Donbass in der Ukraine

Umweltkatastrophe im Kriegsgebiet

23:25 Minuten
Bergarbeiter gehen über das Gelände einer Kohlemine mit vielen Gebäuden, Strahlkonstruktionen und anderen Bauten.
Bergarbeiter in einer Kohlemine bei Donezk: Bergwerke verursachen in der Ukraine massive Umweltprobleme. © picture alliance / dpa / tass / Viktor Drachev
Von Rebecca Barh · 09.02.2022
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Während die Welt auf den Streit zwischen Russland und Ukraine schaut, droht der Krisenregion Donbass eine Umweltkatastrophe durch unprofessionelle Flutung ehemaliger Kohlebergwerke. Der Donbass könnte zukünftig unbewohnbar werden, sagen Experten.
Anna Gorbatschowa besitzt einen kleinen Supermarkt in der Stadt Torezk, nur wenige Kilometer entfernt von der Front. Als der Krieg beginnt, flieht Gorbatschowa vor den Separatisten aus der Nachbarstadt Horliwka. Heute trennen die beiden Städte nur 15 Kilometer – und eine Frontlinie.
Lange hatte die 52-Jährige gehofft, dass sie bald in ihre Heimatstadt zurückkehren kann. Jetzt aber will sie weg. „Die Leute fehlen. Wir sind schon den dritten Monat im Minus. Aber wir haben eine neue Stadt gefunden", erzählt sie.
Torezk in der Ostukraine war einst eine stolze Stadt. „Torezk – Stadt der Bergarbeiter“ steht in großen Buchstaben am Stadteingang. Hier wurde im 18. Jahrhundert erstmals Kohle gefunden, heißt es. In Torezk habe der Donbass – wie die rohstoffreiche Region in der Ostukraine genannt wird – seinen Anfang genommen.
Eine schneeverscheite Straße, daneben ein Turm und ein Schild des Bergwerks Torezk
Viele Minen in Torezk haben geschlossen. Immer mehr Menschen verlassen die Stadt.© Deutschlandradio / Rebecca Barth
„Zu Sowjetzeiten war der Donbass die größte Industrieregion der Sowjetunion", erklärt Mychajlo Wolynez, Vorsitzender der unabhängigen Bergarbeiter-Gewerkschaft.
"Kohlebergbau, Stromerzeugung, Metallproduktion und Maschinenbau. Mitte der 70er-Jahre änderte die Sowjetunion ihre Politik und begann mit der Erschließung des Nordens und Sibiriens. Nach und nach verlor der Donbass seine führende Rolle. Aber als die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte, war der Donbass für die Ukraine eine sehr mächtige Industrieregion.“

Kohleförderung um 60 Prozent eingebrochen

Etwa drei Prozent des weltweiten Kohlevorkommens wurden in der Ukraine nachgewiesen – das allermeiste davon im Donbass. Doch hier tobt seit fast acht Jahren ein Krieg. Seither ist die Kohleförderung um schätzungsweise 60 Prozent eingebrochen. Viele Menschen verloren ihre Arbeit.
Deshalb hat Anna Gorbatschowa in der Stadt Torezk nur noch wenige Kunden. Viele sind zum Arbeiten nach Europa gegangen. Oder in größere Städte wie Kiew oder Charkiw. Und alle warten, bis die letzten Minen schließen. Dann gibt es hier gar nichts mehr.“
Viele Minen sind bereits geschlossen – die Anlagen sind veraltet, die Kraftwerke unrentabel, und bis 2035 will die Ukraine den Kohleausstieg schaffen. Laut der NGO Truth Hounds gibt es 220 Bergwerke im Donbass – nur noch 97 von ihnen sind in Betrieb. Zwei davon in Torezk.
Anna Gorbatschowa steigt ins Auto. Sie will mir etwas zeigen.
Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch, vor ihm aufgeschlagene Bücher.
Sehr lange war der Donbass eine mächtige Industrieregion, erzählt der Gewerkschafter Mychajlo Wolynez.© Deutschlandradio / Rebecca Barth
Die Fahrt geht über verschneite Straßen, der Himmel ist grau. Kaum ein Mensch ist unterwegs. Hinter den Bäumen – kaum sichtbar – entdecke ich Ruinen. Häuser mit verrammelten Fenstern, eingestürzten Dächern und bröckelnden Mauern.
Das ist die Stadt Artem. Ich schwöre, als ich das erste Mal hier war, und mir die Einheimischen erzählt haben, was das früher für ein Ort war, war ich schockiert. Dort an der Haltestelle wurden früher Flugtickets verkauft für den Flughafen Donezk. So groß war diese Stadt einmal. Das war natürlich vor dem Krieg.“

