Russland-Ukraine-Krise

In Kiew wächst die Anspannung

24:30 Minuten
Eine junge Frau, mit heller Mütze und einer dunklen Jacke, steht vor einem alten Backsteingebäude. In ihren Händen hält sie eine Waffenattrappe und schaut den Betrachter direkt an.
In diesen Tagen werden Zivilisten jeden Alters in einer alten Industrieanlage außerhalb von Kiew militärisch ausgebildet. © picture alliance / Anadolu Agency / Ali Atmaca
Von Inga Lizengevic · 23.02.2022
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Nachdem Russlands Präsident Putin in die beiden Separatistengebiete im Osten der Ukraine Truppen beordert hat, bereiten sich die Menschen in der Hauptstadt Kiew auf das Schlimmste vor. Wo sollen die Kinder hin, wo sind die Bunker und wer kämpft?
„Der Bunker gehört zwar zu diesem Haus, aber jeder, der Schutz braucht, wird sich hier verstecken können“, versichert mir der Vertreter der Verwaltung eines vierstöckigen Wohnhauses in Kiew. Wir gehen zusammen mit einigen Nachbarn in den Bunker.

Am Ende dieser Folge des Weltzeit-Podcasts erklärt der russische Politik-Analyst Anton Barbashin, wohin die russischen Truppen vermutlich noch ziehen werden. Er ist Chefredakteur der Internetseite Riddle, die regelmäßig politischen Analysen über Russland publiziert.

Hier unten blättert die Wandfarbe ab. Die Toiletten und Waschbecken, die hier mal waren, wurden irgendwann in den vergangenen 60 Jahren rausgerissen. Aber das Licht funktioniert. Die Tür ist normalerweise verschlossen, kaum ein Hausbewohner hat den Schlüssel. Wer soll den Bunker im Ernstfall aufschließen, z.B. bei einem Bombenangriff?
Ein Hausbewohner habe den Schlüssel, meint der Verwaltungsvertreter. Die Hausgemeinschaft wähle jemanden aus und wenn der wegfahre, werde er den Schlüssel wahrscheinlich an jemanden anderen geben.
Für wie viele Personen ist der Bunker gedacht, will Nachbarin Olga Kasian wissen, die auch dabei ist.
„Für 90 Personen", erklärt ihr der Verwalter. Die Nachbarin schlussfolgert: Er reiche also nicht für alle 200 Hausbewohner.
Olga Kasian wohnt in der Nachbarschaft. Sie hat diese Besichtigung organisiert. Über einen Nachbarschaftschat hat sich eine der Initiativgruppen gebildet, die jetzt die Hausverwaltungen im Kiez nerven und sich die Keller vorführen lassen, die als Schutzbunker ausgewiesen sind.

Wo kann man sich verstecken?

Olga möchte verstehen, wo sie sich mit ihrem Kleinkind im Fall eines russischen Angriffs verstecken soll. Diese Frage stellen sich hier in Kiew in den letzten Wochen immer mehr Menschen. Obwohl der Krieg im Osten der Ukraine bereits seit acht Jahren andauert, hat man ihn hier bisher kaum gespürt. Doch jetzt ist es anders, der Krieg wird immer greifbarer, erzählt Olga.
„Ich telefoniere mit anderen Müttern. Wir besprechen, was wir im Ernstfall tun sollen. Okay, alle Kinder werden ins Auto gestopft und weggebracht. Aber es ist nur lustig, so lange der Himmel über uns friedlich bleibt, denn tatsächlich wissen wir nicht, was zu tun ist. Ich spaziere täglich mit dem Kinderwagen durch den Kiez und frage mich, was soll ich machen, falls es wirklich losgeht?“
Der Vertreter der Hausverwaltung bestätigt das steigende Interesse der Bürger an den Bunkern.
„Ich kann Ihnen nicht sagen wie viele, aber täglich rufen uns Menschen aus den Häusern an und fragen nach. Wir verabreden uns, und schauen die Keller an.“

