlich dafür. Denjenigen, die sich in Serbien für eine härtere Gangart gegenüber Russland einsetzen, gibt Vucic mit:
„Ich bin nur noch wenige Tage Präsident, in einem Monat sind Wahlen. Dann stimmt doch für diejenigen, die sofort Sanktionen gegen Russland einführen möchten. Ich spreche jetzt gar nicht über Moral, Freundschaft, Traditionen. Nur frage ich Sie, wie wollen sie dem Volk dann erklären, dass Russland dann drei Tage später sagt – wir unterstützen die territoriale Integrität Serbiens im UNO-Sicherheitsrat nicht?“
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