Perspektivlosigkeit bedrohlicher als der Krieg

Früher gab es hier einen Untertagebau. In den Ruinen lebten die Bergarbeiter mit ihren Familien. Aber als das Bergwerk 2003 schloss, zogen die Menschen weg. Das gleiche Schicksal droht jetzt auch Torezk, sagt Gorbatschowa.
Die Perspektivlosigkeit macht ihr mehr Sorgen als eine mögliche Eskalation der Kämpfe in der Ostukraine. „Selbst, wenn Putin morgen auf wundersame Weise sagt, entwickelt euch wie ihr wollt, werden hierher kaum Leute zurückkehren. Das ist es, was Angst macht. Hier werden nie wieder Menschen leben.“

Die Entfremdung im geteilten Donbass ist ein schleichender Prozess, der allerdings an Geschwindigkeit zugenommen hat, was bedenklich ist für die ukrainische Regierung, wenn sie eine Perspektive auf eine Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine haben will.

Sagt der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Johannes Voswinkel, im Interview am Ende dieser Weltzeit

Tatsächlich könnte der Donbass in Zukunft unbewohnbar werden, sagen Experten. Denn im Schatten des Krieges bahnt sich eine Umweltkatastrophe an, verursacht durch unprofessionell geschlossene Bergwerke.
Sie könnte weit schlimmere Folgen haben als der Krieg selbst – auf beiden Seiten der Frontlinie, warnt der Kiewer Geologe Jewhenij Jakowlew.
„Ich war in Tschernobyl. Und wenn ich im Donbass bin, erinnere ich mich daran", erzählt er. "Der Donbass ist heute ein auf der Welt einzigartiges Experiment einer praktisch unkontrollierten Flutung eines kompletten Kohleindustriegebiets.“

Unkontrollierte Überflutung von Minen

Die Flutung von Bergwerken ist an sich ein natürlicher Prozess, aber gefährlich. In Bergwerken sammelt sich Wasser, das sogenannte Grubenwasser. Das ist Regenwasser, das durch Erd- und Gesteinsschichten nach unten sickert. Dort läuft es in Schächte und Stollen und muss kontinuierlich abgepumpt werden.
Doch das passiert in der Ostukraine offenbar nicht. Für die Umwelt kann das verheerende Folgen haben, sagt Jewhenij Jakowlew.
Die unkontrollierte Überflutung von Minen führt nur in eine Richtung: zur Verschlechterung der ökologischen Situation, Verschlechterung der Sicherheit für die Bevölkerung und vor allem zu Bodenabsenkungen, Zerstörung von Häusern, Straßennetzen, Brücken.“
Die Bergwerke in der Ostukraine sind oft in schlechtem Zustand. Der Krieg hat das Problem vergrößert, viele Anlagen wurden durch Beschuss zerstört.
Stromausfälle führten zu Überschwemmungen und die Ukraine verlor die Kontrolle über einen Großteil der Bergwerke. Sie befinden sich heute auf dem Gebiet der sogenannten pro-russischen Separatisten.
Über einer Sushibar in der ostukrainischen Stadt Torezk hat der Aktivist Wolodymyr Jelez ein kleines Büro. Er zieht ein Blatt Papier heran. „Hier unten sammelt sich Wasser", zeigt er.
"Bei uns wird das abgepumpt. Auch auf der anderen Seite der Front sammelt sich Wasser – es sammelt sich und sammelt sich und kommt irgendwann zu uns. Die Bergwerke sind miteinander verbunden und wir befürchten, dass das Wasser von dort nach Torezk eindringt. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.“