Unmut über die Kriegsvorbereitung

Auch Oleksandra Zavalna hat sich bei ihrer Hausverwaltung erkundigt.
„Zuerst konnte mir die Hausverwaltung gar nicht sagen, wo der Schlüssel zum Keller meines Wohnhauses ist. Der Verantwortliche war angeblich krankgeschrieben. Ich habe aber nicht locker gelassen. Ich habe gefragt, wie das gehen soll. Soll sich bei einem Alarm wirklich ein Mensch der Gefahr aussetzen, und zu unserem Haus rennen, um den Keller aufzuschließen?“
Oleksandra kennt die Gefahr aus eigener Anschauung. Sie war schon im ukrainisch-russischen Krieg, erzählt sie. Die Paramedizinerin hat fünf Jahre an der Front in der Ostukraine verbracht. Mit der Vorbereitung der Zivilbevölkerung hier in Kiew auf einen russischen Angriff ist sie nicht zufrieden.
„Die Behörden bereiten sich und auch die Bevölkerung nicht besonders gut auf die möglichen Entwicklungen vor. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Vielleicht wird es einen Angriff geben, vielleicht auch nicht. Und das bereitet mir große Sorgen, denn ich weiß, welche Folgen ein Krieg haben kann. Ich habe Evakuierungen erlebt. Wir mussten Wohnungen besetzen, und man konnte sehen, dass die Menschen es nicht geschafft haben, mehr als ihre Papiere mitzunehmen.“

Im Erstfall Richtung Karpaten?

Für Paramedizinerin Oleksandra war es nicht einfach, nach der Zeit an der Front ins zivile Leben zurückzufinden. Die Sozialisierung hat eine Weile gebraucht, sie musste psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Erst kürzlich im friedlichen Leben angekommen, stellt sie der drohende große Krieg vor neue Herausforderungen.
„Aus Sicht als Bürgerin bin ich unzufrieden. Denn meine Geschäfte funktionieren, ich habe eine Wohnung, die ich gerade renoviere. Aber mir ist klar geworden, dass das alles sinnlos sein kann. Befreundete Flüchtlinge aus Donezk raten mir, die Renovierung vorerst zu unterbrechen, denn wolmöglich ist alles umsonst. Diese Prognose klingt vielleicht nicht besonders optimistisch, aber so ist es halt.“
Für den Kriegsfall hat Oleksandra einen Entschluss gefasst.
„Ich bin eine Reservistin. Deswegen werde ich im Falle eines großflächigen Angriffs meinen Rucksack und meine Uniform nehmen, und mich zu meinem Bataillon begeben. Ich habe einen Plan für meine Eltern. Ich habe ein Haustier, das abgeholt werden muss.
Aber es ist unklar, wo es einen sicheren Ort geben wird, denn wir sind von allen Seiten umzingelt. Die einzige scheinbar sichere Richtung könnten die Karpaten sein. Doch da der ungarische Ministerpräsident gute Beziehungen zu Putin hat, gibt es gewisse Zweifel, ob das ein sicherer Ort ist.“