Einem Schweizer Käse gleich

Das Grubenwasser ist oft mit Salzen und Metallen verseucht. Wenn es nicht abgepumpt wird, kann es in das Grundwasser gelangen und das Trinkwasser kontaminieren. Die unterirdischen Verbindungen sind charakteristisch für die Bergwerke in der Ostukraine. Die Region gleicht einem Schweizer Käse.
Während überirdisch der Frontverlauf Städte wie Torezk und Horliwka trennt, sind sie unterirdisch immer noch verbunden – durch Schächte und Stollen. Insgesamt 27 Bergwerke gibt es in dem Abbaugebiet bei Torezk, aber nur vier davon können von der Ukraine überwacht werden.
Die Behörden der beiden Konfliktparteien kooperieren nicht miteinander. Das hat ernsthafte Folgen, sagt Geologe Jewhenij Jakowlew.
„In den acht Jahren seit Kriegsbeginn gab es schon Opfer dieser Entwicklung auf beiden Seiten. Wir erreichen ein irreversibles Level. An den meisten Orten an der Front gibt es schon kein Zurück mehr. Heute sehen wir kritische Entwicklungen bei Bodenabsenkungen, Überschwemmungen, Flutungen, Entweichung von Gas und sogar menschengemachte Erdbeben.“
Ein weißhaariger Mann zeigt etwas an einer Karte an einer Wand.
Unterirdisch gleicht der Donbass einem Schweizer Käse: Der Geologe Jewhenij Jakowlew zeigt die von der Umweltkatastrophe bedrohten Gebiete.© Deutschlandradio / Rebecca Barth
Überflutete Minen können Wohngebiete zerstören. Aber sie setzten auch Methangas frei – das kann durch Risse im Gestein an die Oberfläche gelangen und Menschen gefährden.
Das ist schon lange keine Theorie mehr, sagt Gewerkschafter Mychajlo Wolynez. „Das Methangas wird freigesetzt und in den Städten sammelt es sich in den Kellern oder den unteren Stockwerken von Häusern. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Verpuffungen. Die Menschen verbrennen sich die Haut an den Händen, im Gesicht, die Augen. Aber das wird verschwiegen.“

Radioaktives Experiment in den 70er-Jahren

Doch damit nicht genug. Das belastete Grubenwasser kann eine Region großflächig verseuchen. Und in Torezk fürchtet sich der Aktivist Wolodymyr Jelez nicht nur vor salzhaltigem Wasser. Denn auf der anderen Seite der Front – im Bergwerk „Junyj Komunar“ – führten Wissenschaftler in den 70er-Jahren ein Experiment durch. Sie zündeten eine radioaktive Bombe.
„Davor haben wir Angst. Denn seit der Explosion sind etwa 50 Jahre vergangen und bisher wurden die radioaktiven Stoffe trocken in einer Kapsel konserviert. Das Wasser wurde abgepumpt. Aber unseren Informationen zufolge ist die Kapsel jetzt bereits überflutet.“
Schon seit 2018 wird das Wasser aus der Mine nicht mehr abgepumpt. Das gab das Energieministerium der selbsternannten Volksrepublik Donezk bekannt. Wie genau die Situation in den Separatistengebieten aussieht, kann jedoch niemand sagen. Es fehlen Daten.
Laut der NGO Truth Hounds befinden sich aktuell 70 Kohlebergwerke im Schließungsprozess, 39 sollen bereits geflutet sein. Hat das jetzt schon Folgen für die Menschen? Darauf lassen zumindest Berichte schließen – auch in den von den Separatisten kontrollierten Medien. Zu finden sind sie auf Youtube.
„Über ein halbes Jahr beunruhigen unterirdische Erschütterungen unbekannter Herkunft die Bewohner von Makijiwka", heißt es da. „Eine Wand ist vollständig eingestürzt und hat das Dach des Gebäudes freigelegt.“ Oder: „Von den Überschwemmungen waren die Räumlichkeiten des Einkaufszentrums und die Tiefgarage des Wohnkomplexes betroffen.“

Kein Informationsaustausch

Erschütterungen, Überschwemmungen und einstürzende Gebäude – laut Experten Folge von gefluteten Bergwerken. Doch über das Ausmaß des Problems kann nur spekuliert werden. Es gibt kein Überwachsungssystem und keinen Informationsaustausch zwischen den Konfliktparteien. Aber Schäden gibt es – auch auf der ukrainischen Seite der Front.
Ich fahre weiter nach Solote – eine Kleinstadt in der Ostukraine, ebenfalls direkt an der Front. Auch hier arbeiten die meisten Menschen in den Kohleminen. Auch hier verursachen unkontrollierte Flutungen bereits Probleme. Aleksej Babtschenko, Chef der lokalen Verwaltung, empfängt mich.
Das größte Problem im Ort sei der Krieg, beginnt Babtschenko. Wegen der permanenten Kämpfe verliere das Land junge, fähige Menschen und auch Investoren blieben fern. Aber Babtschenko beruhigt:
„Auf den Krieg sind wir gut vorbereitet, darin haben wir Erfahrung. Derzeit formieren wir ein Bataillon zur territorialen Verteidigung. Und wir als Verwaltung erarbeiten Evakuierungspläne, welche Wege Zivilisten nehmen müssen und welche die Soldaten.“
Minengebäude und ein Förderturm zwischen Tannen im Schnee.
2018 kam es im Bergwerk Solote zu einem Wassereinbruch. Seitdem fließt Wasser ungehindert in die Minen.© Deutschlandradio / Rebecca Barth
Aber es ist nicht nur der Krieg, der seiner Gemeinde schadet. Auch die überfluteten Bergwerke hinterlassen Schäden.