Mehr Interesse an Erste-Hilfe-Kursen

Solange die russischen Truppen noch nicht weiter rücken, organisiert Olexandra Erste-Hilfe-Kurse. Das Interesse an den Kursen wächst, und das aus gutem Grund. Die meisten Menschen wissen nicht genau, wie man sich im Ernstfall verhalten soll. Nachbarin Tanya Kryva:
„Bereits am 29. Januar sollte es in Kiew einen Übungsalarm geben. Wochenlang wurde erklärt, dass man das weiter sagen solle, und dass man keine Angst haben solle. Doch dann fand diese Übung gar nicht statt.“
Die örtlichen Behörden haben es versäumt, die Zivilbevölkerung auf den Notfall vorzubereiten. Aus Sicht von Tanya Kryva ist das fatal. Sie ist besorgt über die möglichen Auswirkungen eines russischen Angriffs auf die Hauptstadt.
„Das ist absolut unlogisch. Wir sind im Dauerkrieg. Unser Feind ist ziemlich stark. Eigentlich hätte man bereits seit 2014 regelmäßig Schulungen machen müssen, damit sich die Menschen darauf einstellen. Doch man hatte wohl Wichtigeres zu tun!“
Auch Tanya weiß, wie sie in den Keller ihres Hauses kommt. Sie hat Erste-Hilfe-Kurse belegt, und sie hat einen Plan für die Flucht.
„Mein Plan ist, die Stadt nach Möglichkeit zu verlassen und mein Kind rauszubringen. Mein Sohn ist fünf. Ich werde in Richtung Westen fahren. Nicht weil das alle vorhaben, sondern weil ich da ein Häuschen habe, und das Kind da mit meiner Mutter in Sicherheit sein kann.
Mit meinem Mann habe ich verabredet, dass wir dann im Wechsel nach Kiew fahren und hier helfen. Ob wir selbst kämpfen oder für die Krieger kochen, wird sich zeigen. Je nach dem, ob die Zeit noch reicht, das Nötige zu lernen. Was wir genau machen, ist unwesentlich. Wir werden unbedingt zurückkommen, aber zuerst werden wir unser Kind in Sicherheit bringen.“

Traumatisiertem Soldaten droht erneut Krieg

Volodymyr Halashchuk wohnt in einem Vorort von Kiew ohne Hochhäuser. Aber zum Studieren fährt er regelmäßig in die Innenstadt. Ich treffe ihn zwischen zwei Seminaren in einem Café. Er schaut nach draußen.
„Ich sehe die Hochhäuser und ich stelle mir vor: Da ist ein riesiges Loch in diesem Haus. Drumherum liegen Ziegeln. Das gehört nicht auf dieses Bild, aber ich sehe es in meinem Kopf. Und wenn ich durch Kiew laufe und die Hochhäuser sehe, kann ich mir das ausmalen – diese Löcher in den Häusern ... dass hier das losgeht, was in Donezk und Luhansk los war. Die Menschen dort konnten es sich auch nicht vorstellen, und doch ist es so gekommen. Ich kann es mir auch hier vorstellen.“
Volodymyr ist Kriegsveteran. Er war 2014 und 2015 dabei und hat den Kessel von Debaltsewe überlebt.
„Was den Notfallkoffer angeht – vielleicht liegt es an meinen Kriegstraumata – aber ich habe diesen Koffer nicht gepackt. Ich habe das Gefühl, alles, was ich da einpacke, werde ich verlieren. Ich werde ein Maschinengewehr, Munition und eine Schutzweste bekommen – das wird mein Hab und Gut für die Zeit der Kriegshandlungen.“
Nach seiner Rückkehr konnte Volodymyr nur durch von Veteranen organisierte psychologische Hilfe wieder ins zivile Leben zurückfinden. Er hat inzwischen selbst ein Psychologiestudium aufgenommen.
„Der Weg für meine weitere Entwicklung, für das, was ich mir ausgesucht habe, nachdem ich 2014 und 2015 im Krieg gewesen bin, dieser Weg ist jetzt versperrt. Ich versuche, mir eine Perspektive auszumalen, und dabei wird mir klar, dass alles wieder so kommen kann wie damals. Ich bin zerrissen, zwischen dem, was ich will, und der Tatsache, dass ich vielleicht alles wieder hinschmeißen muss. Dass das alles wohlmöglich keinen Sinn hat.
Weil ich mir entweder eine Kugel einfange oder später mein Leben wieder von vorne umwälzen muss, wenn ich wieder an Kriegshandlungen teilnehmen sollte. Und vor allem, wird es überhaupt das friedliche Leben, von dem ich träume, geben, wenn ich nicht in den Krieg ziehe? Wenn die Kriegshandlungen eskalieren und bis nach Kiew kommen, werde ich keine andere Wahl haben.“

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