Wasser fließt ungereinigt in die Umwelt

2018 kam es in dem Ort zu einem Unglück. In der Mine gab es einen Wassereinbruch. Wie durch ein Wunder überlebten alle Arbeiter. Das Wasser brach aus einer Mine ein, die schon auf Separatistengebiet liegt.
Es fließt bis heute – mit einer Geschwindigkeit von über 1200 Kubikmetern pro Stunde. Damit sind die Anlagen der Mine überfordert, erklärt der Geologe Jewhenij Jakowlew: „Die Kapazität der Kläranlagen wird überschritten. Die schaffen es nicht, das Wasser in einen guten, sicheren Zustand zu bringen. Das fließt praktisch ohne Klärung in die Umwelt. Früher haben die Anlagen nur das eigene Wasser geklärt, aber heute kommt das Wasser aus vier Minen von der anderen Seite der Frontlinie.“
Wozu das führt, will ich selbst sehen. Ich laufe zu dem betroffenen Bergwerk. Dann entdecken ich den kleinen Fluss Komyschuwacha. Der Fluss ist orange verfärbt. Am Ufer sammelt sich Schlamm und Schaum. Eine Analyse zeigt: Die Sulfatwerte sind um das Doppelte erhöht, Eisen sogar um das 84-fache.
Winterlandschaft, darin ein Gewässer, dessen Wasser sich orangen gefärbt hat.
Das verunreinigte Wasser aus dem gefluteten Bergwerk gelangt ungefiltert in den Fluss Komyschuwacha.© Deutschlandradio / Rebecca Barth
Aleksej Babtschenko, der Chef der örtlichen Verwaltung, findet in seinem Büro deutliche Worte. „Das ist eine Katastrophe nicht nur für Solote – das ist eine Katastrophe für die ganze Region.“
Denn das Wasser von dem kleinen, orangenen Fluss landet irgendwann im Sewerskyj Donez – die wichtigste Trinkwasserquelle der Region. Der Fluss fließt nach Russland und dort in den Don, der wiederum ins Asowsche Meer. Die Verunreinigung betrifft also weit größere Gebiete als nur die Ostukraine. Wie schlimm das Trinkwasser jedoch verunreinigt ist, lässt sich nur schwer ermitteln.

90 Prozent des Trinkwassers im Separatistengebiet kontaminiert

Dem Geologen Jewhenij Jakowlew gelang Ende letzten Jahres eine Expedition in die Gebiete der sogenannten pro-russischen Separatisten.
„Es gibt es eine große Anzahl von Hausbrunnen, Quellen und Oberflächenreservoirs, die derzeit im Einflussbereich der zunehmend verunreinigten Grubenwasser liegen. Wir konnten feststellen, dass etwa 90 Prozent dieser Brunnen, Quellen und Wasserreservoirs kontaminiert sind."
Das Wasser habe keine Trinkwasserqualität. "Aber die Leute trinken es trotzdem.“
Jetzt droht der Krieg in der Ostukraine wieder zu eskalieren. Und die Konfliktparteien – Ukraine, die sogenannten pro-russischen Separatisten und auch Russland – scheinen an einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nicht interessiert zu sein.
Dabei sind alle von den negativen Folgen für die Umwelt betroffen, sagt der Geologe Jewhenij Jakowlew.
„Das ansteigende Wasser in den Kohleminen kennt keine politischen Grenzen und auch keine militärischen Grenzen. Es bringt den Donbass aus dem Gleichgewicht und verwandelt die Region in ein gefährliches hydro-ökologisches System.“
Die Auswirkungen dieser Entwicklung – da sind sich Experten sicher – könnten erst in einigen Jahren spürbar werden. Doch dann ist es bereits zu spät.
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